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Wie die ersten Schritte durch Westberlin

Aufgewachsen in Ost-Berlin, Tochter eines jüdischen Kommunisten und einer sibirischen Germanistin: In Irina Liebmanns Leben war die Sowjetunion allgegenwärtig. Ein Vierteljahrhundert nach ihrem letzten Besuch hat sie nun das neue Russland entdeckt und darüber ein sensibles, emotionales Buch geschrieben.

Von Karla Hielscher | 08.07.2013
    "Ich bin einmal ein sowjetisches Kind gewesen", schreibt die Autorin. Und natürlich muss der Leser wissen, dass Irina Liebmann als Tochter eines jüdischen Kommunisten und einer aus Sibirien stammenden Russin 1943 in Moskau geboren wurde. Über ihren Vater Rudolf Herrnstadt, der in Ostberlin Parteikarriere machte und Chefredakteur des "Neuen Deutschland" war, bis er wegen seiner Kritik an Ulbrichts Politik aus dem öffentlichen Leben verschwand, hat Irina Liebmann eines ihrer spannenden Bücher verfasst.

    Ihre Erinnerung ist geprägt von der Kindheit in der DDR, wo die Weltmacht Sowjetunion als "erster sozialistischer Staat der Erde" und "Garant des Friedens" gefeiert wurde, als "ihre Losungen, ihre Führer, ihre Raketen, ihre Filme und Sportler in aller Munde waren". Zugleich aber auch von den Bildern sowjetischer Bahnhöfe "schwarz von Menschen, die überall saßen, lagen, schliefen, manche mit leeren Augenhöhlen oder Beinstümpfen, an die ein Holzstiel gebunden war, und so viele in Lumpen." 1983 ist sie das letzte Mal in der Sowjetunion gewesen und wollte danach nie wieder dorthin.

    Ein Vierteljahrhundert nach der Perestroika, vier Monate nach dem Tod ihrer Mutter will die Autorin, die nur die Sowjetunion kannte, endlich nun auch Russland kennenlernen. Sie "wollte wissen, wie das gehen kann: Gestern noch Kommunismus aufbauen, zu jedem "Genosse" sagen und heute ist nichts davon wahr."

    Irina Liebmanns "Erzählung" – so bezeichnet sie ihren Text – ist also alles andere als eine objektive Reisereportage oder ein politisches Sachbuch. Obwohl sie als politischer Mensch schreibt, ist das Buch eine sehr subjektive, emotionale, vorsichtig tastende Annäherung an ein fremdes, unverständliches Land. Sie fühlt sich "wie damals, als ich aus Ostberlin kommend zum ersten Mal im Leben meine Schritte auf Westberliner Straßenpflaster setzte."

    Auf drei ganz privaten Reisen hat sie genau hingesehen, beobachtet und unablässig Fragen gestellt. "Was war hier Russland? Was die Sowjetunion?" Der Text ist ein ständiger Dialog in Gesprächen mit Freunden und Zufallsbekanntschaften, aber auch ein prüfendes Zwiegespräch mit sich selbst.

    Hinreißende Schönheit
    Mit großer Treffsicherheit und Konkretheit beschreibt sie ihre widersprüchlichen Wahrnehmungen und Gefühle: zum Beispiel die typischen abweisenden Eingänge eines schäbigen, verwahrlosten Wohnblocks mit verrosteten Balkons, ohne Klinke, ohne Klingel, nur ein Viereck mit Nummern, auch drinnen an den Türen keine Namen, nur Zahlen. Da ist man darauf angewiesen, dass ein Mensch kommt, ein warmer, lachender Mensch mit ausgebreiteten Armen und einen in Empfang nimmt. So war das in Sowjetzeiten und so ist es heute, nur dass man jetzt einen Zahlencode drücken muss, damit es irgendwo klingelt und ein Summer ertönt.

    Es sind ihre Familiengeschichte und Kindheitserfahrungen, die dem Erlebten und Gesehenen seine historische Tiefendimension geben.

    Auf dem ersten Spaziergang – hingerissen von der Schönheit der alten Stadtanlagen rund um den Kreml – wird ihr, als sie das Gebäude des Haupttelegrafenamtes sieht, aufgewühlt bewusst, dass hier auch ihr Vater, für den Moskau einst das "Zentrum der Weltrevolution" gewesen war, in einer der endlosen Warteschlangen gestanden und ein Telegramm aufgegeben hatte: Tochter geboren.

    Es sind die langen Feiertage vom 1. bis 9. Mai, dem Tag der Siegesfeier mit seiner "frenetischen Nostalgie", die sie in Moskau verbringt. Die unauslöschlichen Maifeiertage ihrer Kindheit mit der dröhnenden Marschmusik und der erzwungenen und trotzdem irgendwie fröhlichen Demonstration – längst vergessen, abgesagt. Und die Enkel und Urenkel der festlich schreitenden "lachenden Völker der Sowjetunion" - Kirgisen, Kasachen, Uiguren – kauern jetzt als illegale Ausländer am Straßenrand. Im Fernsehen ständig alte sowjetische Kriegsfilme, Estradenkonzerte, Filme über Komsomolzen, die vom Kommunismus träumen, und dann gleich wieder OBI und VANISH und die Börsennachrichten.

    Ikonen und Freunde
    Auf der zweiten Reise sucht sie das Land ihrer Mutter im winterlich verzauberten tatarischen Kasan an der Wolga. Es ist die berühmte Ikone der Gottesmutter von Kasan, die Hauptikone Russlands, die sie dorthin zieht. Für einen Euro hatte sie in Moskau das Bildchen gekauft, und nun steht sie im ehemaligen Kloster der Bogorodiza, der Gottesgebärerin, tief bewegt vor dem Original. Was hätte ihre Mutter, die kämpferische Atheistin, wohl dazu gesagt, dass ihre Tochter wegen einer Ikone nach Kasan gefahren ist?

    Zurück in Moskau packt sie das Grauen, als ihre Zimmerwirtin Tamara, mit der sie über den Mord an der Zarenfamilie spricht, mit flammendem Blick ausruft: "Es waren die Juden!" und sie dann in den Buchhandlungen auf so viel antisemitischen "gedruckten Hass" stößt. An die Stelle des Fortschrittsglaubens ist bei vielen ein schwarzes Loch getreten, gefüllt mit Wundern und verschwörerischen Geschichtsmythen.

    Auf der dritten Reise verbringt sie einen Sommer auf der Datscha ihrer Freundin Marina. Da lebt sie ein paar Wochen lang den ganz privaten Alltag der Familie mitsamt Kindern, Enkeln und Nachbarn mit. Sie alle scheren sich überhaupt nicht um Politik und sind allein mit den naheliegenden Problemen beschäftigt: dem 14-jährigen Enkel Sascha mit seinem Motorrad, der nachts nicht nachhause kommt, den teuren Augentabletten, die man Marina aufgeschwatzt hat, dem geplanten winterfesten Haus für die Familie der Tochter, für dessen Bau man das Grundstück teilen wird. Und am Morgen gibt es den einzigartigen russischen Quark mit Himbeeren, und die Nachbarin bringt eine Schüssel selbst gezogene Gurken vorbei.

    "Das wollte ich Dir zeigen. Unser Leben hier", sagt die Freundin Marina.

    Ein gültige Antwort auf die Frage, was denn Russland heute nun ist, gibt das Erzählte nicht. Aber in seinem spontanen, unvoreingenommenen Herangehen und seiner sensiblen Aufrichtigkeit ist dies ein außerordentlich lesenswertes Buch für alle, denen Russland und seine Menschen am Herzen liegen.

    Irina Liebmann: Drei Schritte nach Russland.
    Erzählung, Berlin Verlag 2013, 200 Seiten, 16,99 Euro.