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Widersprüchlicher Polyhistor

Der Münchener Literaturwissenschaftler Bernhard Viel zeichnet in seiner Biografie des Universalgelehrten Egon Friedell das Bild einer ambivalenten Figur. Und räumt mit einer Legende auf: Ein Kaffeehausliterat sei Friedell nicht gewesen.

Von Günter Kaindlstorfer | 24.06.2013
    Der Gelehrte Egon Friedell um 1935
    Der Gelehrte Egon Friedell um 1935 (picture alliance / imagno /Austrian Archives)
    Ein Mann in seinem Widerspruch: Egon Friedell, jüdischer Fabrikantensohn aus Wien-Gumpendorf, war Schulversager und hochgelahrter Polyhistor, Gspassettlmacher und Kriegshetzer, aristophanischer Vertreter der Wiener Moderne und rückwärtsgewandter Utopist, neurotischer Bonvivant und selbst ernannter Künder einer am Mittelalter orientierten christlichen Restauration.
    Der deutsche Germanist Bernhard Viel - 2010 mit einer Johann-Peter-Hebel-Monographie hervorgetreten - unternimmt es nun, das widerspruchsreiche Leben des Egon Friedell in einer 350 Seiten starken Biografie zu rekonstruieren. Eine Legende widerlegt Viel gleich zu Beginn: Ein Kaffeehausliterat, ein echter, sei Friedell nie gewesen.

    "Wenn, dann hat er Billetts oder Briefe geschrieben, vielleicht auch mal schnell eine Theaterkritik noch für die Abendausgabe oder so. Das möglicherweise schon. Aber sonst hat er einen sorgfältig gepflegten Habitus des Gelehrten, des Polyhistors, des Schriftstellers bürgerlicher Prägung gepflegt. Friedells relevante Schriften sind natürlich in seinem Arbeitszimmer entstanden, dorthin hat er sich oft tagelang zurückgezogen, um zu lesen und zu arbeiten. Meistens hat er auf seinem Diwan geschrieben."

    Egon Friedell war eine Figur, wie sie heute nicht mehr denkbar wäre. Seine künstlerischen Anfänge machte der früh verwaiste Spross einer jüdischen Tuchfabrikantenfamilie als Essayist und Feuilletonist für diverse Zeitschriften in Wien und Berlin, darunter für die "Fackel" und die "Schaubühne"; daneben brillierte der studierte Philosoph als falstaffhafter Komiker und Kabarettist, der die Wiener Kleinkunstbühne "Fledermaus", aber auch das eine oder andere Etablissement in Berlin, mit seinen Parodien und Sketches unsicher machte. Eines Abends erlebte Max Reinhardt den genialischen Wiener als Blitzdichter und Brettlkünstler und engagierte ihn vom Fleck weg als Schauspieler fürs "Deutsche Theater" Berlin. Von da an glänzte Egon Friedell auch als Hochkultur-Mime, er spielte in Stücken von Tolstoi und Shaw und war im Lauf der Jahre und Jahrzehnte auf den verschiedensten Reinhardt-Bühnen zugange, 1924 wirkte er gar in der Uraufführung von Hofmannsthals "Schwierigem" im "Theater in der Josefstadt" mit.

    Mit Frauen hatte der begnadete Spaßmacher allerdings gewisse Probleme, wie der Friedell-Biograf Bernhard Viel erläutert.

    "Er hatte ein schwieriges, gestörtes, hochneurotisches Verhältnis Frauen gegenüber. Das hing sicher mit dem Umstand zusammen, dass, als er drei Jahre alt war, seine Mutter die Familie verlassen hat. Das war ein Lebenstrauma. Er hat das seiner Mutter nie verziehen und wollte sie auch nie wieder sehen, was er dann auch durchgezogen hat. Das hat sich natürlich auf sein Verhältnis zu Frauen ausgewirkt und hat sein ganzes Leben durchtränkt. Er hat sich ein Leben lang an diesem Trauma abgearbeitet, das auch ein wesentlicher Impuls seines Schaffens war. Aber es ist ihm nie gelungen, ein natürliches Verhältnis zu Frauen zu finden, so, dass man sich zum Beispiel fest an eine binden würde. Unmöglich! Interessiert ihn eine Frau, muss er sie immer ein bisschen niedermachen, aus Angst, sie zu nahe an sich heranzulassen. Er hatte richtig Berührungsangst. Zugleich fühlte er sich als der, der er war, als Schriftsteller, Essayist, Intellektueller, Schauspieler, geistig überlegen, und das hat er auch ausgespielt, womit er sicherlich so manche Frau vergrault hat. Zugleich spielte er gern den Charmeur, aber wenn’s dann ernst wurde, hat er sich in Polemik und Inszenierung geflüchtet."

    Von Habitus und Weltanschauung her war Egon Friedell eine ambivalente Figur: Als brillanter Feuilletonist und flotter Formulierer war er ein typisches Kind der Wiener Moderne in ihrer jüdischen Ausprägung, von seiner Weltanschauung her - Friedell hatte über "Novalis als Philosoph" dissertiert - fühlte er sich der deutschen Romantik und, exzentrischer noch, der christlichen Mystik des Mittelalters verpflichtet, die er fürs Zwanzigste Jahrhundert wieder fruchtbar machen wollte. Friedells Abneigung galt der umfassenden Entmystifizierung der Welt. Der leidenschaftliche Carlyle-Bewunderer war ein antirationalistischer und restaurativer Geist im Wortsinne, er wollte eine idealisierte Vergangenheit für die Moderne "restaurieren".

    Davon ausgehend war es nur konsequent, dass auch Egon Friedell im Sommer 1914 der allgemeinen Kriegsbegeisterung erlag, von der auch von Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil und Gerhard Hauptmann befallen waren. In mehreren Schriften betätigte sich Friedell - nach eigener Auskunft ein "rabiater Bewunderer" des deutschen Kaiserreichs - als chauvinistischer Hetzer, der der reinigenden Kraft des Krieges huldigte.

    "Es war einfach Zeitgeist. Man war begeistert, und gerade die Intellektuellen, die die Entwicklung der europäischen Neuzeit als eine Fehlentwicklung gesehen haben, also als eine Entwicklung in Rationalismus, Geldmentalität, Kapitalismus und reines Erwerbsstreben, als Entfremdung von religiösen und metaphysischen Welten, diese Intellektuellen haben in diesen Krieg große Heilserwartungen gesteckt und sahen ihn als Kulturkampf. Friedell selbst hat ja einige massive Kriegsschriften abgeliefert. Es geht ihm aber gar nicht um den Krieg selbst, um den Krieg als heroische Bewährung, wie das bei vielen anderen der Fall war, das gerade nicht. Ihm ging es um diesen Krieg als Möglichkeit einer kulturellen Erneuerung und um eine Rückkehr ins Spirituelle."

    Diese "Rückkehr ins Spirituelle" erwartete Friedell von den Mittelmächten Deutschland und Österreich, die die Moderne, so hoffte er, vor sich selbst zu retten imstande seien. Egon Friedell darf als Musterbeispiel dafür gelten, zu welch verhängnisvollen Fehleinschätzungen Kulturpessimismus und schwärmerischer Konservativismus zu jener Zeit auch brillante Geister zu verleiten vermochten: Der "Erste Weltkrieg" war keine "Rückkehr ins Spirituelle", wie man weiß, sondern eine humanitäre und politische Katastrophe von desaströser Dimension.

    Friedells Biograf Bernhard Viel beschreibt den durchaus nicht unproblematischen, weltanschaulichen Standpunkt des Schriftstellers so:

    "Restaurativ? Auf jeden Fall. Reaktionär? Kommt drauf an. Er war natürlich kein Freund der Demokratie, sein Weltbild neigte eher zum Monarchischen, aber es ging ihm doch um die Restauration des Menschen und seiner Seele. Das ist restaurativ, wenn man so will, ist aber entstanden aus der Sorge, dass sich der moderne Mensch mit seiner eigenen Technik selbst abschafft und zugrunde geht. Diese Idee hat er in seinem Schreiben aber sehr modern und flott umgesetzt."

    Mitte der Zwanzigerjahre, Friedell war schon Ende vierzig, überraschte der Schauspieler-Schriftsteller Freund und Feind mit einer 1600-seitigen "Kulturgeschichte der Neuzeit", in der sich der gefeierte Essayist und Possenreißer plötzlich als Polyhistor betätigte. Friedells Anspruch war es, die Geschichte Europas vom Ausbruch der Schwarzen Pest 1348 bis in die Gegenwart hinein in einer monumentalen Gesamtschau zusammenzufassen und literarisch erlebbar zu machen. Die "Kulturgeschichte der Neuzeit" ist ein Werk, das zu lesen sich auch heute noch lohnt, wie Bernhard Viel betont.

    "Man kann das lesen wie einen Roman, man kann aber auch einfach beliebig einzelne Abschnitte lesen: über das Barock, über Luther, über Schnitzler und Hermann Bahr – jedes Kapitel spricht für sich selber. Das ist das Eine. Und dann erfährt man einfach – ich sage einmal: über die Goethezeit oder das ausgehende Mittelalter – unglaublich viele Details. Er war hochgebildet. Und das Dritte, und das ist die wichtigste Ebene, ist die Geschichtsphilosophie, die er in seinen ganzen Beschreibungen entwickelt. Worum geht’s dabei? Friedell beschreibt die Entwicklung vom späten Mittelalter in seine Gegenwart als Entwicklung ins Dekadente, das heißt, als Entfremdung von der Religiosität des Mittelalters, und dann rückt er diese ganze Entwicklung in eine dezidiert christliche Heilsperspektive."

    Man muss Friedells Konservativismus nicht teilen, um Gewinn aus der Lektüre der "Kulturgeschichte der Neuzeit" zu ziehen, meint Bernhard Viel.

    "Aber wenn man davon gar nichts bemerkt, ist sie trotzdem unterhaltsam und lehrreich zu lesen."

    In die heutige Welt würde ein neurotischer Homo ludens mit reaktionärer Schlagseite wie Egon Friedell nicht mehr passen, mutmaßt Bernhard Viel.

    "Heute schwer denkbar ist natürlich dieses Restaurative. Der Intellektuelle heute ist kritisch. Aber, sagen wir einmal, mit Leuten wie Handke hätte sich Friedell durchaus verstanden, mit einigen Außenseitern des heutigen Betriebs, auch mit dem Schweizer Thomas Hürlimann, der ja sehr metaphysisch orientiert ist – und natürlich mit Botho Strauß, der wie Friedell eine romantische Sehnsucht nach einer Remystifizierung der Welt kultiviert. Er würde heute eher der geistig-konservativen Linie anhängen, auch Martin Mosebach könnte man noch nennen. Aber in den literarischen Mainstream passt er natürlich nicht rein."

    Bernhard Viels Biografie ist in vielem zu loben. Der in Berlin lebende Literaturwissenschaftler lässt Egon Friedell als genialen Universal-Dilettanten und spätbarocken Bonvivant lebendig werden, auch Viels Werkanalysen verraten eine stupende Kenntnis des Friedellschen Schrifttums und des Kontexts, in dem die Schriften des Währinger Polyhistors entstanden sind.
    Umso verblüffender sind die zahlreichen Fehler durchaus peinlicher Natur, die offenbar auch das ansonsten so zuverlässige Lektorat des Hauses C.H. Beck übersehen hat. Der austrofaschistische Diktator hieß nicht "Karl Schuschnigg", wie Viel mehrfach schreibt, sondern "Kurt Schuschnigg", Schuschniggs Außenminister nannte sich "Guido Schmidt" und nicht "Guido Schmitz", und Karl Renner war keine Sekunde lang Bürgermeister von Wien, wie Viel ihm unterstellt. Und Chef der "Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" Österreichs war Karl Renner auch nicht, der hieß Karl Seitz.

    Einem österreichischen Biografen wären diese Schnitzer eher nicht passiert. Deshalb soll man sie Bernhard Viel, dem gebürtigen Münchner, auch nicht mit triumphaler Häme unter die Nase reiben. Der Mann wurde in Deutschland sozialisiert, wer will ihm vorwerfen, dass er bestimmte Details der österreichischen Zeitgeschichte nicht im kleinen Finger hat? In der zweiten Auflage lassen sich die Patzer sicher ausbügeln.
    Bernhard Viel: Egon Friedell, C. H. Beck Verlag, München