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Wider den ethischen Relativismus

Ethische Prinzipien sind nicht nur deshalb wahr, weil Menschen sich an ihnen orientieren, sondern weil man begründen kann, dass sie generell richtig sind. So lautet die zentrale These von Ronald Dworkin in seinem 800 Seiten starken Opus "Gerechtigkeit für Igel", in dem er ein innovatives Modell der Ethik entwirft.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 22.11.2012
    Ethische Prinzipien sind nicht nur deshalb wahr, weil Menschen sich an ihnen orientieren, sondern weil man begründen kann, dass sie generell richtig sind. So lautet eine der zentralen Thesen in Ronald Dworkins 800 Seiten starkem Opus Magnum "Gerechtigkeit für Igel". Der US-amerikanische Rechtsphilosoph entwirft darin ein innovatives Modell der Ethik.

    Stellen Sie sich ein Rettungsboot vor, das zu kentern droht, weil ein Passagier zu viel an Bord ist. Gibt es eine gerechte Regel, nach der bestimmt wird, wer ertrinken muss? Eine demokratische Mehrheitsentscheidung kann es nicht sein. Der bei der Mehrheit Unbeliebteste müsste dann sterben. Wenn der Bootsführer oder ein Gremium einiger Weiser die Entscheidung trifft, so werden auch sie schwerlich den Prinzipien genügen, die nach Ronald Dworkin eine Regierung befolgen muss, will sie sich gegenüber ihren Bürgern gleichermaßen gerecht verhalten. Er schreibt:

    "Um legitim zu sein, muss eine Regierung sich an zwei übergeordnete Prinzipien halten. Sie muss zum einen das Schicksal aller ihr unterstehenden Personen gleichermaßen berücksichtigen und zum anderen der Verantwortung und dem Recht einer jeden Person, selbst zu entscheiden, wie sie ihrem Leben Wert verleihen will, höchste Achtung zollen."

    Wenn eine Regierung einen bestimmten Bürger in den Tod schickt, damit die anderen überleben, kümmert sie sich um das Schicksal dieses Betroffenen offenbar nicht genauso wie um die Schicksale der anderen.
    Gibt es für eine solche Sachlage überhaupt eine gerechte Regel, nach der man bestimmen kann, wer aus dem Boot gestoßen wird? Oder handelt es sich hierbei nicht um eine Zwangslage, in der verschiedene ethische Werte miteinander im Konflikt liegen?

    Heute ist es ja beinahe schon ein Gemeinplatz, dass ethische Werte abhängig von der jeweiligen Kultur und Religion sind und schon allein deshalb miteinander konkurrieren. Aber auch innerhalb einer Kultur kennt man viele Situationen, in denen man nicht weiß, welchem ethischen Wert man folgen soll. Wenn ein befreundeter Musiker einen schlechten Auftritt hat, soll man ihm die Wahrheit sagen und ihn damit verletzen oder soll man lieber freundlich und rücksichtsvoll lügen? Doch Ronald Dworkin hält dem entgegen:

    "Stehen Ehrlichkeit und Freundlichkeit manchmal im Widerspruch zueinander' Da die Einheit der Werte die zentrale These dieses Buches ist, muss ich das verneinen. (…) Mir geht es um die anspruchsvollere These, dass es keine echten Konflikte zwischen verschiedenen Werten gibt, die geschlichtet werden müssen."

    Dworkin widerstreitet damit nicht nur dem heute weit verbreiteten ethischen Relativismus, für den Werte immer nur relativ gelten und somit auch Konflikte zwischen Werten letztlich nicht zufriedenstellend gelöst werden können: Tief gläubige Christen, die den Islam in Europa als Fremdkörper begreifen, werden sich vom Bau einer Moschee immer verletzt fühlen.

    Einen solchen unlösbaren Konflikt kann es für Dworkin indes gar nicht geben, weil man durchaus gut begründen kann, welche ethische Regel die allein richtige ist, die somit auch Wahrheit beanspruchen kann. Dass man niemanden quälen darf, darüber kann man doch nicht streiten! Das ist immer falsch, somit die Regel, das nicht zu tun, wahr. Ähnliches gilt für Mord, Folter und andere Grausamkeiten.

    Aber viele Menschen sind der Auffassung, dass Folter unter bestimmten Umständen legitim sei, beispielsweise wenn der Entführer den Aufenthaltsort des Entführungsopfers nicht verrät, das Opfer aber erstickt, wenn es nicht bald aus einer eingegrabenen Kiste im Wald befreit wird. Doch dem hält Dworkin entgegen:

    "Der Gedanke, dass manche Handlungen – etwa kleine Kinder aus Spaß zu quälen – an sich falsch sind, und nicht nur, weil Menschen sie für falsch halten, ist uns allen wohlvertraut und erscheint ganz normal. So etwas wäre selbst dann falsch, wenn niemand das einsehen würde – ein kaum vorstellbarer Fall."

    Ethische Prinzipien sind nicht nur deshalb wahr, weil Menschen sich an ihnen orientieren, sondern weil man wohl begründen kann, dass sie generell richtig sind. Derjenige, der foltert, entwürdigt nicht nur den Gefolterten, raubt ihm seine Menschlichkeit. Der Folterer selbst verliert seine Würde. In der Tat, wer hätte schon gerne einen Folterknecht zum Freund!

    Damit widerspricht Dworkin ein weiteres Mal der vorherrschenden Meinung, nach der die Ethik sagen soll, was man zu tun hat, was höchstens dann der Norm entspricht und richtig, aber nicht wahr ist. Von Wahrheit spricht man gemeinhin nur in den Naturwissenschaften und den empirischen Geistes- und Sozialwissenschaften. Diese erklären und beschreiben ihre Sachverhalte. Wenn sie diese richtig erfasst haben, sind ihre Sätze wahr.

    Doch für Dworkin gilt Ähnliches auch in der Ethik: Wenn Folter falsch ist, dann erfasst die Norm, nicht zu foltern, diesen ethischen Sachverhalt, ist somit wahr. Doch dass dem wirklich so ist und dass es auch zu keinen Konflikten mit anderen ethischen Normen kommen kann, das muss genau begründet werden. Dazu stellt man Bezüge zu anderen Werten her wie der Menschenwürde oder der Selbstachtung. Daher besteht die Ethik für Dworkin auch nicht aus einer schlichten Sammlung von Normen und Werten. Diese hängen vielmehr miteinander so zusammen, dass sie ein Ganzes ergeben. Derart erschließt sich dann auch der merkwürdige Titel des Buches "Gerechtigkeit für Igel":

    "Es handelt sich also trotz des Titels, im Amerikanischen Justice for Hedgehogs, nicht um ein Plädoyer für Tierrechte oder die Bestrafung gieriger Hedgefond-Manager. Ich spiele vielmehr auf einen Vers des altgriechischen Dichters Archilochos an, (...): Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache. Werte sind eine große Sache. Nicht nur bildet die Wahrheit über die gelungene Lebensführung, das gute Leben und all das, was wir lieben und wertschätzen, ein zusammenhängendes Ganzes, diese unterschiedlichen Aspekte der Wahrheit stützen sich zudem wechselseitig."

    Das ist allerdings keine einfache Angelegenheit, gibt es gerade in der Ethik, wenn sie sich für wahr und umfassend hält, keine simplen Lösungen. Nach welcher Regel soll man denn nun jemanden aus dem überfüllten Rettungsboot kippen? Warum ethische Normen und Werte wahr bzw. die richtigen sind, kann man nur durch eine genaue Begründung nachweisen, nicht durch eine schnelle Antwort. Dworkin:

    "Es ist immer angemessen zu fragen, warum die Moral das fordert, was sie fordert, und zu sagen: ‚Das ist einfach so' ist im Bereich der Moral nie eine gute Antwort. Natürlich können wir oft nicht viel mehr erwidern. Wir sagen dann zum Beispiel: 'Folter ist einfach falsch, basta.' Aber das ist einer gewissen Ungeduld und einem Mangel an Einfallsreichtum geschuldet. Mit einer solchen Aussage stellen wir nicht unser Verantwortungsbewusstsein unter Beweis, sondern das genaue Gegenteil."

    Damit entwickelt Dworkin ein durchaus innovatives Modell der Ethik, gerade indem er deren Wahrheit und inneren Zusammenhang unterstellt. Wenn ein Richter jemanden verurteilt, dann muss er sein Urteil doch für wahr halten! Indes handelt es sich nicht um eine absolute Wahrheit, sondern um das Maximum an guter Begründung, warum beispielsweise der Angeklagte wirklich der Täter gewesen sein muss.

    "In der Moral nach Wahrheit zu streben bedeutet, sich um ein kohärentes System zu bemühen, das wir von ganzem Herzen bejahen."

    Der Richter hält sein Urteil für wahrer als die Plädoyers von Verteidigung und Anklage, wenn er beiden nicht folgt. Trotzdem entgeht hier Dworkin nicht einem gewissen Relativismus der Wahrheit. Sie ist nicht mehr als die beste unter verschiedenen konkurrierenden Lesarten der Sachlage. Wenn zudem die Wahrheit zu einer Herzensangelegenheit avanciert, entwickelt sie leicht religiöse Züge. Dworkin stützt die Ethik zwar nicht auf die Religion, grenzt sich aber auch nicht unzweideutig von dieser ab.
    Eher konventionell verharrt er auf der Trennung von Ethik und allen Erfahrungswissenschaften – eine Trennung die seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert anerkannt ist und die auch noch immer die meisten Philosophen beseelt, wiewohl in letzten Jahrzehnten daran neue Zweifel keimten.

    "Dem großen schottischen Philosophen David Hume wird meist der Gedanke zugeschrieben, dass empirische Entdeckungen über die Beschaffenheit der Welt, (...) oder Wahrheiten über die menschliche Natur niemals irgendwelche Schlussfolgerungen darüber rechtfertigen können, was sein soll, ohne dass dafür eine zusätzliche Prämisse oder Annahme darüber, was sein soll, hinzugezogen wird."

    Aus beschreibenden oder erklärenden wissenschaftlichen Sätzen lassen sich keine ethischen Normen ableiten, was aber das christliche Denken noch behauptete: Aus der göttlichen Schöpfung ergeben sich die ethischen Gebote für die Menschen. Zumeist wird diese Trennung von Ethik und Wissenschaft als Verlust empfunden: Jetzt sagt das Universum nicht mehr, was man tun soll. Damit habe die Ethik ihr Fundament in der Welt verloren.

    Dworkin wendet diese Trennung ins Positive: jetzt ist die Ethik ein eigener Bereich, der sich weder von der Physik noch von der Ökonomie bevormunden lassen muss, in dem man vielmehr wohl begründen kann, was man tun soll. Völkermord ist Völkermord und lässt sich weder mit ökonomischen Vor- oder Nachteilen noch mit einer höheren Kulturentwicklung begründen.

    Dabei verengt Ronald Dworkin die Ethik keinesfalls auf die individuelle Moral. Vielmehr verbindet er Moral mit Politik und Recht:

    "Die Moral sollte grundsätzlich als baumartige Struktur verstanden werden, wobei das Recht ein Zweig der politischen Moral ist, die selbst vom Ast der allgemeineren persönlichen Moral abgeht, die wiederum aus der noch abstrakteren Theorie der gelungenen Lebensführung herauswächst."

    Viele Seiten widmet Dworkin denn auch der gelungenen Lebensführung. Dazu gehört sein eigenes Leben so zu gestalten, dass man sich verantwortlich gegenüber seinen Mitmenschen und der Gemeinschaft verhält. Wer primär in seinem Leben nur Streichholzschachteln sammelt, dem misslingt sein Leben, der gelangt zu keinem guten Leben, zu dem am Ende auch etwas Glück gehört. Derart fließen schon in der Lebensführung individuelle und politische Moral zusammen und liefern dem Recht ein ethisches Fundament. Umgekehrt stützt sich das Recht auch auf die Ethik, so Dworkin:

    "Nur wenn eine politische Gemeinschaft ihre Mitglieder entsprechend den Prinzipien der gleichen Berücksichtigung und Achtung behandelt – wenn ihre politischen Maßnahmen also das Schicksal jedes einzelnen als gleich wichtig behandeln und die individuelle Verantwortung für das eigene Leben achten -, hat die Gemeinschaft die moralische Macht, ihren Mitgliedern Verpflichtungen aufzuerlegen und diese auch durchzusetzen."

    Ein Denken, dass dagegen das Recht primär auf die Macht stützt, was bis heute eine verbreitete Auffassung darstellt, das besitzt für Dworkin keine Legitimität. Eine Regierung kann weder bloß mit Macht noch gar mit Gewalt dem Recht moralische Anerkennung verschaffen. Einer Gewaltpolitik wie der der Nazis braucht niemand zu folgen, besitzt sie keinerlei ethische Legitimität, sondern beruht auf Rassismus und Antisemitismus. Die Politik muss sich jedoch an der Moral orientieren, die ihr indes nur hinlängliche Legitimität verschaffen kann, wenn sich die Moral ihrerseits auf die Wahrheit zu stützen vermag. Dworkin fordert:

    "Wir brauchen (...) eine neue Revolution. Natürlich müssen wir zwischen verantwortungsbewussten und verantwortungslosen Meinungen unterscheiden können. Vor allem wenn es in der Politik um Fragen der Gerechtigkeit geht, sind wir hierauf angewiesen. Treffen können wir diese Unterscheidung aber nur dann, wenn wir uns auf die Idee der Wahrheit und die der Falschheit berufen."

    Aber hat eine derart moralisch begründete Politik auch eine Antwort für unsere Schiffbrüchigen im überfüllten Rettungsboot? Sie hat! Die einzige gerechte Lösung ist das Los, das alle gleichermaßen treffen kann. Aber vielleicht trifft es die Mutter von fünf Kindern. Oder den Bootslenker. Dann müsste man allerdings von vorne anfangen und alle Möglichkeiten durchdenken. Voraussichtlich aber wird eine Mehrheit sich auf dieses Verfahren gar nicht erst einlassen. Denn es könnte ja einen der ihren treffen. So hat Dworkins "Gerechtigkeit für Igel " auch keine einfachen Lösungen, was aber für ihn spricht, nicht gegen ihn.


    Ronald Dworkin, Gerechtigkeit für Igel
    Suhrkamp Verlag Berlin. 2012, 813 Seiten, 48 Euro