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Wie gut ist Vielfalt?
Vom fragwürdigen Wettbewerb der Krankenkassen

Seit Jahren müssen die Versicherten mehr Geld für ihre Gesundheit bezahlen. Die Kassen schieben das auf gestiegene Kosten im Gesundheitswesen. Doch ist das allein der Grund? Ein gemeinsamer Schwerpunkt von Deutschlandfunk und ZDFzoom zeigt die versteckten Folgen des Wettbewerbs in der Krankenversicherung.

Von Ina Rottscheidt | 09.08.2017
    Globuli, homöopathische Kügelchen auf einem Tisch, dahinter eine Fläschchen und Kräuterblätter.
    Der Kassenwettbewerb fokussiert sich auf auf zwei Bereiche: die Höhe des Zusatzbeitrages und auf Zusatzleistungen wie Yoga oder Homöopathie (imago /Christian Ohde)
    Der Wettbewerb der Krankenkassen in Deutschland wird intensiver. 113 Gesetzliche Krankenversicherungen kämpfen um 220 Milliarden Euro aus dem Gesundheitsfonds. Nach Recherchen von ZDFzoom und dem Deutschlandfunk bedienen sie sich dabei auch fragwürdiger Praktiken.
    Ziel der Politik ist eigentlich, dass der Wettbewerb zu einer höheren Effektivität und besseren Versorgung bei den Kassen führen soll. Doch Statistiken belegen: Bei den gesetzlichen Krankenversicherungen steigen auch die Kosten für Werbung, Marketing und Verwaltung in den vergangenen Jahren kontinuierlich an. Die Autoren Ina Rottscheidt (Deutschlandfunk) und Sebastian Ehm (ZDF) zeigen, welche Folgen der Wettbewerb in der Gesetzlichen Krankenversicherung für die Versicherten hat und fragen, ob das noch der richtige Weg ist, eine gute Versorgung aufrecht zu erhalten.
    95 Prozent der Leistungen sind gesetzlich festgelegt und folglich für alle Kassen gleich. Deswegen fokussiert sich der Kassenwettbewerb auf zwei Bereiche: die Höhe des Zusatzbeitrages und auf Zusatzleistungen wie Yoga, Homöopathie und Reiseimpfungen. Experten kritisieren viele der angebotenen Zusatzleistungen. Sie sehen dies als geschickte Werbemaßnahme einzelner Kassen an, um gesunde Versicherte für sich zu gewinnen und die Risiken anderen Kassen zu überlassen. Doch ist ein Wettbewerb, der sich um die Höhe des Zusatzbeitrages und attraktive Zusatzleistungen dreht, sinnvoll in einem solidarischen Gesundheitssystem? Dazu meint Gesundheitsminister Hermann Gröhe im Interview mit dem Deutschlandfunk und ZDFzoom: "Unser System ist ein solidarisches Gesundheitssystem, keineswegs ein reines Wettbewerbssystem, aber Wettbewerbselemente, etwa im Hinblick auf eine wirtschaftlich günstige Leistungserbringung, können die nachhaltige Finanzierbarkeit und damit auch die Qualität unterstützen."
    Gesundheitsexperten sagen, dass sich das System seit Jahren aufbläht und keine langfristigen Anreize setze, die Gesundheit der Versicherten zu verbessern. Das Geld im System der GKV werde nicht für ein sinnvolles Ziel eingesetzt, sondern für einen Wettbewerb ausgegeben, der letztlich auf Kosten der Versicherten geht.
    Wettbewerb der Krankenkassen? - eine Kooperation von ZDFzoom und Deutschlandfunk

    9. August

    DLF Hintergrund / 18:40 Uhr
    Wie gut ist Vielfalt?
    Vom fragwürdigen Wettbewerb der Krankenkassen

    ZDFzoom / ab 18:00 Uhr als Video online / 23:45 Uhr on Air
    Teuer, unsinnig, patientenfeindlich?
    Wie die Kassen unser Geld verschwenden

    Manuskript zur Sendung
    Tobias Baukmann hat seine Studentenbude im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses in Aachen. Zur Not könnte er auch mit dem Aufzug fahren, wenn ihn sein Knie schmerzt, und das tut es häufig. Doch die eine Etage - das will er dann doch nicht. Aber bei jedem Schritt muss er aufpassen.
    "Der rechte Fuß muss locker auftreten, also ohne große Belastung. Kein Springen oder irgendetwas schnell runterlaufen, auch nicht hochlaufen."
    Gar nicht einfach für den 26-Jährigen, der immer viel Sport gemacht hat. Bis er sich vor sechs Jahren beim Fußball verletzte.
    "Es war kein großer Unfall, sondern ich habe einfach das Knie verdreht, das Kreuzband ist gerissen, und sobald das Kreuzband reißt, dreht das Knie noch weiter, und dann reißt der Meniskus. Und der Meniskus konnte nicht mehr gerettet werden, und dann wurde versucht, einen künstlichen Meniskus einsetzen, was fehlgeschlagen ist."
    Bei zahlreichen Ärzten und Spezialisten war Tobias Baukmann seitdem. Die einhellige Diagnose: Der Meniskus, der wie ein Stoßdämpfer im Knie wirkt, ist bei ihm kaputt - ihm kann nur noch eine Transplantation helfen.
    Meniskus-Transplantation: Die DAK will nicht zahlen
    Aber in Deutschland operieren so etwas nur wenige Kliniken, und die Wartezeiten sind lang. Mehrere Jahre hat sich Tobias Baukmann daher um eine OP im Ausland bemüht - die wollte seine Kasse jedoch nicht zahlen. Jetzt, im Sommer 2017, hat er endlich die Zusage von einer deutschen Klinik, doch die DAK zögerte dennoch.
    "Ich war vor Gericht, und die Vertreterin der Krankenkasse sagte mir: 'Sie könnten sich operieren lassen in Deutschland, und wir würden dann mit dem Krankenhaus über die Kosten streiten.' Das macht natürlich kein Krankenhaus. Kein Krankenhaus lässt sich darauf ein, ein Risiko einzugehen, dass die die die Kosten nicht wiederbekommen."
    Tobias Baukmann erzählt von einem Jahre langen Streit mit seiner Krankenkasse, auf Gutachten folgten Gegengutachten, in denen seine Kasse unter anderem den medizinischen Nutzen einer solchen Transplantation bezweifelte.
    "Sie haben Bilder von mir gesehen, Aufnahmen, aber mich persönlich hat noch keiner gesehen."
    Er klickt Dokumente auf seinem Computer an: Zahlreiche Briefwechsel mit der Krankenkasse. Was den 26-Jährigen besonders ärgert: Keiner der Krankenkassen-Gutachter hat ihn jemals persönlich untersucht.
    "Man merkt, ok, der Herr hat nur das rausgelesen, was er rauslesen möchte. Es entspricht nicht der Wahrheit, was geschrieben steht. Und wenn man dann dieses Gutachten dann widerlegt durch einen anderen Arzt, jemanden, der mich sieht und der mich kennt und weiß, was mit meinem Knie los ist, und dann kommt trotzdem wieder ein neues Gutachten, das sich wieder nur auf das alte bezieht, wo wieder einfach alles aufgelistet wird, was eigentlich schon widerlegt worden ist. Dann macht einen das wirklich wütend."
    Ein menschliches Kniegelenk mit Kreuzbandriss auf einem MRT-Schnittbild
    Kreuzbandriss, dann ein gerissener Meniskus - doch die DAK will die erforderliche OP nicht zahlen. (imago/blickwinkel)
    Schon heute kann Tobias kaum mehr als eine Viertelstunde am Stück laufen. Wenn jetzt nichts passiert, braucht der 26-Jährige schon bald ein künstliches Knie, sagt seine Orthopädin Meike Hutzenlaub.
    "Wenn der Knorpel dauerhaft im Knie geschädigt wird, entsteht das, was wir eigentlich beim alten Menschen kennen, eine Arthrose, nämlich ein Kniegelenksverschleiß, der wird uns alle irgendwann heimsuchen, nur wäre es natürlich schön, wenn das erst mit achtzig plus passiert, und nicht mit vierzig. Man weiß aber leider, wenn Menschen sehr früh einen Kniegelenkschaden erleiden, und da Meniskus und infolgedessen auch der Knorpel kaputt gehen, wird dieser Verschleiß viel viel früher eintreten und dann seine Folgeursachen machen."
    Rund 15.000 Euro würde die Meniskustransplantation kosten. Die Gutachten, ein künstliches Knie und die zahlreichen Begleittherapien würden am Ende deutlich mehr Kosten verursachen, davon ist die Ärztin überzeugt. Und die Zeit drängt.
    "Letztendlich, wenn sich das Knie noch weiter verschlechtert, wir einen Knorpelschaden bekommen, dann werden wir irgendwann auch Gutachter haben - oder auch berechtigterweise sagen: Wir haben jetzt nicht mehr die optimalen Befunde und es ist nicht mehr sinnvoll. Und da haben die Krankenkassen den längeren Atem."
    Spielt die Kasse auf Zeit? So lange, bis eine OP nicht mehr möglich ist? Bei der DAK bestreitet man das. Einen Tag vor dieser Sendung kündigt eine Sprecherin auf Nachfrage des Deutschlandfunks an, dass man sich jetzt entschlossen habe, mit Tobias Baukmann eine gütliche Einigung anzustreben.
    Zermürbungs-Taktik gegenüber den Patienten?
    Von so langen Auseinandersetzungen, wo es doch eigentlich um die Gesundheit der Patienten gehen sollte, berichten viele Beratungseinrichtungen. Anträge, die erst einmal abgelehnt werden, Diagnosen nach Aktenlage, langwierige Verfahren: Steckt eine Strategie dahinter? Werden Versicherte abgewimmelt, in der Hoffnung, dass sie irgendwann entnervt aufgeben? Diesen Eindruck haben viele Patienten - und auch viele Berater. Jens Kaffenberger ist Bundesgeschäftsführer beim Sozialverband VdK.
    "Wir beobachten das in der Beratung durchaus häufiger, Problembereiche sind das Krankengeld, dass die Krankenkassen oder der medizinische Dienst feststellen, der Mensch ist nicht mehr krank, obwohl der Arzt sie krankgeschrieben hat, dass Druck gemacht wird bei den Versicherten. Aber Problembereiche sind auch Reha-Maßnahmen, dass da die Krankenkasse sagt, der Bedarf ist nicht gegeben, oder Sie sind nicht reha-fähig, und dann werden Rehabilitationsmaßnahmen und Kuren abgelehnt."
    Für ihn vor allem eine Frage des Kostendrucks, unter dem Krankenkassen stehen.
    "Tatsächlich hat das mit dem Kassenwettbewerb zu tun. Die Kassen stehen unter Druck, Zusatzbeiträge zu vermeiden und Kosten zu dämpfen – im Moment ist es grade durch die gute konjunkturelle Entwicklung ein bisschen abgemildert, aber grundsätzlich ist das so - und suchen dann nach Wegen, die Kosten in den Griff zu kriegen. Und das geht zum Teil am einfachsten über bestimmte Bereiche, die die Patienten unmittelbar betreffen, also zum Beispiel das Krankengeld, wo ich relativ hohe Ausgaben habe, aber direkt sozusagen die Ausgaben beeinflussen kann."
    1992 - eine Reform mit weitreichenden Folgen
    Dass die Krankenkassen im Wettbewerb zueinander stehen, ist politisch so gewollt. Und war nicht immer so.
    9. Dezember 1992: Der Bundestag verabschiedete das sogenannte Gesundheitsstrukturgesetz.
    "Für mich das Wichtigste ist, dass die Politik jetzt die Kraft findet, nicht nur die Ausgaben zu bremsen, sondern die Strukturen zu verändern, nämlich an die Wurzeln des Übels heranzugehen."
    Die Chipkarten verschiedener Krankenkassen liegen am Dienstag (14.08.2012) in Berlin unter einer Brille nebeneinander auf einem Tisch. 
    Seit 1997 darf jeder seine Krankenkasse frei wählen - der Wettbewerb sollte die Ausgaben senken. (dpa / Robert Schlesinger)
    Horst Seehofer von der CSU ist damals Gesundheitsminister. Gemeinsam mit seinem SPD-Kollegen Rudolf Dreßler hatte er den sogenannten Lahnstein-Kompromiss ausgehandelt.
    "Das, was wir jetzt schaffen an Strukturveränderungen, ist revolutionär! Das ist zwanzig, dreißig Jahre nicht nur zwischen der Politik, sondern auch gesellschaftspolitisch hochumstritten gewesen!"
    Eine tiefgreifende Reform: Denn neben zahlreichen Ausgabenkürzungen im Gesundheitsbereich sollten fortan alle Versicherten ihre Krankenkasse frei wählen dürfen.
    Ein Novum, denn seit Gründung der deutschen Krankenversicherung Ende des 19. Jahrhunderts waren Versicherte nach Berufsgruppen auf die Krankenkassen verteilt worden. In den allgemeinen Ortskrankenkassen waren die Arbeiter, in den Ersatzkassen die Angestellten. Innungskrankenkassen versicherten nur bestimmte Handwerkergruppen, Betriebskrankenkassen nur Angehörige ihres Betriebes.
    "Das ist ja ein Treppenwitz, dass man sich im zu Ende gehenden Jahrhundert noch über so ein Kriterium von freier Wahl in einem demokratischen Staat streiten muss", monierte damals der SPD-Verhandlungsführer Dreßler.
    Seit 1997 darf sich jeder seine Kasse aussuchen, diese wiederum dürfen niemanden ablehnen. Als Abschaffung der Diskriminierung und großer politischer Erfolg wurde dies gefeiert.
    "Dass also das Kriterium der freien Wahl, die Aufnahmepflicht der Krankenkasse, das Wechseln-Können, die Aufhebung dieser merkwürdigen bismarckschen Unterschiede von gewerblicher Arbeitnehmerschaft und Angestelltenschaft aufhört, und damit der Versicherte entscheidet, wo er hingeht, welches Leistungsangebot für ihn akzeptabel ist, welcher Beitragssatz, damit auch die Kassen in eine Wettbewerbssituation zwingt, die weniger der Institution, als vielmehr ihren eigenen Versicherten plötzlich dient, dass das das ausschlaggebende Kriterium ist."
    Überleben und gewinnen im Wettbewerb
    Krankenkassen sollten fortan in Konkurrenz zueinander treten durch guten Service, gute Gesundheitsleistungen und niedrige Beitragssätze. Dies, so hoffte der Gesetzgeber damals, würde auch zu schlanken Strukturen führen. Tatsächlich ist die Zahl der Krankenkassen von damals über 1.200 auf heute gerade einmal 113 geschrumpft.
    Auf dem Krankenkassenmarkt findet ein neuer Wettbewerb statt. Das bestätigt auch Wolfgang Wodarg, der damals für die SPD als Gesundheitsexperte im Bundestag saß.
    "Die Krankenkassen sorgen jeweils dafür, dass sie selbst überleben als Krankenkassen im Wettbewerb. Die Primärinteressen von Wettbewerbern sind auf das Überleben und Gewinnen im Wettbewerb ausgerichtet. Das müssen sie auch sein, sonst gehen sie pleite."
    Sein Vorwurf: Es gibt jetzt zwar Wettbewerb, aber der nützt den Versicherten nichts. Anders als erhofft, bemühen sich die Kassen nun nicht primär darum, Mitglieder durch besonders gute Gesundheitsversorgung zu locken. Sondern sie wollen vor allem die Gutverdiener. Die Gesunden und die jungen Menschen, die nicht so hohe Kosten verursachen. Daran konnte auch der Risikostrukturausgleich nichts ändern, den der Gesetzgeber eingeführt hatte und der ausgleichen sollte, wenn eine Kasse besonders viele ältere oder einkommensschwache Mitglieder hatte.
    "Das können Sie sehen an der Werbung der Krankenkassen, worauf sich Krankenkassen spezialisieren: auf junge Familien, auf junge Frauen, auf sportliche Menschen, auf Menschen, die im Internet unterwegs sind. Die also clever sind, die gut verdienen. Sie sehen deutlich, dass die Krankenkassen an chronisch Kranken, die teuer sind, wenig Interesse haben."
    Stattdessen werben Kassen mit Yoga-, Koch- und Anti-Stress-Kursen. Einige übernehmen Kosten für alternative Heilmethoden, andere bezuschussen Fitnessuhren. Das machen sie zur Gesundheitsvorsorge, sagen die Kassen. Aber natürlich auch, um die jungen, fitten Mitglieder zu umwerben, sagt Gesundheitsexperte Wodarg.
    "Ja, hier sind die wirtschaftlichen Interessen, die wollen Geld verdienen, die sehen das als Verdienstmöglichkeit. Bei uns gibt es eben keinen, der das als staatliche Aufgabe, als Daseinsvorsorge noch organisiert. Sondern es gibt 113 Kassen, die sich so fühlen, als wären sie Wirtschaftsunternehmen."
    Wettbewerbsdruck wird weitergegeben
    Das bekommen auch die Gesundheitsdienstleister zu spüren.
    "Wie sind Sie denn umgeknickt?"
    "Beim Fußballspielen."
    In der Praxis von Jan Selder in Düsseldorf ist immer genug zu tun. Der Physiotherapeut befühlt gerade den Fuß eines jungen Mannes, der eine Bänderüberdehnung hat. Er lässt den Patienten auf eine Metallplatte steigen, die bei Knopfdruck vibriert. Das soll die Fußmuskulatur stärken.
    "Stellen Sie mal den Fuß auf."
    Ein Physiotherapeut behandelt Knieprobleme einer jungen Patientin.
    Physiotherapeuten leiden unter den Einsparungen der Krankenkassen. (picture-alliance / dpa-ZB / Hans Wiedl)
    Rund 20 Minuten veranschlagt Selder für eine Behandlung. Nach seiner Rechnung bekommt er dafür von den Kassen durchschnittlich 16 Euro. Davon muss er die Praxismiete, Strom, Versicherungen und seine Angestellten bezahlen. Viel bleibe da nicht, sagt er.
    "Uns bleiben da gerade mal 12,13 Euro Gewinn übrig. Wenn wir davon noch die Steuer abziehen, dann ist das eigentlich eine Beleidigung für unseren Berufsstand. Wenn man sich vergleicht mit anderen Berufszweigen: Wenn ich mein Auto in die Werkstatt bringe, gibt es da einen Stundentarif von 60, 70 Euro, das schaffen wir nie. Wenn ein Physiotherapeut einigermaßen arbeiten kann, dann sind wir da vielleicht auf einem Stundensatz von 40 oder 42 Euro."
    Die Kassen argumentieren: Sie müssen das Geld der Versicherten sorgsam verwalten, deswegen ist Kontrolle wichtig.
    "Es ist richtig zu sparen und es ist auch richtig, die Gelder gut zu verwalten, aber wenn auf der anderen Seite so viel Geld rausgehauen wird, und wir zeitgleich abgespeist werden damit, man müsse doch die Gelder gut verwalten, dann fühle ich mich wirklich nicht mehr gerecht behandelt."
    Aber wie Gerechtigkeit schaffen in einem Gesundheitssystem, das medizinisch solide sein soll, die Kosten unter Kontrolle halten muss und Wettbewerb zu steuern versucht? Dass der Risikostrukturausgleich der 90er Jahre zwischen den Kassen nicht die gewünschten Effekte brachte, lag denn ab 2005 auch auf dem Tisch der neuen Großen Koalition. Man wollte nachbessern.
    "Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen Reformen auf den Weg, weil wir wissen, dass Gesundheitspolitik immer Politik für 82 Millionen Menschen in diesem Land ist."
    Damals ist Ulla Schmidt von der SPD Gesundheitsministerin. Unter dem sperrigen Namen "Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in den gesetzlichen Krankenkassen" wurde der Krankenkassenbeitrag vereinheitlicht und ein sogenannter Gesundheitsfonds eingerichtet. Dort fließen alle Beiträge zusammen und werden dann an die Kassen umverteilt.
    "Der Fonds führt zu mehr Wettbewerb, dass wir die Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen Stadt und Land wirklich aufheben können, und eine gesamtdeutsche solidarische Finanzierung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung auf den Weg bringen."
    Die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) informiert am Dienstag (28.08.2012) über erste Vermittlungsgespräche im Streit zwischen Pflegediensten und Krankenkassen in Mecklenburg-Vorpommern. 
    Wollte mehr Wettbewerb unter den Krankenkassen: die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. (dpa / Jens Büttner)
    Wie das Geld verteilt wird, orientiert sich erstmals auch am Gesundheitszustand der Versicherten: Dafür wurde das Wortungetüm "morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich" - kurz Morbi-RSA - geschaffen. Meint: Kassen mit besonders vielen alten und kranken Mitgliedern bekommen mehr Geld als jene, mit überwiegend jungen und gesunden. Eine Liste mit heute 80 Erkrankungen wurde erstellt, für die die Kassen nun nach einem komplizierten Schlüssel zusätzliche Gelder bekommen.
    "Sodass Kassen, die viele kränkere oder behinderte Menschen haben, oder Menschen mit niedrigem Einkommen, ausreichend Geld haben, eine gute Gesundheitsversorgung anzubieten. Und dass die, die viele junge und gesunde Mitglieder haben, auch ein Stück von ihrem Geld abgeben müssen an die anderen, damit überall die Aufgaben wahrgenommen werden können."
    Kranke Patienten - mehr Geld für die Krankenkasse
    Nachdem zuvor stets die Kassen mit jüngeren, gesünderen Mitgliedern, etwa die Techniker Krankenkasse, im Vorteil waren, änderte sich das jetzt. Denn durch den Morbi-RSA bekamen plötzlich Allgemeinen Ortskrankenkassen mehr Geld.
    Im Herbst vergangenen Jahres sorgte ein Interview des Chefs der Techniker Krankenkasse Jens Baas für große Empörung: Patienten würden auf dem Papier gerne mal kränker gemacht, als sie es in Wirklichkeit sind, erklärte er.
    Beim Fernsehsender 3Sat sagte Baas: "Die Krankenkasse bemüht sich, eine möglichst hohe Diagnose zu bekommen, weil dann kriegt sie mehr Geld. Das heißt, heute geht der Wettbewerb allein darum, sich zu bemühen, dass die Versicherten möglichst teure Diagnosen haben, dann kriege ich als Krankenkasse mehr Geld."
    Tatsächlich berichten danach auch Ärzte von Besuchen durch Krankenkassenvertreter, sogenannte Codierberater, die ihre Hilfe bei Abrechnungen angeboten hatten. Das ist an sich nicht verwerflich, denn wenn nicht präzise abgerechnet wird, entgeht den Kassen Geld, das ihnen zusteht.
    Doch in manchen Fällen wurde aus einem Übergewicht schon mal eine Adipositas - also eine krankhafte Fettleibigkeit - und aus der depressiven Verstimmung eine Depression. Denn das bringt einer Krankenkasse mehrere hundert Euro zusätzlich aus dem Gesundheitsfonds. Fast alle Kassen machten dies, so der Vorwurf Baas‘.
    "Die Krankenkassen geben mittlerweile einen Haufen Geld - und das heißt gut eine Milliarde Euro - dafür aus, um möglichst schwere Diagnosen zu bekommen. Weil wir unmittelbar davon profitieren."
    Die Politik reagierte und hat mittlerweile ein Gesetz verabschiedet, das Vereinbarungen zwischen Kassen und Ärzten über Diagnosen oder den Besuch von Codierberatern unterbindet.
    Die Frage, welche Krankheiten der Morbi-RSA berücksichtigt, wird sicher auch die nächste Bundesregierung wieder beschäftigen.
    Aber: Geht es auf diesem Markt noch darum, "Gesundheit der Versicherten zu erhalten" oder "wiederherzustellen", wie im Sozialgesetzbuch gefordert? Ist diese Art Wettbewerb auf dem Kassenmarkt der richtige Weg, um eine gute Versorgung zu gewährleisten? Die Krankenkassen führten nur das aus, was die Politik beschlossen hat, sagt Florian Lanz vom GKV-Spitzenverband.
    "Diese Mischung, die die Politik vorgegeben hat, ist eine vernünftige Mischung: Große, solide Versorgung, wo sich die Krankenkassen nicht unterscheiden, aber oben drauf ein kleiner Teil Wettbewerb, um zu zeigen, wir können auch anders. Und manchmal ist es auch gut, dass sich Kassen unterscheiden. Sie und ich, wir wollen ja auch die Wahl haben."
    "Wir verschwenden sehr viel"
    Aber worin besteht diese Wahl? 95 Prozent der Kassenleistungen sind identisch – weil vom Gesetzgeber vorgeschrieben -, und die Beiträge sind es mit 14,6 Prozent derzeit auch. Allein die Zusatzbeiträge, die die Kassen von ihren Versicherten erheben können, wenn sie mit dem Geld nicht auskommen, unterscheiden sich. Allerdings im Moment maximal um ein Prozent. Ist das Wettbewerb? Braucht man dafür 113 Krankenkassen? Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, CDU, nennt es ein "Solidarsystem mit Wettbewerbselementen".
    "Der Wettbewerb geht ja nicht darum, ob eine bestimmte Operation überhaupt angeboten wird, das ist Unsinn. Sondern es kann um eine wirtschaftliche Form der Behandlung gehen, zum Beispiel, indem man sagt: Geh zuerst zum Hausarzt, damit wir bestimmte Behandlungsabläufe sinnvoll in den Blick nehmen. Es kann auch darum gehen, wie aufwendig ist die Verwaltung, welches Geschäftsstellennetz wird vorgehalten? Ist mir das einen höheren Beitrag wert, ja oder nein? Ein Wettbewerb muss immer ein Wettbewerb um Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten sein, und nicht stets der billigsten Lösung dienen."
    Ärzte setzen einem Patienten eine künstliche Hüfte ein.
    Geldverschwendung? In Deutschland gibt es doppelt so viele Hüft-OPs als im übrigen Europa. (dpa-Bildfunk / Klaus Rose )
    Doch darauf läuft es in der Realität oftmals hinaus. 2017 werden die Kassen geschätzte 214 Milliarden Euro aus dem Gesundheitsfonds bekommen. Und es gehe primär darum, wer wie viel aus diesem Topf erhält, sagt der Gesundheitsexperte Wolfgang Wodarg. Er hält diese Art des Wettbewerbs für nicht kompatibel mit dem deutschen Gesundheitssystem. Warum kann die Politik die Kassen nicht zur Kooperation zwingen, fragt er. Regionale Zusammenschlüsse könnten auch die Verhandlungsmacht der Kassen - beispielsweise gegenüber der Pharmaindustrie - erhöhen. Und Ressourcen würden endlich den Bürgern zugute kommen.
    "Wir könnten mit demselben Geld eine fantastische Gesundheitsversorgung haben, die die beste der ganzen Welt ist. Wir verschwenden sehr viel. Wir haben Überversorgung und Fehlversorgung, die wahnsinnig viel Geld verschlingt. Und die Tatsache, dass in Deutschland doppelt so viele Hüften wie in anderen europäischen Ländern implantiert werden, ist kein Zeichen dafür, dass die Gesundheitsversorgung in Deutschland besonders gut ist, sondern dass es sich in Deutschland lohnt, Hüften zu transplantieren."