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Widerstand in Noten

Rund 300.000 junge Portugiesen unter 35 Jahren sind ohne Job, andere machen unbezahlte Praktika oder werden auf Honorarbasis entlohnt. Die Frustration wächst und seit Kurzem hat sie auch eine eigene Hymne: ein Lied der Musikgruppe "Deolinda".

Von Tilo Wagner | 15.03.2011
    Es war eine Art Ruck-Rede, die Portugals Präsident Aníbal Cavaco Silva Mitte vergangener Woche hielt. Zum Beginn seiner zweiten Amtszeit rief er die Jugend des Landes auf, sie solle, Zitat, "endlich aus der Lethargie aufwachen" und sich Gehör verschaffen. Der Präsident wurde gehört: In zwölf Städten gab es am Wochenende Demonstrationen. Allein in Lissabon protestierten rund 200.000 meist junge Leute gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit, gegen schlecht bezahlte Arbeitsstellen und lange, aber unbezahlte Praktika. Verglichen mit gewaltsamen Ausschreitungen, wie sie Griechenland kennt, verlief der Protest in Portugal eher ruhig.

    Inzwischen hat die Frustration der Portugiesen eine Hymne: ein Lied der Musikgruppe "Deolinda".

    Vor knapp zwei Monaten gab die portugiesische Band "Deolinda" ein Abschlusskonzert ihrer Tournee in Porto. Knapp dreitausend meist junge Portugiesen gaben sich textsicher und sangen die ironischen, gut tanzbaren Folk-Pop-Lieder der Gruppe mit. Bis die Band zum ersten Mal einen neuen Song anspielte. In der ersten Strophe singt die 32-jährige Sängerin Ana Bacalhau:

    "Ich gehöre zu einer Generation ohne Gehälter, und dieser Zustand stört mich nicht. Wie blöd ich doch bin. Denn uns geht es schlecht und das wird so bleiben. Es ist schon ein Glück, wenn ich ein Praktikum machen darf."

    Je länger "Deolinda" das Lied spielte, um so emotionaler wurde die Stimmung im Publikum. Das war auch für die Band ein ganz neues Gefühl, sagt die Sängerin Ana Bacalhau:

    "Uns war so etwas noch nicht passiert. Unser Universum ist eine fiktive Welt, die von realen Dingen spricht, die wir erleben. Aber in diesem speziellen Moment schien es, als ob das Lied aufhörte Musik zu sein, um Teil der Gedanken, Gefühle und der inneren Stimme der Menschen zu werden. Es schien, als ob der Song das aussprach, was alle dachten, aber niemand in Worte packte.”"

    In der letzten Strophe stand das Publikum auf und klatschte und feierte ein Lied, das es vorher noch nie gehört hatte. Denn Ana Bacalhau sang, sie gehöre zu dieser Generation, so könne sie nicht weitermachen, der Zustand dauere schon viel zu lange. Es sei doch eine blöde Welt, in der man studiere um dann Sklave zu sein.

    Innerhalb von wenigen Tagen zirkulierte im Internet ein Video über die emotional aufgeladene Stimmung während des Konzerts. Seitdem hat der Song Kultstatus. Auch Paula Gil sah zusammen mit ihren Freunden das Lied im Internet:

    ""Der Song teilt den Menschen mit, dass unser Leben nicht unbedingt so sein muss, wie es ist. Als wir das Video sahen, entstand die Idee, eine Protestbewegung ins Leben zu rufen. Denn wir verstanden plötzlich: Es gibt so viele, die wie wir frustriert sind, und das ist der Moment, zu zeigen, wie viele es von uns gibt, die in prekären Arbeitsverhältnissen leben."

    Paula Gil schuf mit ihren Freunden eine Facebook-Seite, die mittlerweile mehr als 60.000 Mitglieder hat. Gemeinsam riefen sie für den vergangenen Samstag zu einem landesweiten Protesttag auf, an dem über 280.000 Menschen teilnahmen. Die Protestbewegung trägt den Namen "Geração à rasca" – die Generation, die in der Klemme sitzt.

    In der Tat hat die Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre insbesondere die portugiesische Jugend getroffen. Rund 300.000 junge Portugiesen unter 35 Jahren sind ohne Job – das ist knapp die Hälfte aller arbeitslosen Portugiesen. Allein im vergangenen Jahr stieg die Arbeitslosigkeit in dieser Altersgruppe um 46 Prozentpunkte. Diese Statistik erzählt aber nur einen Teil des Problems. Denn selbst die jungen Portugiesen, die Arbeit gefunden haben, stehen größtenteils in prekären, also befristeten und häufig schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen. Laut einer Studie der EU-Kommission haben 53 Prozent aller portugiesischen Arbeitnehmer zwischen 15 und 24 Jahren zeitlich begrenzte Verträge. Zudem arbeiteten Zehntausende von jungen Portugiesen auf Honorarbasis – und diese Einkommensgruppe wurde von den jüngsten Steuererhöhungen der Regierung mit am härtesten getroffen.

    Die Sachlage ist auch den Politikern bewusst. Deshalb haben sie auf den Weckruf aus der Popszene schnell reagiert. Die Regierung präsentierte einen Gesetzesentwurf, der unbezahlte Praktika, die länger als drei Monate andauern, künftig verbieten soll. Und Staatspräsident Aníbal Cavaco Silva hat in der Rede zu Beginn seiner zweiten Amtszeit die Jugend ermutigt, sich Gehör zu verschaffen und aktiv für eine funktionierende Zivilgesellschaft einzutreten.

    Die Initiatoren der Protestbewegung halten die Reaktion der Politik nicht für einen vorgespielten Opportunismus. Paula Gil:

    "'"Wir heißen jede konkrete Maßnahme willkommen, die von der Regierung oder den Arbeitgebern vorgeschlagen wird, um unsere prekäre Situation zu verbessern.""

    Die Zeiten, in denen Liedermacher wie Zeca Alfonso den politischen Protest in den 1970er Jahren aktiv vorangetragen hatten, sind jedoch definitiv vorbei. Die Band "Deolinda" nahm an der Demo an diesem Wochenende nicht teil. Zu groß war die Angst vor dem Vorwurf, die Band mache auf Kosten eines tiefgreifenden Problems Werbung in eigener Sache.