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Wie das Bürgertum unterging: mit Beethovenmusik

Gegenstand von Eberhard Straubs "Geschichte der Furtwänglers" ist das deutsche Bildungsbürgertum, das in dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler einen seiner glänzendsten Repräsentanten fand. Und erst im Zusammenhang einer eindringlichen Schilderung des Milieus einer Familie, in der die Liebe zu Beethoven als Versprechen auf eine bessere Welt galt, wird die Verstrickung des Musikers mit den Mächtigen des Dritten Reiches deutlich.

Von Holger Noltze | 26.11.2007
    Übrigens gibt es ja mindestens zwei bedeutende Furtwänglers. Neben Wilhelm, dem Dirigenten ist das der Archäologe Adolf Furtwängler, 1853-1907, der an den Ausgrabungen in Olympia teilnahm, Professor in Berlin und München und Direktor der Glyptothek und Vater des großen Dirigenten. Dieser wiederum ist Großonkel der berühmten Serienschauspielerin Maria Furtwängler. Auch sie ist eine der "Furtwänglers" denen der Historiker Eberhard Straub seine "Geschichte einer deutschen Familie" gewidmet hat. Sie kommt aber erst vor, als diese Geschichte eigentlich schon zu Ende ist: Als Ausblick auf das, was kam, nachdem das mit den "Furtwänglers" hier vor allem gemeinte deutsche Bildungsbürgerwesen unwiderruflich untergegangen war. Es kommen da noch allerhand andere Furtwänglers vor, Schwarzwälder Bauernburschen und Gymnasialdirektoren, Grammatiker und Gräcisten; auch Wilhelms wilde Schwester Märit kommt vor, die die Ehe des Philosophen Max Scheler zum Einsturz brachte.

    Eine Familiengeschichte, verzweigt und obskur wie alle. Aber bevor es überhaupt um irgend einen Furtwängler geht, entwirft Straub ein großes Panorama von Glanz und Dämmerung jener Bürgerlichkeit, die auf Bildung baute. Schönheit, Kenntnis des Altertums, Literatur, Kunst wiesen den Weg in die Freiheit.. Besonders aber Musik: Musik ist die Kunst der Deutschen. In Adolf und "Addy", den Eltern des Dirigenten, macht Straub ein im Sinne des Typus ideales Paar aus:

    Die Musik ist die Umgangssprache sämtlicher Menschenfreunde, die der Aufforderung Beethovens "Seid umschlungen, Millionen" beseligt folgen und gleich darauf einen "Kuss der ganzen Welt" versprechen. Addy Wendt, zur Malerin ausgebildet, um Schönes abzubilden, und Adolf Furtwängler, der um ihre Schönheit gebrachte Skulpturen gesäubert, gereinigt in das Leben, in die Wirklichkeit der Gebildeten zurückrufen wollte, hatten nur eines im Sinn: das einzig Heilige, das Schöne. Dem Schönen weihten sie ihr Leben und erhofften sich schönsten Gewinn, wenn es ihnen gelang, ihre Kinder vor den Versuchungen der Banalität zu schützen, und ihnen den verheißungsvollen Weg zu ebnen, der ins Reich der Götter führt, der Götter Griechenlands.

    In Jung-Wilhelm, der weltvergessen vor sich am Klavier hinträumt, erkennen sie bald das Originalgenie. Wilhelm schreibt Kammermusik und Lieder, "merkwürdig unbeeinflussbar", wie Adolf Furtwängler notiert, der gerade darin ein Zeichen der Erwähltheit sieht. Ihm werden alle Wege geebnet. Doch nicht als Komponist, sondern als Kapellmeister löste er den Genie-Anspruch ein.

    Bei Felix Mottl lernt er, wie man ein Orchester zum Singen bringt, wie man das Symphonische vom Melos her denkt, mit Gespür für das richtige Zeitmaß. Und seit er auf der ersten Chefstelle in Lübeck 1913 zum ersten Mal die "Neunte" zelebriert, wird er als sensationeller Jung-Pathetiker gefeiert. Bald lässt ihn Arthur Nikisch mit den Berliner Philharmonikern singen, bald spricht man in der musikalischen Welt von "Furtwänglerkonzerten". Schön zeigt Straub, wie Furtwängler zum Katalysator des sich abzeichnenden Starsystems der Musik wurde, obwohl er eben dies als Krisensymptom (der Vermarktung der heiligen Musik) sah.

    "Was er wollte, war Macht. Ohne Macht lässt sich nichts machen. Mutlos geworden, ob er als Komponist sein Publikum finden werde, verwandte er alle Energien darauf, sich im Musikbetrieb durchzusetzen und dessen wichtigste Apparate unter seine Kontrolle zu bringen."

    Es geht nun nicht mehr ohne ihn, man jubelt ihm zu als Sachwalter Beethovens auf Erden, und er versteht es, mit fahrig flackernden Bewegungen, Beethoven, Brahms und Wagnermusik klingen zu lassen wie beim ersten Mal, mit verklärtem Blick über den schnöden Notentext hinweg.

    Hier liest sich Straubs Familienroman als Furtwängler-Biographie. Aber die Aufhellung seines Herkommens, die souveräne Darstellung des geistesgeschichtlichen Basso continuo, über dem sich die außerordentliche Kunst (und ihre außerordentliche Wirksamkeit) entfaltete, bereichern die zentrale Auseinandersetzung um den "Fall Furtwängler", seine Verstrickung in die Kulturpolitik des Dritten Reichs. Im Zusammenklang der Analyse von Familien- und Zeitgeschichte wird deutlich, wie hier kein nur an seinen Idealen Scheiternder, ein Unpolitischer das Opfer von Politik wurde - Furtwängler, der Repräsentant der heiligen deutschen Musik, wurde korrumpierbar, weil Eitelkeit und Machtwille ihn für die Musikpolitik der Hitler, Goebbels, Göring erreichbar gemacht hatten.

    Er war kein Nazi, er half jüdischen Kollegen. Aber, so Straub:

    Alle anderen Mitläufer wollten nur mitlaufen mit den übrigen Volksgenossen und ungestört musizieren. Allein Wilhelm Furtwängler strebte als Mitläufer danach, im Nationalsozialismus mit Beethoven, Wagner und Brahms die innere Führung zu übernehmen.

    Man liest nicht viel über Musik. Aber man erfährt etwas darüber, wie verdreht es im Kopf dieses genialen Intuitions-Musikers ausgesehen haben muss, der sich nach 1945 offenbar bedenkenlos als Widerstandskämpfer des Geistes stilisierte. Und so wie er Musik und Politik streng zu trennen meinte (und dabei dauernd durcheinanderwarf), so subtrahierte er, als der Nazi-Spuk vorüber war, das böse Deutschland vom guten, und herauskam bei dieser Rechenoperation: Beethoven, beziehungsweise: Furtwängler.

    Wie einer beständig als Vertreter höherer Geistigkeit und "Innerlichkeit" agiert und sich zugleich in "Ruhmgeschäftigkeit" aufreibt und vor lauter Beethoven- und Ichbezogenheit jeden Sinn für das moralisch und politisch Gebotene verliert: Auch im Kontext von Straubs Familiengeschichte wird man es nicht recht begreifen können. Die Einbettung dieser "Furtwänglers" in die Untergangsgeschichte des Bildungsbürgertums verhindert moralisierende Überheblichkeit aus dem Gratismut von Spätgeborenen. Gerade in der historischen Herleitung zeigt sich aber auch, dass Furtwänglers Scheitern selbst innerhalb der bürgerlichen "Weltanschauungen" nicht die einzig mögliche Haltung war.

    Eberhard Straub: Die Furtwänglers. Geschichte einer deutschen Familie
    ISBN: 978-3-88680-839-7
    Siedler