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Wie ein gemütlicher alter Sessel

Es gibt Romane, in die man sich fallenlassen kann wie in einen gemütlichen Sessel. Und am besten tut man das auch in einem gemütlichen Sessel. Nach zwei, drei Stunden steht wieder man auf, man streckt sich und wendet sich anderen Dingen zu. "Diese alte Sehnsucht” von Richard Russo ist ein solcher Roman.

Ein Beitrag von Sacha Verna | 30.11.2010
    Der 61-Jährige Autor gilt als Chronist der amerikanischen Mittelschicht. Sein geografisches Spezialgebiet ist das im Nordosten der USA gelegene Neuengland mit seinen kleinen Ortschaften, von denen manche schon bessere Tage gesehen haben. Sein thematisches Spezialgebiet ist die Befindlichkeit von Männern, die meisten ebenfalls schon bessere Tage gesehen haben. Einer von Russos bisher sieben Romanen, "Nobody's Fool” wurde erfolgreich mit Paul Newman verfilmt. Für einen anderen, "Empire Falls” erhielt der Schriftsteller 2002 den Pulitzer Preis. Kleinstädtische Männerbefindlichkeit scheint also durchaus ihren Reiz zu haben.
    Der Protagonist von "Diese alte Sehnsucht” heißt Jack Griffin. Er ist Ende fünfzig und hat seine mäßig erfolgreiche Karriere als Drehbuchschreiber in Los Angeles gegen die eines Collegeprofessors in Connecticut eingetauscht. Griffin hat eine nette Frau und eine nette Tochter und ein Problem mit seinen Eltern. Sein Vater ist zwar bereits tot, und seine Mutter stirbt im Lauf des Romans, doch lassen die beiden ihrem Sprössling keinen Frieden. Die zwei waren Akademiker, die sich zu Hohem berufen fühlten, nur zu Minderem gelangten und dafür die Menschheit an sich verantwortlich machten. Griffin hat sich geschworen, nie so zu werden wie sie und muss sich widerwillig eingestehen, dass er längst so geworden ist wie sie.

    Das Buch schildert die Geschehnisse eines Jahres und ist in zwei Teile geteilt. Teil eins beginnt wie Teil zwei mit einer Hochzeit. Dazwischen geht Griffins Ehe und erst recht seine Seele in die Brüche. Richard Russo versetzt den Leser in Griffins Kopf. Dort drin mischen sich Selbstzerfleischung und Selbstmitleid, Erinnerungen und düstere Spekulationen über die Zukunft. Paradoxerweise ist ein Spaziergang durch Griffins innere Wüstenlandschaft eine höchst vergnügliche Angelegenheit. Denn Russo inszeniert die Daseinskrise seines Helden in all ihrer prächtigen Ironie. Natürlich verlangt das Protokoll nach allerlei späten Einsichten, nach einem nostalgischen Grundton und zumindest nach dem Anschein von Tiefsinn. Und man findet in diesem Roman durchaus die eine oder andere Banalität über den wahren Wert des Familienlebens und besonders über den Triumph des Familien Überlebens. Doch findet man eben auch Details von greller Symbolträchtigkeit und ziemlicher Komik. So den Umstand, dass Griffin monatelang mit mindestens einer Urne im Kofferraum herumkutschiert, weil sich der richtige Augenblick zum Verstreuen von Mamas und Papas Asche einfach nicht einstellt. Selbst vor Slapstickeinlagen schreckt Russo nicht zurück. Die zweite Hochzeit, die von Griffins Tochter, erweist sich in einem Probelauf als einziges Desaster mit der Folge, dass am großen Tag ein statistisch unwahrscheinlich hoher Prozentsatz der Gäste Pflaster und Verbände trägt.

    "Diese alte Sehnsucht” ist ein amüsantes Kammerstück, erzählt in gefälliger und unangestrengter Prosa. Die Dialoge sind Hollywood-reif und und eben deshalb witzig. Der literarische Anspruch ist da, doch kommt nichts und niemand dabei zu Schaden. Man mag dem Autor eine gewisse Oberflächlichkeit und zu viel Routine vorwerfen. Aber wen stört schon der abgeschabte Überzug und das durchgesessene Polster eines gemütlichen Sessels – wenn man sich in ihn fallen lassen und sich darin entspannen kann.

    Richard Russo: Diese alte Sehnsucht. Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Dumont Verlag, Köln 2010. 350 Seiten. 19.95 Euro/33.50 Franken.