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Wie der Drache erwachte

Der Chefarchitekt des Wirtschaftswunders China war Deng Xiaoping. Ihm gelang es, das kommunistische Staatsschiff auf kapitalistischen Kurs zu bringen. Im Gegensatz zu Mao ist er für den Westen ein unbeschriebenes Blatt. Sozialwissenschaftler Ezra F. Vogel hat diese Lücke jetzt gefüllt.

Von Brigitte Baetz | 08.12.2011
    "In den vergangenen 60 Jahren hat das fleißige chinesische Volk unter der Führung der Kommunistischen Partei hart und einträchtig gearbeitet, allen Herausforderungen und Unbilden getrotzt und ein wirtschaftlich blühendes Land geschaffen. Ein sozialistisches China – der Welt, der Modernität und der Zukunft zugewandt – steht heute hoch aufragend im Osten."

    Chinas Präsident Hu Jintao hatte nicht übertrieben, als er zum 60. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China im letzten Jahr diese stolze Bilanz zog. Obwohl die Einkommens- und Lebensunterschiede im Reich der Mitte immer noch gewaltig sind, obwohl Umweltverschmutzung, Korruption und Menschenrechtsverletzungen immer wieder Schlagzeilen machen – in der internationalen Staatenwelt gilt China in jeder Hinsicht als eine der wichtigsten Volkswirtschaften, so Zhang Baohui, Professor für Politikwissenschaft an der Lingnan-Universität von Hongkong.

    "Macht hängt immer auch von einer materiellen Basis ab. Also wie groß ist unser Bruttoinlandsprodukt? Wie groß ist unsere militärische Kraft? Doch für die Macht ebenso wichtig ist die Wahrnehmung. Das zeigt der Kollaps der amerikanischen Hegemonie seit 2005. Amerikas materielle Macht hat sich nicht stark verändert. Doch es gibt eine Veränderung der Wahrnehmung. Amerikas Autorität ist weg. Umgekehrt im Fall Chinas. China steigt zurzeit schnell in der internationalen Hierarchie auf. Das hat mit Chinas Image im Ausland zu tun. China gilt jetzt, mehr oder weniger, als Nummer zwei unter den Mächten der Welt."

    Der Aufstieg des Landes, das inzwischen die größten Devisenreserven der Welt hält, begann vor etwas über 30 Jahren.

    Der Chefarchitekt dieses "Wirtschaftswunders": Deng Xiaoping. Ein nur in Körpergröße kleiner Mann von 1,52 Meter, dem es noch im hohen Alter gelang, das kommunistische Staatsschiff auf kapitalistischen Kurs zu bringen – und die Rolle der Partei gleichwohl nicht in Frage zu stellen. Ezra F. Vogel, emeritierter Harvard-Professor, hat in über zehnjähriger Detailarbeit das Leben Deng Xioapings in einer über 900 Seiten fassenden Biografie zusammengetragen, die gerade in den USA veröffentlicht worden ist.

    "Er war schon als junger Mann extrem selbstbewusst. Er war in der Schule sehr sehr gut. Als er nach Frankreich zum Studium ging, wurde Zhou Enlai auf ihn aufmerksam, der damals kommunistischer Studentenführer war. Deng wurde sein Assistent und schrieb Aufsätze. Und auch in späterer Zeit fand er einflussreiche Unterstützung."

    Doch Dengs Weg zum einflussreichsten Mann im China der 80er- und 90er-Jahre blieb nicht ohne Rückschläge. Mao ließ den 1904 geborenen Kommunisten der ersten Stunde, der auch am legendären Langen Marsch beteiligt gewesen war, zwei Mal fallen. Deng, ein wissenschaftsgläubiger Technokrat und Kopfmensch, kehrte immer wieder zurück – und entwickelte ein Ziel: die Volksrepublik zu stabilisieren und wirtschaftlich erfolgreich zu machen. Thomas Heberer, Professor für die Politik Ostasiens an der Universität Duisburg-Essen:

    "Er wurde ja entmachtet, er wurde ja als Chruschtschow Nummer 2 beschimpft und in eine Fabrik geschickt zur körperlichen Arbeit und ich glaube diese Kulturrevolution, die persönlichen Folgen für ihn und für seinen Sohn, einer seiner Söhne ist ja aus dem Fenster der Peking-Universität geworfen worden, ist behindert, das hat bei ihm auch ein Umdenken bewirkt und dazu geführt, dass er sagt, die einzige Möglichkeit, China überhaupt nach vorn zu bringen und der kommunistischen Partei ein gewisses Maß an Legitimität gewährleisten zu können, ist ein umfassender Reformprozess ohne Veränderung des politischen Systems."

    Die ökonomische Ausgangslage kurz vor dem Tode Maos war dabei desaströs, sagt Thomas Heberer:

    "Es gab praktisch kein Wachstum mehr, vor allem in der Landwirtschaft, was bedeutet hätte, dass das in der längeren Sicht das zu einer Hungersnot hätte führen können."

    "Als Mao 1976 starb, gab es genug Menschen, die erkannt hatten: wir sind einen falschen Weg gegangen, wir haben viele Fehler gemacht."

    Ezra Vogel, Biograf von Deng Xiaoping.

    "Deng war von 69 bis 73 aufs Land geschickt worden. Ähnlich wie andere große Männer - Churchill, Lincoln und De Gaulle, die auf hohen Posten gewesen waren und für eine Weile in die Wildnis gehen mussten - hatte er die Chance zu überdenken, was passieren würde. Und ich glaube, Dengs Zeit von 69 bis 73 ließ ihn darüber nachdenken, ob sein Platz ein falscher gewesen war. Während Mao noch lebte, gab es keine andere Wahl als Mao zu folgen. Man konnte nicht überleben, wenn man Mao kritisierte. Aber nachdem Mao gestorben war, gab es viele, die sich nach einem neuen Weg umsahen und ich glaube, China hatte Glück, als 1978 Deng zur Macht kam."

    Die Reformen vollzogen sich in kleinen Schritten und mit lokal begrenzten Experimenten. Nachdem sich gezeigt hatte, dass Bauern ohne staatliche Einmischung die besten Erträge erzielten, überließ Deng ihnen wieder die Verantwortung für die Landwirtschaft. Sonderwirtschaftszonen lockten ausländische Investoren an und brachten westliche Hochtechnologie ins Land. Vom Ausland lernen ohne die eigene Kultur und das eigene System aufzugeben, hieß die Devise - oder im berühmtesten Ausspruch Dengs:

    "Eine Katze soll Mäuse fangen, ganz gleich, ob sie schwarz oder weiß ist."

    Bei all diesem Pragmatismus galt es allerdings, vier Grundprinzipien aufrecht zu erhalten:

    "Wir halten fest am sozialistischen Weg, wir halten fest an der Diktatur des Proletariats, wir halten fest an der Führung durch die Kommunistische Partei und wir halten fest am Marxismus/Leninismus und den Ideen Mao Zedongs."

    Die Wirtschaft in den Städten und die Industrie wurden erst Mitte der 80er-Jahre nach und nach reformiert und entstaatlicht. Doch zeigte sich bald, dass der ökonomische Aufschwung soziale Verwerfungen nach sich zog. Die Freigabe der Preise, die bis dahin vom Staat festgesetzt worden waren, führte unter anderem dazu, dass die Studentenproteste am Platz des Himmlischen Friedens einen großen Rückhalt in der Bevölkerung fanden, bis sie blutig beseitigt wurden – auf Befehl von Deng Xiaoping.

    Für China-Kenner und Deng-Biograf Ezra Vogel ein folgerichtiges Vorgehen.

    "Deng dachte nicht in Kategorien von individuellen Rechten oder Menschenrechten. Sondern er glaubte an eine übergeordnete soziale Ordnung. Das Beste für eine Mehrheit konnte nur durch diese Ordnung hergestellt werden, und wenn dabei Menschen auf der Straße getötet werden mussten."

    Zeigte das Massaker am Tiananmen-Platz jedoch nicht auch, dass ein wirtschaftlicher Wandel einen politischen Wandel hin zu mehr Demokratie fast folgerichtig nach sich ziehen müsste? Nein, meint Ezra Vogel und stellt in seinem Buch fest, dass nach dem Massaker eine stabile Phase der wirtschaftlichen Prosperität begonnen habe. Und der deutsche Politikwissenschaftler Thomas Heberer sagt, dass die Angst vor einem politischen Chaos in der Bevölkerung größer sei als der Wunsch nach einem Systemwechsel. Die kommunistische Partei, für die Marxismus-Leninismus längst zweitrangig geworden sei, besitze deshalb einen großen Rückhalt und eine hohe Autorität – vor allem, weil es einer Mehrheit der Bevölkerung wirtschaftlich so gut gehe wie nie zuvor.

    "Große Teile der Mittelschicht und selber auch von Parteifunktionären sind der Meinung, dass der Staat gegenwärtig nicht hart genug sei, sondern zu viel durchgehen lässt, sowohl gegenüber dem Ausland, vor allem den Vereinigten Staaten, als auch gegenüber dem Inland. Und wenn Sie im Internet die Diskussion verfolgen, können Sie feststellen, dass es einen sehr großen Internetnationalismus gibt, Kräfte, die ein sehr viel härteres Vorgehen gegenüber dem Ausland fordern bis hin zu Aufrufen: Wir können uns auch einem Krieg gegen die Amerikaner leisten, gibt, das heißt, den Weg, den die jetzige politische Führung zu gehen versucht, ist ein Mittelweg zwischen zwei extremen Formen, nämlich der einen Form, die auf absolute Demokratisierung hofft und auch ein Konzept vorgelegt hat, wie Liu Xiaobo mit der Charta 2008, und das andere: ein sehr nationalistisch geprägtes System, das auf einer hohen Basis von Autoritarismus und vielleicht von eine extrem charismatischen Persönlichkeit wie wieder Mao basieren könnte oder soll. Also von daher ist es ein schmaler Grad und man muss nicht glauben, dass ein Änderungsprozess in China automatisch bedeutet ein Wandel zur Demokratie. Es kann auch in ein noch viel autoritäreres System führen."

    Thomas Heberer bezeichnet das Land der Mitte als einen Entwicklungsstaat: ein autoritäres Staatssystem, das eine Modernisierung von oben nach unten durchsetzt. China sei damit am ehesten vergleichbar mit Staaten wie Japan vor dem Zweiten Weltkrieg, mit Taiwan, Südkorea oder Singapur. Die Vorstellung, das von nur einer Partei regierte Riesenland China sei wirtschaftlich wesentlich beweglicher als westliche Staaten, sei allerdings nur eingeschränkt richtig.

    "Das sieht von außen betrachtet so aus. Man kann das bei Großprojekten im nationalen Maßstab sicher auch gewährleisten, bei Bahn, Autobahntrassen oder bei Schienentrassen, aber auf der lokalen Ebene ist das nicht so einfach. Ich hab jetzt gerade wieder einen Bericht in der größten chinesischen Tageszeitung gelesen, wo ein Bauer seit fünf Jahren versucht, sein Recht zu bekommen und die zentrale Ebene hat gesagt: Du hast Recht und die Provinzregierung hat gesagt: Du hast Recht und der Landkreis setzt das einfach nicht um, obwohl er sich dazu verpflichtet hat und der Bauer kriegt sein Land nicht zurück, obwohl es ihm zusteht. Es ist nicht mehr so einfach, dass man alles von Peking bis in den letzten Landkreis von oben nach unten durchsetzen kann. Dazu hat sich ein zu großer Pluralismus entwickelt und die Menschen lassen sich überdies nicht mehr alles gefallen. Man kann das einfach nicht mehr so organisieren, wie das noch in der Mao-Ära oder vielleicht noch in den 80er Jahren der Fall gewesen ist. Vor allem jüngere Leute und besser Gebildete sind sehr viel selbstbewusster geworden und wenn sie das Gefühl haben, der Staat versucht ihre Rechte zu beschneiden, dann setzen sie sich auch dagegen zur Wehr."

    Wohlstand, Stärke nach außen und Stabilität nach innen – das sind die Maßgaben, nach denen China heute regiert wird. Und das wird sich auch die internationale Staatengemeinschaft merken müssen, denn Konflikte sind damit fast folgerichtig vorprogrammiert. David Zweig, Sozialwissenschaftler am Zentrum für Chinas transnationale Beziehungen in Hongkong:

    "Das Hauptziel chinesischer Außenpolitik ist, die heimische Wirtschaft abzusichern. Auch in den kommenden 20 oder 30 Jahren wird das ihre Schlüsselfunktion sein. Sie soll Wirtschaftswachstum ermöglichen, den Lebensstandard erhöhen und so die Kommunistische Partei an der Macht halten. Und sie soll alles tun, was dafür nötig ist: Energiequellen finden, Rohstoffe liefern, Handelsbedingungen verbessern. Es geht also darum, die Wirtschaft so gut am Laufen zu halten, dass in China Stabilität gewährleistet ist."

    Mit China muss also so oder so gerechnet werden. Deng Xiaoping, das macht auch Ezra Vogels monumentale Biografie deutlich, hat China mehr geprägt als Mao Zedong. Längst spricht Staatschef Hu Jintao nicht mehr von Kommunismus und Klassenkampf, sondern von der "Harmonischen Gesellschaft". Doch damit diese Harmonie gewahrt bleibt, ist es für die kommunistische Partei Chinas unabdingbar, die Wirtschaft auf Erfolgskurs zu halten. Ob und wie das gelingen kann, zumal vor dem Hintergrund der großen Umweltprobleme des Landes, ist offen. Noch einmal Thomas Heberer, Professor für Politik Ostasiens an der Universität Duisburg-Essen:

    "Habermas hat ja mal gesagt, dass jeder Modernisierungsprozess auch eine Herausforderung der Moderne mit sich bringt und genau das spielt sich in China gerade ab."