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Pasolinis Bibliothek
Mit Büchern fing alles an

Der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini war ein Vielleser. Mehr als 40 Jahre nach seinem Tod wird nun seine Privatbibliothek erforscht. Pasolini markierte Textstellen mit Eselsohren oder ritzte das Papier – heute sind das wichtige Hinweise auf die Einflüsse in seinem Werk.

Von Thomas Migge | 31.03.2018
    Der italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini war ein Vielleser. Hier ist er vor seiner Bücherwand zu sehen.
    Der italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini war ein Vielleser. (picture-alliance / dpa - ANSA)
    "Sei tu, ma tu sei mia madre e il tuo amore…".
    Pier Paolo Pasolini liest eines seiner Gedichte, der eigenen Mutter gewidmet. Der Frau, die die meiste Zeit seines Lebens mit ihm zusammen wohnte. Sie hütete auch seine Bibliothek in der Wohnung in der römischen Straße Via Eufrate Nummer 9, wo die Pasolinis seit 1963 lebten. Eine Bibliothek, die von großem Interesse ist, will man Pasolini und sein Schaffen verstehen. So erklärt es Graziella Chiarcossi, die Lieblingsnichte des Schriftstellers, die auch in der gemeinsamen Wohnung lebte:
    "Uns kam die Idee, diese private Bibliothek Pasolinis genau unter die Lupe zu nehmen. Da er eine ganz eigene Arbeitsweise hatte, seine Bücher und Filme vorzubereiten, ging er auch mit den Büchern, die er kaufte und las, auf eine eigenwillige Weise um. Diese Bibliothek sagt einiges aus über Pasolini, denn sie gibt Auskunft darüber, unter welchem Einfluss einige seiner Werke entstanden sind".
    Analyse von rund drei Tausend Büchern
    Zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Franco Zabagli hat Graziella Chiarcossi die komplett erhaltenen Buch- und Schriftenbestände durchforstet, gelesen, erforscht. Herausgekommen ist eine literaturwissenschaftliche Analyse von rund drei Tausend Büchern aus Pasolinis Besitz. Zusammen mit den Handschriften aus seiner römischen Privatbibliothek sind diese Bestände vor kurzem in das Gabinetto Vieusseux aufgenommen worden, eines der wichtigsten italienischen Literaturarchive in Florenz.
    Bei der Lektüre und Analyse der privaten Bücher aus Pasolinis Bibliothek machten Graziella Chiarcossi und Franzo Zabagli zahlreiche Entdeckungen. Zum Beispiel immer wieder Pasolinis Bemerkungen, mit einem Bleistift gemachte handschriftliche Vermerke, zum Thema Fernsehen und Literatur. Literaturwissenschaftler Zabagli:
    "Da merkt Pasolini Dinge an, die er vollkommen inakzeptabel empfand. Beispielsweise das Fernsehen: Schon in den 1960er Jahren war ihm klar, dass dieses Medium die Gesellschaft nachhaltig verändern würde, und zwar negativ. Dazu gibt es viele Notizen in seinen privaten Büchern. Die Rezeption der Realität, so schrieb er neben ein Gedicht seines Dichterkollegen Attilio Bertolucci, werde durch das Fernsehen total verändert."
    Buntes Bücherallerlei mit persönlichen Anmerkungen
    Pier Paolo Pasolini war ein Vielleser: Romane und Gedichtsammlungen, Bücher zur Geschichte, Philosophie, Anthropologie, Literaturwissenschaft, Soziologie und Politik. Ein buntes Bücherallerlei, dem allerdings durch die persönlichen Anmerkungen Bedeutung zukommt, erläutert der Literaturwissenschaftler Franco Zabagli:
    "Pasolini gehörte zu jenen Intellektuellen, die einen intensiven Bezug zu Büchern hatten. Das wird klar, wenn man die vielen Unterstreichungen, die Bemerkungen zu Texten und die Auswahl der von ihm angeschafften Bücher untersucht. Er las aktiv und intensiv und nutzte dafür die Bücher, das heißt: Sensibel ging er nicht mit ihnen um. Für ihn waren sie Arbeitswerkzeuge".
    Bücher als Schlüssel zu Pasolinis Romanen und Filmen
    Immer dann, wenn Pasolini keinen Stift zur Hand hatte, machte er Eselsohren in seine Bücher. Wollte er auf einer Seite eine besondere Zeile kennzeichnen und war ohne Stift, dann ritzte er mit einem Fingernagel das Papier an, so dass dieser Hinweise beim späteren Nachlesen unübersehbar war. Die Hinweise auf bestimmte Textstellen sind für das Verständnis der Entstehungsgeschichte der Romane und auch der Filme Pasolinis von großer Wichtigkeit, geben sie doch Auskunft darüber, durch welche Autoren er sich hat beeinflussen lassen.
    Einzelne Bücher hatten Ehrenplätze in seiner Privatbibliothek. Wie etwa "Die Gesänge des griechischen Volkes" von Niccolò Tommaseo, die großen Einfluss auf sein frühes dichterisches Schaffen hatten, das Werk "Mimesis" des deutschen Philosophen Erich Auerbach, das Pasolini – als Zitat – "mein theoretisches Vademecum" bezeichnet hatte, oder auch die "Dämonen" von Dostojewski, die er während seiner Arbeit an dem Roman "Petrolio" immer wieder las.
    Die beiden Autoren der Studie zu Pasolinis Privatbibliothek kommen auch auf die vielen geschenkten Bücher zu sprechen. Bücher mit zum Teil leidenschaftlichen und auch kuriosen Widmungen, wie etwa von dem damals noch unbekannten Dichter Massimo Ferretti. In den späten 1950er Jahren hatte er Pasolini sein Gedicht "Deoso" zugeschickt, mit der Bemerkung, es doch bitte nach der Lektüre sofort zu verbrennen, weil es ebenso unbedeutend wie der Autor selbst sei. Pasolini war begeistert von dem Text, so sehr, dass er den jungen Mann nach Rom einlud und in die wichtigsten literarischen Kreise einführte.

    La Biblioteca di Pier Paolo Pasolini
    Herausgegeben von Graziella Chiarcossi und Franco Zabagli
    Verlag Leo S. Olschki, Florenz 2017
    284 Seiten, 29 Euro