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Wider die Warenförmigkeit der Wahrheit

Wo Philosophen in der Art von Religionsführern ihrem Publikum Befehle geben und einen Weg vorzeichnen, den der Einzelne zu gehen hat, dort beginnt die Anti-Philosophie, wie der in Karlsruhe tätige Kunst- und Medienwissenschaftler Boris Groys sie definiert.

Von Joachim Büthe | 03.02.2010
    Einführungen richten sich in der Regel an Anfänger, denen ein gemeinverständlicher Einstieg in ein neues Wissensgebiet ermöglicht werden soll. Sieht man davon ab, dass bei einem stilistisch so versierten Autor wie Boris Groys gute Lesbarkeit eine Selbstverständlichkeit ist, werden diese Erwartungen nicht erfüllt. Eingeführt wird vielmehr das Wissensgebiet selbst, denn von Anti-Philosophie hat man anderen Orts noch nichts gelesen. Von Anti-Kunst schon. Und wie die Anti-Kunst das System der Kunst nicht wirklich sprengt, sondern nur seine Aufgaben anders definiert und so die Aufmerksamkeit des Betrachters verschiebt, so verschiebt die Anti-Philosophie die philosophischen Perspektiven und besetzt dadurch ein Terrain, das der Philosophie lange fremd war.

    "Meine Vermutung war, die in diesem Buch Ausdruck gefunden hat, dass die Philosophie irgendwann, am Ende des 19. Jahrhunderts, am Beginn des 20. Jahrhunderts begonnen hat, neidisch zu werden in Bezug auf diese Guru-Position, die Position eines Religionsführers, die Position eines Mystikers, der nicht erwartet von seinem Leser, von seinem Publikum, dass dieses Publikum ohne Vorbereitung irgendeine Wahrheit befugt ist, fähig ist, berechtigt ist zu bekommen und zu beurteilen. Und die Philosophie beginnt auch damit, dass sie Instruktionen, Befehle gibt an das Publikum, das heißt einen gewissen Weg vorgibt, den der Einzelne gehen soll, damit er überhaupt beginnt zu verstehen."

    Nicht alle Philosophen sind diesen Weg gegangen, doch für Groys gehören einige der einflussreichsten Denker der neueren Philosophiegeschichte in diese Richtung. Es beginnt mit dem marxschen Befehl, die Welt zu verändern und mit Kierkegaard und geht weiter, zum Beispiel mit Nietzsche und Heidegger und hört bei Derrida noch nicht auf. Marx wird in diesem Buch nicht behandelt, Kierkegaard aber kommt gleich nach der Einleitung.

    "Der Zweifel selbst wird zum Befehl. Kierkegaard kritisiert Descartes insofern, als der Zweifel ein methodischer Zweifel war. Das war ein Übergang zu irgendeiner Sicherheit. In die Philosophie ist eingeschrieben ein normaler Zyklus des menschlichen Denkens. Man ist mit etwas konfrontiert, man zweifelt daran, was einem gesagt wird. Man denkt darüber nach. Und dann kommt eine gewisse Entscheidung. Und wenn Kierkegaard sagt, nein, du darfst zu keiner Entscheidung kommen, du musst in diesem Zweifel verweilen, auch wenn du eigentlich keinen Zweifel mehr hast. Weil in diesem Zweifel zu bleiben, in diesem auch Zittern des Zweifels zu bleiben, eigentlich so etwas bedeutet, wie Zeitgenosse von Christus oder Zeitgenosse von Sokrates zu sein, das heißt, dich in eine Ewigkeit zu transportieren, dann bekommt dieser Zweifel eine philosophische, wenn nicht antiphilosophische Bedeutung. Und aus dem Zweifel an der Religion wird ein Weg zur Religion. Das ist eigentlich die Leistung von Kierkegaard."

    Es ist nur ein kleiner Unterschied, der aus einer Hypothese, einer Setzung, einer Behauptung einen Befehl macht. Diesem Unterschied ist Groys auf der Spur. Denn Philosophie und Anti-Philosophie sind keine streng voneinander geschiedenen Gebiete. In Sokrates, einem der Stammväter der Philosophie, sieht Groys auch den ersten Kritiker der, in diesem Fall sophistischen, Warenförmigkeit der Wahrheit. Diese Kritik der Warenförmigkeit, des einfachen Konsums der Wahrheit, ist für ihn zugleich ein wesentliches Charakteristikum der Anti-Philosophie. War Sokrates auch deren Stammvater?

    "Beides. Denn in der Zeit, in der Sokrates gepredigt oder agiert hat, wurde das weitgehend als die Stiftung einer neuen Religion gesehen. Man soll ja nicht vergessen, dafür wurde er auch gerichtet und zum Tode verurteilt. Nicht weil er Philosoph war, sondern weil er versucht hat, eine neue Religion zu stiften. Das heißt der Platonismus, und das kann man leicht zeigen durch die weitere Entwicklung des Platonismus im Neoplatonismus und Gnostizismus, war durchaus eine Lehre, die, in Bezug auf die Religion, eher Konkurrenz darstellte."

    Die Konkurrenz mit der Religion oder die Nähe zu ihr scheint immer dann zu entstehen, wenn sich die Philosophen, die Wahrheitssuchenden, auf das Sinnstiftungsgeschäft einlassen. Groys geht in seinem Vorwort so weit, die Leser anti-philosophischer Texte in die Nähe der Konsumenten von Ratgebern zu rücken, frei von Ironie sind seine Texte nie gewesen. Doch auch in diesem Fall gibt es den kleinen Unterschied zwischen dem philosophischen Befehl und der unverbindlichen Empfehlung.

    "Ich sage und ich schreibe in diesem Vorwort, dass er im Grunde die gleiche psychologische Struktur hat wie jemand, der einen Ratgeber für den Gartenbau kauft. Er will seinem Leben eine gewisse Richtung geben. Das ist eine Reaktion auf den wertneutralen, nichts vorgebenden Charakter der modernen Demokratie, des modernen Staats. Wir leben in einer Gesellschaft, die uns keine Ziele setzt und uns nichts vorschlägt als ein Lebensprogramm. Das heißt jeder versucht dieses Lebensprogramm für sich selbst zu entdecken. Sicherlich gibt es diese Ratgeber als Ware. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen dieser philosophischen Ware und sonstiger kapitalistischer Ware. Nämlich wenn man etwas kauft im Supermarkt, muss man sich nicht dazu bekennen. Das heißt, man muss nicht an sich selbst arbeiten. In diesen Fällen, dazu rechne ich Sport, dazu rechne ich die Kunst, dazu rechne ich Philosophie, wie sie heute funktioniert, wird von einem gefordert, an sich selbst zu arbeiten."

    Aus der Arbeit an uns selbst können sie uns beide nicht entlassen, die Philosophie und die Anti-Philosophie. Die Konstruktion der Anti-Philosophie ist einerseits eine scharfsinnige Beobachtung, die Entwicklungen der Philosophie aufzeigt, Gelüste, die aufgekommen sind, nachdem die aufklärerische Arbeit der Säkularisierung geleistet worden war und ein gewisses Vakuum hinterlassen hatte. Andererseits ist sie eine geschickte Konstruktion, die das Buch, eine Aufsatzsammlung, zusammenhalten soll. Das gelingt nicht immer reibungslos, dazu sind Anlässe und Erstpublikationsorte der Essays nicht homogen genug. Seine überzeugendsten Momente hat es, wenn es Einflüsse auf die Entwicklung der westlichen Geistesgeschichte aufzeigt, die dieser gar nicht bewusst sind. Alexandre Kojève zum Beispiel, ein russischer Emigrant, hat die deutsch-französische Geistesgeschichte maßgeblich beeinflusst. Er hat die deutsche idealistische Philosophie übersetzt und in Frankreich bekannt gemacht. In seinen Hegel-Vorlesungen, die Queneau ediert hat, haben sie alle gesessen, Bataille, Lacan, Breton, Merleau-Ponty und so weiter. Was sie dort auch bekommen haben, an russischer Philosophie und Mystik, das weiß der Emigrant Groys:

    "Diese ganzen Verbindungen und diese Symbolik und diese Figuren, das ist der westlichen Kritik nicht bekannt, weshalb sind die Leute auch nicht imstande ist, sie zu dechiffrieren und wahrzunehmen. Und so scheint es, dass es geht vom Deutschen ins Französische. Aber eigentlich ist es schon ziemlich korrumpiert, verändert, wenn man will entstellt, wenn man will bereichert durch bestimmte Auseinandersetzungen mit der russischen Philosophie um die Jahrhundertwende. Und was dabei herauskommt, ist etwas ganz anderes, als Hegel je gemeint hat."

    Boris Groys: "Einführung in die Anti-Philosophie". Hanser Verlag (Edition Akzente) brosch. 290 S., 21,50 Euro