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Wie ein Tintenfleck auf einem Löschblatt

Emmanuelle Pagano, 1969 in Südfrankreich geboren, lebt seit Jahren in der Ardèche,wo sie Bildende Kunst unterrichtet. In ihren erdschweren Geschichten aus der Provinz zeigt sie nicht, wie in der Literatur sonst üblich, das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen, sondern umgekehrt. Geheimnisvoll und rätselhaft ist auch ihr drittes auf Deutsch erschienenes Buch "Bübische Hände", das von den Verletzungen und Versehrungen des Frauenkörpers erzählt.

Von Peter Urban-Halle | 06.09.2011
    Emmanuelle Pagano macht es ihren Lesern nicht leicht. Sie schreibt Rätseltexte, deren Geheimnisse erst sehr allmählich und nach gewisser detektivischer Anstrengung gelüftet werden. Pagano, die selbst drei Kinder hat, schreibt weibliche & leibliche Texte, in allen beschwört sie die Mühen der Geburt und die Verwundungen des weiblichen Körpers. Sie erzählt erdschwere Geschichten aus der Provinz, normalerweise der Gegend des wilden Flusses Ardèche, wo Pagano zu Hause ist. Ihre Heldinnen – die wirklich Heldinnen sind! – kommen aus den einfachsten Schichten der Bevölkerung. Doch sind es keine Klagebücher im wörtlichen Sinn, davor bewahrt sie der stilistisch reine und einfache, aber machtvolle, respekteinflößende Ton. In ihrem letzten, noch nicht übersetzten Buch "L'absence d'oiseaux d'eau" steht: "Ich will nicht schreiben mit einer Blume im Haar, ich möchte schreiben, wie man in ein Stück Fleisch beißt." Damit ist ihr Stil in einem Satz charakterisiert. Ihre Texte scheinen von einem Naturtalent zu stammen. Man hat wirklich den Eindruck, dass die Autorin sich ihrer Begabung und Macht gar nicht bewusst ist, es gibt bei ihr nichts Selbstgefälliges oder Manieriertes.

    Stilistisch gilt dies auch für ihr neues Buch, das dritte auf Deutsch. Aber in den beiden ersten Büchern erzählte sie noch eine Geschichte, diesmal spricht sie in Rätseln. Erst sehr langsam glaubt man die Beziehungen zwischen den Figuren zu durchschauen, aber ganz sicher darf man sich nicht sein. Drei Frauen und ein Mädchen sprechen: die Gattin eines Winzers, eine ältere Dame mit zwei Söhnen, eine pensionierte Lehrerin und schließlich das Mädchen, zehn Jahre alt, die Enkelin der alten Dame. Der Roman hat also vier Teile, die unverbunden aufeinander folgen. Zuerst spricht die Frau des reichen Winzers, sie ist kinderlos, verachtet von ihrem Mann, sie fühlt sich unnütz, sie verachtet sich schon selbst und beneidet ihre Putzfrau, die ihre Gedanken in ein Heft einträgt; bei Pagano denken oft diejenigen am meisten nach, denen man es gar nicht zutraut. Das Heft dieser Putzfrau, irgendwo fällt der Name Emma, ist nicht eigentlich ein Tagebuch, sondern ein Buch der Reflexionen: Texte, die schwer zu verstehen und schwer zu verdauen sind.

    "Lasuren, Kiesel, Feldwege, eine eigene Welt, eine vollständige Welt in ihrem Heft. Schmale Wege, eher schon Pfade, die schlecht rochen, nach schlechter Erinnerung rochen. Streichungen und Korrekturen und eine Sprache, eine Grammatik, die bei jedem Satz neu erfunden wurde, um von bedrängenden Händen zu reden, von bübischen Händen, und einem Geschlecht mit zugenähten Schamlippen, dem Geschlecht eines noch ganz jungen Mädchens, mit Dornen gespickt …"

    Es hat da etwas gegeben: Vor etwa dreißig Jahren, als die Putzfrau noch zur Schule ging, wurde sie befummelt und betatscht von diesen "bübischen Händen", "les mains gamines", wie es auf Französisch heißt, offenbar regelmäßig wurde dieses Mädchen in der großen Pause von ihren Mitschülern unsittlich berührt. Später spricht ihre alte Lehrerin, die jetzt von Emma gepflegt wird. Die Lehrerin hat nicht verhindert, was da auf dem Schulhof vor sich ging. Der sich lange wiederholende Vorfall ist die Keimzelle der Geschichte und die Erbsünde des Ortes, nie gesühnt, ewige Schuld. Er scheint sich wie ein Spinnennetz auf die lokale Gesellschaft zu legen. Der Mann der ersten und die beiden Söhne der zweiten Frau gehörten zu den damaligen Peinigern der jetzigen Putzfrau. Ja, noch eine Generation später hat der Vorfall Auswirkungen. Denn die erste Blutung des Mädchens, das am Schluss zu Wort kommt, ist ein Ereignis, das fast an eine Vergewaltigung erinnert. Die Großmutter des Mädchens wiederum, die mit den zwei Söhnen, hatte eine schwere Geburt und wurde bei der folgenden Operation verstümmelt. Die Verwundungen und Versehrungen des Frauenkörpers sind in allen Büchern Paganos präsent, aber in diesem Buch überlagern sie alles, sie sind im wahrsten Sinne eine Zumutung, intellektuell und moralisch.

    Nein, Emmanuelle Pagano macht es uns nicht leicht. Und weil unsere ganze Aufmerksamkeit verlangt wird, um die vertrackten und unappetitlichen Beziehungen dieser Leute zu erkennen, übersehen wir leicht ihre poetischen Naturbeschreibungen, ihren Blick für die "violette Mikrofärbung und aller äußeren Dinge bei Sonnenaufgang", ihre überraschende Aneinanderreihung von Landschaften, die weit voneinander entfernt liegen und doch miteinander verbunden sind. So wie hier:

    "Nicht die Seekiefern überbringen das Meer. Sondern die Kastanien. Das Meer ist in der Bewegung unserer Bäume, es ist im Wind, der die langen goldenen Kätzchen zerstreut, jene Gischt, die bebend die Zweigspitzen ziert. Nicht im Vormarsch der Kiefern. Nicht in den Weinstöcken, und auch nicht im Strand hinter den Hügeln, die nach den Hügeln am Fuß unserer Berge kommen. Es ist im Knarren der Borken."

    Pagano ist eine der interessantesten Autorinnen Frankreichs, kein Zweifel. Aber hier hat sie sich verhoben. Das Buch wimmelt von Andeutungen, dunklen Rätseln, Nichtgesagtem, es wird zu einem einzigen Geheimnissumpf, ja, das Leben höchst unterschiedlicher Figuren wird eingeebnet, da es nur noch unter der einen Perspektive der vererbten Schuld betrachtet wird, die sich vergrößert wie ein Tintenfleck auf einem Löschblatt. Kein Wunder, dass sich auch die vier Monologe kaum voneinander unterscheiden. Fast hat man den Eindruck, Emmanuelle Pagano habe dies Buch vor allem für sich geschrieben, habe eine persönliche, eigentlich private Phantasie, ja, wer weiß: vielleicht sogar ein privates Erlebnis verarbeitet.

    Emmanuelle Pagano: Bübische Hände
    Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger
    Verlag Klaus Wagenbach
    140 Seiten, 16,90 Euro