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Wie man das Meer sehen kann

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Evita Bauer | 14.04.2003
    Die anonyme Stimme vom Band versucht, den Anrufer hinzuhalten, das Ende hinauszuzögern: Scheherezade auf Fangschaltung - im Netz zappelt der Leser. Knapp und zuweilen surreal sind die gut zwei Dutzend Erzählungen von Luis Sepύlveda: Ernest Hemingway auf lateinamerikanisch. Genauer als der deutsche Buchtitel "Wie man das Meer sehen kann" trifft das spanische Original Desencuentros - "verfehlte Begegnungen" den gemeinsamen Nenner der Geschichten.

    Der 53jährige Exilchilene vergleicht sich selbst mit dem heimkehrenden Odysseus: Das Land, das er als junger Mann verlassen musste, existiert nur noch in seiner Erinnerung. Sein Blick zurück ist nostalgisch, aber nicht melancholisch. Das "Glück des Unglücklichseins" wie Tomaso di Lampedusa die Melancholie nannte, liegt diesem Wandersmann zwischen Alter und Neuer Welt nicht: Ich wurde zwar in Chile geboren, aber ich fühle mich mehr als Hamburger denn als Chilene. In Hamburg habe ich die 10 besten Jahre meines Lebens verbracht. Später war ich in Paris, im Schwarzwald, in Spanien - in einer Menge verschiedener Orte. Aber Wurzeln habe ich nur dort geschlagen, wo ich spürte, dass ich um etwas leichter wurde. Das mich und meine Art zu schreiben entscheidend geformt... Typisch für meine Erzählungen ist die Kürze. Ich schätze das Lapidare. Ich möchte Ideen greifbar machen. Alle Spielarten des Barock sind mir völlig fremd. Literarischen Durchfall mag ich nicht. Belesenheit, Bildung, Wissen, stilistische Kniffe gehören zum Handwerkszeug und sollten nicht im Text schamlos vorgeführt werden. Für eine gute Geschichte riskiere ich Kopf und Kragen! Ich stelle alles in den Dienst der Geschichte die ich erzählen will. Egal ob Roman oder Kurzgeschichte: Meine Prosa ist immer knapp und meine Helden sind stets unterwegs.

    Killer, ehemalige Polizisten, Ex-Guerillas, Greenpeace-Aktivisten - Sepύlvedas Protagonisten teilen mit dem Autor die Ruhelosigkeit des Exils. Es sind Weltbürger wider Willen, Opfer von Unterdrückung und Gewalt. Die Schauplätze im Erzählband sind so vielfältig wie die Stationen im Leben des Schriftstellers: Chile, Bolivien, Schweden, Deutschland, Spanien... Und doch bleiben die wechselnden Kulissen Nebensache. Im Rampenlicht steht der in Zeit und Raum verlorene Einzelne. Fortbewegung, Reisen werden zu Metaphern des Seins:

    In Meinen Büchern geht es hauptsächlich um Werte. Meine Romanfiguren sind solidarisch, brüderlich und gerecht. Sie bekämpfen alles was sich der Solidarität, der Brüderlichkeit und Gerechtigkeit in den Weg stellt. Meine Fiugren, die Helden meiner Romane, sind so etwas wie mein Alter Ego. Sie teilen meine tiefe Verachtung für den Staat, meine Verachtung gegenüber jeglicher Form von Herrschaft. Sie sind alle gewissermaßen Kinder des Autors und Enkel des spanischen Anarchisten Buenaventura Durruti, die in den Geschichten fortleben.

    Trotzige Töne eines Altlinken. Mit diesem Buch zeigt Sepülveda erneut, dass Parteilichkeit und Engagement Literatur noch lange nicht zum Pamphlet degradieren. Eine Zeitungsnotiz, eine schwarze Limousine genügen dem Autor, um die Erinnerung an die Greul der chilenischen Militärdiktatur wachzurufen. Die versammelten Geschichten geben aber auch Einblick in Luis Sepύlvedas schriftstellerische Entwicklung und Bandbreite: Phantastisches steht neben Politischem, Alltägliches neben Unbegreiflichem. Gemeinsam ist allen Erzählungen die ausschließlich männliche Perspektive. Sepύlveda zeichnet seine Helden als raubeinige Einzelgänger - aber mit viel Innenleben. Frauen bleiben Imagination und Wunschtraum. Nur die flüchtige Begegnung ist möglich. Doch gerade die kann mitunter folgenschwer sein und, wie im Fall des Schriftstellers selbst, bereits früh die Weichen stellen:

    Ich ging in Santiago de Chile aufs Gymnasium. Eines Tages bekamen wir eine wunderschöne Lehrerin. Wir alle verliebten uns in sie, träumten von ihr. Ich schrieb eine erotische Geschichte, in der sie, die Hauptfigur und der Schüler, offenkundig ich war. Diese Geschichte ging von Hand zu Hand. Sie wurde ein echter Bestseller, weil ein Freund sie gegen Gebühr verlieh. Die Leute wollten mehr. Also schrieb ich drei weitere Folgen. Eine davon fiel dem Direktor in die Hände und ich flog beinahe von der Schule .- Es war ein erster Versuch in Sachen Literatur. Eine grässliche Geschichte! Aber, was soll's zum Teufel! Ich habe mir damals selbst bewiesen, dass ich mit der Phantasie umzugehen weiß, dass ich Geschichten und liebenswerte Lügen erfinden kann.

    Es folgten Hörspiele fürs Radio, mit denen der Sechzehnjährige nicht nur seinen Lebensunterhalt verdiente, sondern auch das Handwerk des Schreibens lernte. Mit zwanzig erhielt der engagierte Kommunist erste literarische Anerkennung: den renommierten, kubanischen Literaturpreis "Casa de Las Americas" für einen Erzählband.

    Politik und Literatur sind die Konstanten in Sepύlvedas wechselreichem Leben. Aus den Kerkern Pinochets holte den jungen Schriftsteller schnell eine Hamburger Amnesty International Gruppe. Die Stadt an der Elbe wurde ihm zur Wahlheimat und Schauplatz des Kinderbuchs Wie der Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte" - einer liebenswerten Fabel vom Gelingen des Unmöglichen. Bekannt wurde Luis Sepύlveda 1993 mit einem Roman - einem Bestseller. Der Alte, der Liebesromane las wurde in 16 Sprachen übersetzt und auch verfilmt -ein poetischer, im Amazonas spielender Ökothriller. Die jetzt erschienen Erzählungen hat der Exilchilene lange in seinem Gepäck mitgeführt. In ihnen zeigt sich der Autor von seiner intimsten Seite. Seine Figuren sind nicht nur einsam, sondern auch gefangen in einem Labyrinth ohne Ausweg: ein Mann findet die Tür seiner Liebsten nicht mehr; ein Junge versäumt den Sprung in ein abenteuerliches Leben; eine Stumme flieht vor der Liebe...

    Wir leben tatsächlich am Abgrund der Einsamkeit. Oftmals ergreift uns die Einsamkeit wie ein Schwindel und droht, uns hinunterzuziehen. Wir sind in unserem kurzen Leben hauptsächlich damit beschäftigt, durch immer neue Tricks nicht in diesen Abgrund zu stürzen. Ich bin davon überzeugt, dass alle unsere Bemühungen zum Scheitern verurteilt sind. Das Scheitern ist der einzige Gefährte des Menschen. Dadurch wird das Leben zur Heldentat. Wenn der Mensch akzeptiert, dass große Pläne naturgemäß zum Scheitern verdammt sind, verliert er sowohl die Angst vor dem Leben als auch die, sich großen Projekten zu stellen. Ein grundlegender Wahlspruch von uns Lateinamerikanern lautet: von Niederlage zu Niederlage und am Ende der Sieg.

    Ohne eine Spur von Bitternis oder Resignation hingegen fügt sich in Sepύlvedas jüngsten Buch alles zu einer langen Kette verpaßter Gelegenheiten. 27 Short Cuts der Einsamkeit - irrwitzig, spannend und absurd.