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Widerstand gegen die Macht

Schreiben könne nirgends auch nur im entferntesten glaubhaft sein, wenn es nicht von politischem Bewusstsein und politischen Prinzipien durchdrungen sei, erklärt der Autor John Berger. Auch seine "Liebesgeschichte in Briefen" folgt diesem Diktum.

Von Michaela Schmitz | 18.04.2010
    Zweifach "lebenslänglich" ist so gut wie tot. Ob Xavier seine Zelle je lebend verlassen hat, bleibt unklar. Nur einige an ihn adressierte Briefe blieben dort zurück. Vielleicht rührt es daher, dass man diese liest, als handelten sie von den Ersten und Letzten Dingen. Denn eigentlich sind es ganz alltägliche Erlebnisse, die A'ida ihm schreibt: vom Erwachen am Morgen, von ihrer Arbeit als Apothekerin, vom Treffen mit Freunden, von Vögeln in den kahlen Ästen des Apfelbaums oder von einem Rezept für Kürbis-Marmelade, genannt "Engelshaar". Und doch ist es, als trügen ihre einfachen Geschichten das Gewicht der Welt und als spräche aus den Briefen eine Sehnsucht, die mehr zu meinen scheint als A'idas Liebe zu Xavier. Vielleicht auch deshalb, weil sie auf einer archaischen Bühne jenseits von Raum und Zeit spielen.

    Jahreszahlen gebe es keine, die Briefe seien nicht chronologisch sortiert und auch Namen und Orte habe A'ida geändert, bemerkt Autor John Berger, der sich in seinem Vorwort selbst als Retter und Herausgeber der Briefe darstellt. Zwar zeichnet A'ida das Panorama über den Dächern ihrer Wohnung als Himmels-Profil einer neuzeitlichen Stadt mit Telefon-, Stromkabeln und Satellitenschüsseln. Aber der Berg Abor am Rande des Stadt klingt wie der biblische Berg Tabor, und der Tora-Pass erinnert wohl nicht zufällig an die hebräische Bibel. Wen wundert es da, wenn der Anfang einer der ersten Briefe mehr als einen gewöhnlichen Tagesanbruch zu markieren scheint:

    "Habibi,
    das erste Licht des neuen Tages hat unwiderruflich seinen Beginn genommen. Der Anfang setzt einen Akzent, eine Entscheidung wurde gefällt. Weder von denen mit den Helikoptern noch von uns. Vielleicht wird es eines Tages klarer, wer über was entscheidet.

    Dort im Osten hinten links befeuchtet das erste Licht den Horizont, es hat die Farbe von verdünnter Milch, vier Teile Wasser, ein Teil entrahmte Milch.

    Es gibt Zeiten, da glaube ich, mir bleiben nur noch wenige Monate, bis ich nach einem langen Leben sterbe; ein anderes Mal fühle ich mich wie eine Elfjährige, die neugierig allem in die Arme laufen möchte."


    Im krassen Widerspruch zum urzeitlich anmutenden Terrain: die technisch hochgerüstete Gegenwelt "von denen mit den Helikoptern". Doch deren Vertreter und ihre Mission bleiben seltsam in der Schwebe. Unzweifelhaft ist: Jene als "Viehtreiber" bezeichneten Unmenschen verkörpern die Macht. Widerstand begegnen sie mit Gewalt. Ihre Sprache ist der Terror. Sie lassen Waffen sprechen: Panzer, Apache-Kampfhubschrauber aus US-amerikanischer Produktion, und Uzis, israelische Maschinenpistolen. Xavier wurde für die Gründung einer terroristischen Vereinigung inhaftiert. A'ida führt ihre gemeinsame Arbeit im Untergrund fort. Beide kämpfen sie an der Seite der Unterdrückten und Ausgebeuteten für Gerechtigkeit.

    Xaviers Notizen auf der Rückseite von A'idas Briefen werden konkreter: Sie nennen Namen von Zeitgenossen, und die Diktatur der Gewalt wird im Hier und Jetzt verortet. Die real existierende Terror-Landkarte erstreckt sich über die ganze Welt. Auf Seiten des Widerstands werden etwa zitiert: der in Martinique geborene Vordenker der Entkolonialisierung Frantz Fanon oder der türkische Autor und politische Lyriker Cam Yüzel. In den Notizen finden sich Zapatisten-Führer Subcomandante Marcos, der auch unter seinem Kriegernamen "Durito" als Xaviers Mithäftling auftaucht, oder der arabische Schriftsteller Ghassan Kanafani. In den 70er-Jahren Sprecher der "Volksfront zur Befreiung Palästinas", starb Kanafani durch eine vom israelischen Geheimdienst an seinem Wagen angebrachte Bombe. In seiner Widmung erinnert John Berger an ihn. Allen rings um die Welt verstreuten Widerstandsnestern gemeinsam ist ihr unbeugsamer Kampf gegen herrschende Missstände. Ungerechtigkeit ist universell. Xavier lässt in seinen Notizen nüchterne Zahlen sprechen:

    "1 Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu Trinkwasser. In manchen Gebieten Brasiliens bezahlt man auf der Straße mehr für 1 l Trinkwasser als für 1 l Milch, in Venezuela mehr als für 1 l Benzin. Gleichzeitig plant man zwei Zellstofffabriken, Papiermühlen, die Botnia und Emce gehören und täglich 86 Millionen l Wasser verbrauchen, das man dem Uruguay River entnimmt."

    Die globale Tyrannei des Profits sei für himmelschreiende Ungerechtigkeiten wie diese verantwortlich, legen Xaviers Notizen nahe. Über das Wesen der Tyrannei schreibt Autor John Berger in seinem 2007 in der Zeitschrift "Le Monde Diplomatique" erschienenen Beitrag "Konsum und Schmerz": Ihre Machtstruktur sei verzahnt, aber diffus, diktatorisch, aber anonym, allgegenwärtig, aber ortlos. Das klingt nach politischer Agitation, und will es auch sein. Die Realität selbst liefert den Stoff, aus dem die beste Propaganda ist. In "Begegnungen und Abschiede" erklärt John Berger sich davon überzeugt: In der modernen Welt könne Schreiben nirgends auch nur im entferntesten glaubhaft sein, wenn es nicht von politischem Bewusstsein und politischen Prinzipien durchdrungen sei.

    Doch Xavier ist mehr als ein Vehikel politischer Agitation. Er ist Widerstandskämpfer in irdischer und göttlicher Mission. Eine Geschichte aus seiner Kindheit lässt erahnen, dass der Mechaniker über von Gott gegebene Fähigkeiten verfügt. Schon als Zehnjähriger repariert er über Nacht das vollständig zerlegte Radio seines Vaters. Ein Bild dafür, dass der himmlische Mechaniker von Beginn an den Bauplan des Lebens durchschaut.

    Am Anfang, erfindet A'ida die Geschichte ihres Kennenlernens, zeigte sich ihr der Undurchschaubare in der Senke zwischen den Hügeln von Sennacherib nur verhüllt:

    "Du warst gerade am Schweißen. Unter Deiner Lederschürze trugst Du nichts als Shorts. Vor Deinem Gesicht ein dunkler Metallschild.
    Als Du dahinter erschienst, trugst Du eine schwarze Klappe über dem rechten Auge, und Dein Gesicht war vor Schmerz verkrampft.
    Ist das Auge verletzt?, fragte ich.
    Entzündet, gabst Du zur Antwort."


    Doch der Ortsname Sennacherib, der auf den assyrischen König im Alten Testament verweist, ist Signal für eine zweite Lesart: Der göttliche Schweißer ist die Verkörperung des Schmerzensmannes. Ein weiteres Indiz für den leidenden Christus: Die Schweiß-Narben auf Xaviers Handgelenken stehen für die Wundmale Jesu.

    Vor diesem Hintergrund wird klar, warum A'idas Liebe zu Xavier nicht von dieser Welt zu sein scheint. Xavier wird von A'ida im Wortsinn "vergöttert". In der Absolutheit ihrer Liebesbeteuerungen klingt das "Hohe Lied" der Bibel an. A'ida schreibt: "Niemand ist wie Du." "Auch wenn ich hundert Leben hätte, Dich könnte ich nicht erfinden." "Wohin ich auch gehe, Du bist bei mir." A'idas Liebe geht über den Tod hinaus. "Ich werde in Dir sterben.", beteuert sie und erklärt, sie sei bereit, wie ihre Namenspatronin aus der Verdi-Oper mit ihm ins Grab zu gehen. A'idas erotisch-mystische Verschmelzungsphantasien gipfeln in einem vor Sinnlichkeit vibrierenden Bild. Der blinde Besitzer eines spanischen Ladens empfiehlt A'ida eine Süßigkeit mit dem Namen "La Biblia". Ihr Geschmack ist so intensiv, als spüre sie ihren Geliebten im Mund - ein hocherotisches Bild für die Vereinigung mit Gott im heiligen Sakrament der Kommunion:

    "Ich wickle eine der Biblia aus. Oval und von der Farbe gebackenen Brots. So groß wie eine Zunge. Deine oder meine. Polvoron Artesano de Almendera. Ein Hauch von Zimt. Gewicht: 32 gr. Ich nehme einen kleinen Bissen für uns beide. Das gebackene Weizenmehl und der Mandelstaub, süß und ein wenig fettig, bilden oben ein paar Streifen, so bleibt es am Gaumen haften, während sich unten auf dem Boden auf Deiner Zunge Splitter von den gerösteten Nüssen sammeln, die Du zwischen die Zähne schiebst und zerbeißt.

    Wenn wir auf einer Biblia kauen, ist es so, als ob wir eine Mandeldecke über unsere beiden Köpfe ziehen um dem Sand, dem Regen, dem Wind oder dem Suchscheinwerfer des Wachturms zu entgehen.
    (...) erinnere Dich, ich habe Dich in meinem Mund gespürt."


    Die Bibel selbst wird hier zum "süßesten Gebäck der Welt". Die religiösen Bezüge in Bergers Buch sind ohne Zahl. Doch die Verweise sind verschlüsselt: Sie erscheinen in mutierter Form oder und in völlig anderen Zusammenhängen - so, als zitiere man eine bekannte Melodie mit einigen kurz angeschlagenen Tönen. Xavier verkörpert jedoch nicht den Heilsbringer einer bestimmten Religion. Er stellt eine universelle Erlöser-Figur dar. A'idas und Xaviers Codewort heißt Krokodilopolis: In der Oasenstadt Fayum südwestlich von Kairo beteten die alten Ägypter zum Krokodilsgott Sobek, Juden zu Jahwe, Mohammedaner zu Allah und Christen zum Allmächtigen. Gott hat viele Namen. A'ida bezeichnet Xavier deshalb als Chamäleon oder übersetzt "Mein Erdlöwe". Sie nennt ihren himmlischen Schweißer zärtlich auf spanisch "mi Soplete". Oder sie ruft ihn "Habibi Ya Nour", was arabisch "mein Geliebter, Glanz meiner Augen" heißt.

    Mit dem Namen "Kanadim", türkisch für "mein Flügel", verbindet A'ida ein ganz persönliches Erlebnis himmlischer Elevation. In einem ihrer Briefe erinnert sie sich an einen im Wortsinn "erhebenden" gemeinsamen Flug in einer "CAP 10B". Der göttliche Pilot Xavier schraubt sich und A'ida geradewegs in den Himmel und schenkt ihr einen Augenblick der Ewigkeit. Im Nunc stans, fühlt sie mit ihrem ganzen Körper, ist die Zeit aufgehoben und der Raum verwandelt sich in ein von Gott gegebenes "totum simul", in dem alles auf einmal und ganz zugleich ist.

    "Erde und Himmel schlugen in- und auseinander wie eine am Mast flatternde Fahne, und die Zeit verschwand. Wenn das Waagerechte nicht mehr existiert, hört auch die Zeit auf, nicht wahr?
    Wir drehten uns umeinander - das war meine einzige Empfindung. Wir saßen in einer Kapsel und drehten uns umeinander.
    Wie lang dauerte unsere Schraube - Sekunden, eine Minute, ein Leben lang? Ich weiß es nicht. (...)
    Der Erdboden war nirgends mehr zu sehen, die Erde lag hinter uns. (...)
    Ich schaute auf, ich schaute zurück; und da, hinter meinen Ohren, fand sich der Horizont. (...)
    Plötzlich kam er auf uns zu und stülpte sich wie eine Kappe über unsere Köpfe. (...)
    Wir beide wogen jetzt beinahe nichts. Mein schwereloser Körper endete nicht mehr mit der Haut, er dehnte sich in der Stille aus und reichte an alles, was ich sah. (...)
    Drei Loopings, und mit jedem brachten wir etwas mehr von der Unendlichkeit zurück. "


    Ewig ist, so Aristoteles, die kreisende Himmelsbewegung, die unendlich in sich zurückkehrt. Xavier zieht mit seinem Flieger diesen Himmelskreis der Ewigkeit nach. Die CAP, englisch auch für Kappe, Mütze, wird hier zum Symbol göttlichen Schutzes und Versprechen von Auferstehung und ewigem Leben.

    Die himmlische Flugkapsel ist nur eins der vielen verschiedenen Schutzsymbole in "A und X". Dazu gehören auch die Bienenkörbe von A'idas Freund, dem Altmetall-Sammler Ved. Oder die "chozas", von denen A'ida spricht: archaische kuppelförmige Schutzhütten aus Feldsteinen auf dem spanischen Land. Für Berger sind diese Stein-Pagoden urzeitliche Widerstandsnester, Zeichen der Menschlichkeit und Geborgenheit und Symbol für Hoffnung und Schutz. Vor diesem Hintergrund wird klar, was A'ida meint, wenn sie Xavier in einem Brief ein "Gewölbe" schickt. Eines der lustigsten Dinge, die eine Frau einem Mann schenken könne, sei ein geschweiftes Dach, schreibt sie. Denn sobald in einem Zimmer eine Frau lebe, so A'ida, werde die Decke zu einem Gewölbe. A'ida selbst ist Beschützerin und Schutzheilige in einem. Als Apothekerin ist es ihr Beruf, durch heilende Mittel Schmerzen zu lindern. In ihrer doppelten Berufung, Leidenden Trost zu spenden, erstrahlt sie wie eine Engelsgestalt oder Marienfigur. Xaviers Mutter schenkt ihr einen blauen Lapislazuli. Es ist einer der ältesten Heilsteine der Welt und symbolisiert die Himmelsmacht. Vor A'idas Wohnung steht ein Rosenbusch; sie zählt 130 Dornen. Der Rosenbusch ist ein Mariensymbol. Sein süßer Duft und die Dornen stehen für die Vereinigung von Liebe und Schmerz in der Muttergottes.

    Dem Rosensymbol Mariens entspricht die bittersüße Mandel in Bezug auf Christus. Die bitter schmeckende Hülle verkörpert die Passion Jesu, der süße Kern seine göttliche Natur. A'ida schreibt:

    "Als Kind habe ich geglaubt, unter allen Nüssen und Früchten wären Mandeln etwas ganz Besonderes, denn ich war überzeugt, sie würden von Hand gemacht. (...) Natürlich kenne ich die Mandelbäume mit ihren weißen Blüten. Brautweiß, und ich habe davon geträumt, mit ihnen im Haar zu heiraten (...), doch wenn ich die Kerne auf dem Tisch in Kreisen auslege, sage ich mir, dass sie vor langer Zeit von einer Frau als Süßigkeit erdacht worden sind. Vor langer, langer Zeit (...) von einer Göttin. Als Süßigkeit für ihren Schatz. Sie erfand die erste Mandel, (...) sie probierte und beschloss, dass es zur Feier seiner Rückkehr Mandeln geben sollte.

    So beauftragte sie einen Baum mit dem Rezept. Sie pfropfte ein Reis auf den Ast - ein Reis aus Worten, es ging ohne Klinge und Verband. Im nächsten Frühling blühte der Baum und im Juni brachte er jede Menge Mandeln hervor, die genauso schmeckten wie die, auf die ich jetzt beiße. Später segelte der Liebhaber der Göttin fort und kehrte nie wieder, und da pfropfte sie auf einen zweiten Baum das Rezept für die bitteren Mandeln (...)."


    John Berger schöpft aus einer jahrtausendealten Tradition christlicher Ikonografie und Symbolsprache von Kunst und Literatur. Doch er zitiert nicht nur, sondern destilliert daraus seine eigene, ganz persönliche Bild- und Zeichensprache. Berger malt mit Worten poetische Stillleben von intensiver Farbigkeit und transzendenter Tiefenschärfe. Genau dieser doppelte, auf das Leben und ins Unendliche gerichtete Blick macht seine Bilder so faszinierend. Eigentlich sind es Gemälde aus einer vergangenen Zeit wie das von Xavier erwähnte "Hiob und seine Frau" von Georges de la Tour - ein Meisterwerk von großer Leuchtkraft und sinnlicher Präsenz. Zeichnen, so John Berger in einem Interview, sei für ihn eine Art des Gebetes.

    Wenn man zu sehen beginne, was uns auf natürliche Weise umgibt, so der Autor, sei man im Reich des Unendlichen. Selbst schwarze Johannisbeeren, die Stiefkinder unter den Gartenobststräuchern, werden unter den Augen des Wort-Malers Berger zum Anbetungsbild. In einer seiner magischsten Bild-Meditationen verschränkt sich die Unmittelbarkeit des ersten mit der Wehmut des letzten Mals:

    "Sie färben Deine Finger purpurrot, diese Johannisbeeren, und ihr Geschmack, nicht ihre Farbe, ist schwarz, sie schmecken schwarz und nach der See wie etwas Lebendigem vom Meeresgrund. (...) Erinnerst Du Dich noch an ihren Duft? Den Geruch von schwarzen Johannisbeeren? Vor allem an den Duft ihrer Blätter, wenn die Früchte reifen? (...) Heute nacht möchte ich den Duft von schwarzen Johannisbeeren in Deine Zelle tragen. (...)

    Später (...) kam eine Abendbrise auf, und die letzten Sonnenstrahlen wärmten mir den Rücken - ich konnte beides auf meinen Schulterblättern spüren, die Wärme und die Kühle (...). Wir haben bloß ein Leben, Du und ich. (...) Die Beeren fließen eine nach der anderen von den Fingern bis in den Handteller. (...) Die Beeren lösen sich von selbst und rollen meine Finger entlang in die Hand, als ob es ihnen vorbestimmt sei. (...) Als ob mit der Berührung durch meine Finger ihre Zeit gekommen wäre. (...) Kannst Du meine schwarzen Johannisbeeren jetzt riechen?"


    In der Natur, begreift A'ida, hat jedes Element teil an ihrer doppelten Unendlichkeit. Die Johannisbeere wird für sie zum Zeichen unendlicher Größe und unendlicher Kleinheit. Das klingt nach Mystik, und will es auch sein.

    Für Berger geht eins nicht ohne das andere: keine Mystik ohne gesellschaftskritisches Bewusstsein, kein Nachdenken über die Unendlichkeit ohne politisches Engagement. Auf das Geheimnis seiner Texte verweist der Autor selbst: Es ist ihre reziproke Vieldeutigkeit. Jedes Element weist über sich selbst hinaus und alles steht mit allem in Verbindung. Bergers Bild dafür ist das Rhizom: das Wurzelgeflecht von Giersch, Buschwindröschen oder Maiglöckchen - bei Deleuze und Guattari Metapher für ein "vielwurzelig" verflochtenes Modell der Wissensorganisation und Weltbeschreibung als Gegenentwurf zum Baum des Wissens, dem traditionellen Bild für hierarchische Strukturen. "'From A to X. A Story in Letters' by John Berger" lautet der englische Titel des Buchs. Eine Erzählung in Briefen oder eine Geschichte in Buchstaben? Das Buch beschreibt einen Weg, eine Liebes-Expedition und Seelen-Reise von A nach X. Es zeichnet aber auch eine Lebenslinie und Denkbewegung nach: vom griechischen Buchstaben Alpha, dem allerersten Anfang, zum Buchstaben X, dem griechischen Symbol für Christus. A und X sind auch mathematische Variablen. Sie stehen als Stellvertreter für den Glauben an das Mysterium des Lebens. Schreiben, erklärt John Berger in "Über Bilder und Menschen", lebe von der schlichten Überzeugung, dass das Leben selbst heilig sei. Damit fängt es überhaupt an. Der Erzähler kann dieses Mysterium nur be-schreiben. Geschichten erzählen bedeutet letzten Endes immer Kopieren. Er sei es nicht selbst, der da spricht. Er höre nur zu, bekennt der Autor in einem Interview. Bergers Transkription der Briefe von "A und X" ist daher im doppelten Sinne eine Überlieferung oder Über-Schreibung von Vorgefundenem. Das allererste Geheimnis ist, dass überhaupt etwas existiert und nicht vielmehr nichts. Es scheint, wir haben das Staunen darüber verlernt. Bergers vieldeutige Bilderrätsel, magische Meditationsbilder und leuchtkräftige Sprach-Gemälde machen es wieder lebendig. Deshalb ist John Bergers "A und X" eines jener seltenen Bücher, die über sich hinausweisen. Ein Buch, das in den Köpfen Wurzeln schlägt, die nach dem Lesen erst richtig zu wachsen beginnen.


    John Berger: "A und X. Eine Liebesgeschichte in Briefen". Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes. Hanser 2010. 207 Seiten, 18,90 Euro