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Wie alles kam

Rezeptionsästhetik ist ein abschreckender Begriff, manchmal aber eine spannende Sache. Was mit einem Kunstwerk im Laufe seiner Geschichte passiert ist, kann so aufregend sein wie das, was in ihm selbst verhandelt wird. Ganz gewiss trifft das auf Schillers Ode «An die Freude» und Beethovens Neunte Sinfonie zu, deren Schlusssatz einige Strophen dieser Ode von Solisten und Chor singen lässt. An öffentlicher Wirkung über jetzt fast zwei Jahrhunderte wird die Neunte von keinem Musikstück übertroffen, und Schillers Ode hat an dieser Wirkung erheblichen Anteil: Das ist jedenfalls die These von Dieter Hildebrandt, der in seinem neuen Buch «Die Neunte» die gemeinsame Karriere von Wort und Ton nachzeichnet.

Ein Beitrag von Martin Ebel | 12.04.2005
    Hildebrandt - nicht zu verwechseln mit dem Kabarettisten gleichen Namens - ist einer der besten Musikschriftsteller deutscher Sprache. Das kommt seinem Buch, das merkwürdigerweise ohne eine einzige Note auskommt, sehr zugute. Auch dürrere Phasen der Rezeptionsgeschichte weiß der Autor mit ganzen Gießkannen phantasievoller Umschreibungen, Anspielungen und Vergleiche zu befeuchten; manchmal übertreibt er und setzt sie ganz unter Wasser. Er ist, wie viele gute Formulierer, auch nicht frei von Selbstverliebtheit, aber auf den besten Seiten - und davon gibt es viele - befeuert von einem schönem, einem schillerhaften Enthusiasmus für seinen Gegenstand.

    Und dieser Gegenstand kommt denkbar unspektakulär auf die Welt. Schillers Ode ist das Werk eines jungen Mannes, ein Gelegenheitsgedicht, das der Dichter selbst später als «schlechtes Gedicht» bezeichnet hat. 26 Jahre alt war Friedrich Schiller, als er es schrieb, und vielleicht zum ersten Mal richtig glücklich, jedenfalls so glücklich, dass er die ganze Welt hätte umarmen können. Er war dem Kasernenhofdrill seines württembergischen Landesherrn entflohen und hatte sich mehr schlecht als recht als freier Theaterautor durchzuschlagen versucht. Die Einladung des sächsischen Juristen Christian Gottfried Körner, eine Weile sein Gast zu sein, entriss ihn nicht nur der lästigen finanziellen Kalamitäten.

    In Leipzig, in Dresden und auf Körners Landhaus in Loschwitz erlebt Schiller die Herzlichkeit eines künstlerisch aufgeschlossenen Freundeskreises, und er ist überwältigt. Die «Ode an die Freude», die er 1785 schreibt, ist ein Trinklied. Und getrunken wird nicht metaphorisch Feuer, Freude oder Menschenliebe, sondern ganz ordinärer Wein. «Brüder, fliegt von euren Sitzen, / wenn der volle Römer kreist,/ Lasst den Schaum zum Himmel spritzen: / Dieses Glas dem guten Geist» heisst es in einer Strophe, die Beethoven nicht komponiert hat, und im Refrain gleich darauf verdeutlicht der weinselige Dichter, wem er da zuprosten will: «Dieses Glas dem guten Geist / Überm Sternenzelt dort oben!»

    Minna Stock, eine der jungen Damen des neuen Freundeskreises, hat in einem Brief über ein Frühstück im Loschwitzer Weinberg berichtet. Bereits um die Morgenstunde kreisten die Pokale, Schiller stiess in seinem Enthusiasmus so heftig mit ihr an, dass das Glas zerbrach und der Rotwein über das Tischtuch floss. «Eine Libation für die Götter! Giessen wir unsere Gläser aus», rief Schiller, und die Freunde folgten seinem Beispiel.

    Ein Trinklied also, aber natürlich mehr als das. Die «Ode an die Freude» ist auch eine Abrechnung mit den Nörglern und Kleingeistern, eine Attacke auf klerikale Enge und auf Standesgrenzen. Der berühmte Vers «Alle Menschen werden Brüder» hatte in der Erstfassung noch gelautet: «Bettler werden Fürstenbrüder», und eine Strophe, die Schiller später wieder tilgt, lässt jedem braven Kirchenmann die Haare zu Berge stehen: «Auch die Toten sollen leben! / Brüder trinkt und stimmet ein, / Allen Sündern soll vergeben / Und die Hölle nicht mehr sein.»

    Es ist diese Verbindung von jugendlichem Aufbegehren und Menschheitsbeglückung mit dem unwiderstehlichen Schwung schillerscher Sprache, die den Erfolg des Gedichtes ausmachte. Schnell verbreitet, bald gedruckt, wurde es sofort zum Lied, ja, wie Hildebrandt meint, zum «Gassenhauer». Dutzendfach war es bereits vertont worden, ehe sich Beethoven daran machte, und da waren fast vierzig Jahre seit der Entstehung des Gedichts vergangen. Seine eigene Melodie ist überaus einfach, bewegt sich in einfachen Schritten voran und verlässt mit einer Ausnahme den Tonraum der Quinte nicht, eine Melodie, die nahezu jeder nach einmaligem Hören nachsingen kann.

    Sie ist - ohne den Schiller-Text, ohne überhaupt einen Text - die Hymne Europas, eine Zeit lang war sie die Olympia-Hymne der gemeinsam auftretenden Mannschaft aus dem geteilten Deutschland, sie hat es (als erstes Musikstück) zum Weltkulturerbe gebracht und natürlich zum Schlager, dem unvergessen grässlich verhunzten «Song of Joy».

    Gebraucht und verbraucht, vereinnahmt und verwandelt: Der Freudenmelodie und der Neunten Sinfonie, die sie auf denkwürdige Weise beschliesst, ist gut und übel mitgespielt worden. Dieter Hildebrandt zerlegt die Wirkungsgeschichte in eine Fülle von Szenen, die er geniesserisch ausmalt. Etwa die Szene, in der Richard Wagner sich Beethovens Neunte auf recht schamlose Weise aneignet und seiner eigenen Idee einer «Zukunftsmusik» zuschlägt. Oder die Szene in einem Berliner Brauereisaal, in dem im Jahre 1905 das Werk vor 3000 Arbeitern aufgeführt wird. «Das Proletariat», kommentiert Hildebrandt, «nimmt ein Werk des klassischen Kulturerbes in Besitz, eine Schöpfung des deutschen Idealismus».

    Es folgt der Missbrauch durch die Nazis, die besonders die Neunte im Krieg als Anfeuerungsstück einsetzten. Am Vorabend von Hitlers 53. Geburtstag führte sie Wilhelm Furtwängler vor der Parteispitze in der Berliner Philharmonie auf, und Goebbels hielt eine seiner berüchtigten Reden, in der er vom «faustischen deutschen Herzen» schwafelte und mühelos die Brücke schlug von Schillers Freude zur deutschen Wehrmacht.

    Muss sich Musik alles gefallen lassen? fragt Hildebrandt, ohne natürlich eine Antwort geben zu können. Die Neunte jedenfalls hat sich mehr gefallen lassen müssen als andere Musikstücke. Sogar als Terrorinstrument ist sie eingesetzt worden - in Stanley Kubricks berühmten Film «Clockwork Orange», wo der Held zu den Freudenklängen einer Gehirnwäsche unterzogen wird. Gut gemeint war der Eingriff in den Schillerschen Text, den sich Leonard Bernstein erlaubte, als er 1989 die Neunte nach dem Fall der Berliner Mauer im Ost- und im Westteil der Stadt aufführte. «Freiheit, schöner Götterfunken» sang der Chor da, und der Dirigent deutete an, «Freiheit» sei der richtigere, der eigentliche Wortlaut, der, den der Dichter gemeint hätte, aber wegen der Zensur durch das harmlosere «Freude» ersetzen musste.

    Bernstein hat das nicht einfach erfunden; die Geschichte von der zensierten Freiheit hat eine lange Tradition, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Wie Dieter Hildebrandt diese Tradition nachzeichnet und sie schließlich widerlegt, als eine «Subversionslegende», das ist historisch und philologisch scharfsinnig argumentiert und überdies wunderbar erzählt. Auch aus einer Legende lässt sich etwas lernen: Dass es nämlich in den großen Werken weiterarbeitet, dass sie nie zur Ruhe kommen und dass jede Zeitsicht auf ihre Weise am work in progress beteiligt. Und so werden sich um den Kern der Neunten, um diesen ewig rätselhaften Kern auch im 21. Jahrhundert neue Interpretationsschichten legen.