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Wie kommt die EU durch die Krise?

Es scheint klar zu sein, dass die Schuldenkrise nicht allein mit finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu bewältigen ist. Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen sich zunehmend auch Gedanken über Fragen der demokratischen Legitimierung machen.

Von Johanna Herzing | 12.10.2012
    "Wir sind Nobelpreis" – der Titel einer Pressemitteilung des liberalen Europaabgeordneten Alexander Graf Lambsdorff von heute Mittag bringt auf den Punkt, wonach Brüssel sich sehnt: nach Einigkeit und Gemeinschaft. Doch was in den vergangenen Jahrzehnten des Wohlstands und des Friedens immer selbstverständlicher erschien, wird von der Finanz- und Schuldenkrise immer stärker gefährdet. Die Krise, sie hat innerhalb der Europäischen Union gewaltige Fliehkräfte freigesetzt.

    "Laissez-Faire im Süden, Disziplin und Weitsichtigkeit im Norden". Das ist die simple Formel, die derzeit in vielen Köpfen vorherrscht. Doch nicht nur zwischen Nord- und Süd-Europa verläuft neuerdings eine imaginäre Grenze. Immer öfter ist in den vergangenen Monaten vom "Kerneuropa" die Rede. Für den Politikwissenschaftler Piotr Kaczynski vom Brüsseler Think Tank CEPS kommt das nicht überraschend; das "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" sei schon lange eine Tatsache:

    "Das haben wir doch schon. Das haben wir seitdem es den Euro gibt. Es war nur nicht so sichtbar, wie es das heute ist. Nehmen Sie die Presse: die deutsche, die niederländische, spanische, französische, sogar internationale Medien: Europa – das ist heute gleichbedeutend mit der Euro-Zone. Vor fünf Jahren noch stand Europa für die Europäische Union."

    Die Bedeutung, die den Treffen der 17 Euro-Finanzminister inzwischen beigemessen wird, mag das bestätigen. Die fieberhafte Suche nach einem Weg aus der Eurokrise – sei es über eine sogenannte Bankenunion oder eine Fiskalunion mit einheitlichem Steuer- und Ausgabensystem – diese Überlegungen schüren bei vielen Nicht-Eurostaaten die Angst an den Rand gedrängt zu werden. Um den nächsten Integrationsschritt nicht zu verpassen, wollen sie sich an den Maßnahmen zur Eurorettung beteiligen. So etwa am Fiskalpakt, der für mehr Haushaltsdisziplin sorgen soll. Mit Ausnahme von Großbritannien und Tschechien wollen ihn immerhin 25 EU-Länder mittragen.

    Doch in Brüssel wird bereits weiter gedacht. Eine Arbeitsgruppe rund um EU-Ratspräsident Herman van Rompuy entwickelt derzeit Ideen, wie die Wirtschafts- und Währungsunion reformiert werden kann. Was von den Überlegungen bislang nach draußen sickerte, dürfte bei vielen Nicht-Eurostaaten für Kopfzerbrechen sorgen: Ein Haushalt exklusiv für die Länder der Eurozone, sogar die Einrichtung neuer europäischer Institutionen wie etwa eines Euro-Parlaments oder eines Euro-Finanzministeriums, ist im Gespräch. Kommissions-Präsident Jose Manuel Barroso sah sich zuletzt genötigt, die Wogen zu glätten. Im Europarlament sagte er:

    "Lassen Sie uns das unterstreichen: Es gibt eine Europäische Union, eine Europäische Kommission und ein Europäisches Parlament. Mehr Demokratie, mehr Transparenz und mehr Verantwortlichkeit wird nicht durch eine Vermehrung von Institutionen erreicht, die die EU komplizierter, undurchschaubarer, weniger zusammenhängend und träger machen würden."

    Eine Position, die viele Europaabgeordnete teilen. Der italienische Parlamentarier Roberto Gualtieri, von der Fraktion der Sozialdemokraten, ist einer von vier Europa-Abgeordneten, die an den Verhandlungen zur Fortentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion unter Leitung von van Rompuy teilnehmen.

    "Ich glaube, dass die Diskussion über ein Euro-Zonen-Parlament ins Leere läuft. Wir können ja kein zweites Parlament einrichten, das wäre einfach unrealistisch. Man könnte natürlich eine Versammlung einberufen, aber die könnte dann wieder keine verbindlichen Rechtsakte beschließen. Deswegen müssen wir auf den bestehenden Strukturen aufbauen, nämlich auf dem direkt von den Bürgern gewählten Europaparlament."

    Die Frage lautet also: Wird die EU die bestehenden Institutionen mit mehr Macht ausstatten und sie fortentwickeln oder werden ganz neue Strukturen geschaffen? Vermutlich wird es eine Kombination aus beidem sein; es wird kurz- mittel- und langfristige Maßnahmen im Kampf gegen die Eurokrise geben. Wie allerdings die EU der Zukunft aussehen könnte, ist derzeit mehr oder weniger offen, befindet sich Brüssel doch noch im Stadium der Meinungsbildung. Viele Akteure werfen also ihre Ideen in den Raum; ohne dabei konkret zu werden. Es sind Testballons. So ließ Kommissionspräsident Barroso unlängst diesen steigen:

    Eine Föderation von Nationalstaaten zur Bewältigung der gemeinsamen Probleme forderte Barroso vor dem Europaparlament. Was genau darunter zu verstehen ist, darüber wurde im Nachhinein viel gerätselt, Barroso selbst blieb die Antwort schuldig. Ähnlich verhält es sich mit dem Schlagwort von der "politischen Union", die nicht zuletzt Bundeskanzlerin Angela Merkel immer wieder ins Gespräch bringt.

    "Wir brauchen nicht nur eine Währungsunion, wir brauchen eine sogenannte Fiskalunion, also mehr gemeinsame Haushaltspolitik und wir brauchen vor allem auch eine politische Union. Das heißt, wir müssen Schritt für Schritt Kompetenzen an Europa abgeben, Europa auch Kontrollmöglichkeiten einräumen."

    Aussagen, die viel Spielraum lassen. Klar zu sein scheint immerhin, dass die Schuldenkrise nicht allein mit finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu bewältigen ist. Die Staats- und Regierungschefs müssen sich zunehmend auch Gedanken über Fragen der demokratischen Legitimierung machen. Und noch eine weitere Herausforderung gilt es zu bewältigen: die europäischen Bürger auf dem Weg in das Europa der Zukunft mitzunehmen. Dazu gehört es auch, ein neues Leitmotiv zu entwickeln. Die polnische Europaabgeordnete Sidonia Jedrzejewska fürchtet:

    "Dass die Bürger nicht mehr verstehen, warum man überhaupt diese EU hat. Sie ist ein Opfer des eigenen Erfolgs. "