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"Wie passiert es, dass eine Demokratie verloren geht?"

Anlässlich des 80. Jahrestags der Machtübertragung an die Nationalsozialisten müsse man immer wieder daran erinnern, dass Freiheit und Demokratie nicht selbstverständlich seien, sagt Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 30.01.2013
    Dirk-Oliver Heckmann: Heute ist die sogenannte Machtergreifung also genau 80 Jahre her, wobei der Begriff "Machtergreifung" eigentlich eine Verdrehung der Tatsachen darstellt, denn Hitler und seine Nationalsozialisten hatten am 30. Januar '33 nicht die Macht ergriffen, sondern sie wurde ihnen übertragen. Eines aber ist klar: Für die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten wurde an diesem Tag die Grundlage gelegt. Der Bundestag aber befasst sich heute nicht mit den Nazis, sondern mit deren Opfern, denn der Holocaust-Gedenktag, der 27. Januar, fiel in diesem Jahr auf einen Sonntag, er wird heute sozusagen offiziell nachgeholt. Die deutsch-jüdische Schriftstellerin, Journalistin und Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron hält die zentrale Rede. – Am Telefon begrüße ich dazu Wolfgang Thierse von der SPD, er ist der Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Guten Morgen, Herr Thierse.

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Heckmann.

    Heckmann: Herr Thierse, am Sonntag gab es ja bereits an vielen Orten Gedenkveranstaltungen, in denen man der Opfer der NS-Todeslager gedachte. Heute die Veranstaltung im Bundestag. Glauben Sie, dass Sie auch die jüngeren Menschen mit solchen Veranstaltungen noch erreichen können, oder ist es nicht so, dass viele von solchen ritualisierten Veranstaltungen keine Notiz mehr nehmen?

    Thierse: Das mag sein. Aber zunächst einmal – Sie haben es richtig gesagt – gedenken wir der Opfer. Das ist das eigentlich, dass wir an die Millionen Toten uns erinnern und insbesondere auch an die Millionen ermordeten Juden Europas. Das tun wir um der Würde der Toten Willen, aber auch um unsertwillen, damit wir nicht vergessen, was Deutschen, was in diesem Land und diesem Volk einmal an Entsetzlichem möglich war.

    Heckmann: Die Veranstaltung im Bundestag, Herr Thierse, genau 80 Jahre nach der Machtübertragung an Hitler – noch heute ist ja oft von Machtergreifung die Rede. Ist das ein Zeichen dafür, wie sehr apologetische Denkmuster, Geschichtsverdrehungen Einzug gehalten haben?

    Thierse: Ja, das ist mit Gewissheit Gedankenlosigkeit, dass da ein Begriff sich einfach fortschleppt und wir nicht sensibel genug sind, immerfort gegen ihn anzuarbeiten. Das gibt es ja auch in vielen anderen Zusammenhängen, ich denke etwa an den Begriff "Wende" für das, was 1989 an friedlicher Revolution passiert ist. Das ist ein Begriff, den Egon Krenz verwendet hat, aber trotzdem plappern ihn alle nach. Also das nur ein Beispiel für vielfache Gedankenlosigkeit. Aber bezogen auf die Nazi-Verbrechen, die Beseitigung der Demokratie, müssen wir besonders aufmerksam sein und immer wieder uns daran erinnern. Das ist ja das eigentliche Lehrstück: Wie passiert es, dass eine Demokratie verloren geht. Das erinnert uns daran, dass Freiheit und Demokratie, die uns so selbstverständlich geworden sind, wunderbarerweise, dass sie doch immer auch gefährdet sind und wir uns daran erinnern sollten, so hundertprozent selbstverständlich ist sie nicht. Sie ist immer auch eine gefährdete demokratische Einrichtung.

    Heckmann: Und die Frage ist ja, welche praktischen Konsequenzen folgen daraus, Herr Thierse. Linke Intellektuelle in der Bundesrepublik, die haben ja immer wieder gesagt, Justiz, Politik und Sicherheitsbehörden, die seien auf dem rechten Auge blind. Auch vor dem Hintergrund der RAF-Gefahr und der Berufsverbote wurde das immer wieder so formuliert. Muss man aber nicht sagen, am Ende haben sie Recht gehabt, denn wenn man sich anschaut, dass der Nationalsozialistische Untergrund, die Terrororganisation, ein Jahrzehnt lang mordend durchs Land ziehen konnte?

    Thierse: Dieser Verdacht stellt sich ein und die Untersuchungsausschüsse von Bundestag und Ländern sind ja wirklich gründlich an der Arbeit, diesen Verdacht zu bestätigen oder zu widerlegen. Wir wissen jedenfalls, dass der Verfassungsschutz versagt hat, dass in einer Mischung aus Blindheit, Schluderigkeit, Egoismus, nicht Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und Behörden und Kräften dazu geführt haben, dass wir da eine ganze Mordserie nicht richtig eingeordnet haben, dass der Verfassungsschutz, die Polizei, die Justiz in die falsche Richtung geblickt haben. Das ist auch ein entsetzliches Lehrstück für Versagen.

    Heckmann: Sie sprechen von Blindheit, von Egoismus der Behörden. Es heißt ja jetzt immer wieder, dass die Informationen nicht geflossen seien zwischen den Institutionen, und dann zur Erklärung auch, man hätte sich nicht vorstellen können, dass es in Deutschland überhaupt rechte Terroristen gebe. Bei so vielen Pannen, bei so viel Ignoranz, können Sie verstehen, können Sie die verstehen, die da nicht an Zufall glauben können?

    Thierse: Ja, dies verstehe ich schon, und ich sage ja, die Untersuchungsausschüsse müssen rückhaltlos aufklären, um diesen Verdacht zu widerlegen, wenn es denn gelingt. Vielleicht wird er sogar bestätigt und davor dürfen wir uns nicht drücken und sagen, jetzt noch einmal den Teppich über Versagen, Blindheit, Dummheit, falsche politische Orientierung zu decken, das wäre fatal.

    Heckmann: Glauben Sie denn, dass am Ende wirklich Klarheit herrscht über die Vorgänge?

    Thierse: Ich hoffe sehr. Jedenfalls macht der Bundestagsausschuss, wie ich immer wieder höre von Kollegen, die da energisch mitarbeiten, er macht gute Arbeit. Es gibt keinen nennenswerten parteipolitischen Streit. Gelegentlich, so liest man ja auch und so wird berichtet, sind Vertreter der staatlichen Behörden, ob Verfassungsschutz oder andere, nicht ausreichend bereit, ehrlich Auskunft zu geben.

    Heckmann: Und es gibt immer wieder neue Pannen und Berichte über Akten, die vernichtet wurden beispielsweise.

    Thierse: Ja, das ist entsetzlich genug, und dass es bekannt wird, ist hoffentlich ein heilsamer Schreck für dieses Land und für diese Behörde. Wenn es denn in Zukunft noch einen Verfassungsschutz geben soll – es gibt ein paar kräftige Argumente dafür -, dann muss dieser Aufklärungs- und Heilungsprozess vorher stattfinden.

    Heckmann: Zur Frage, Herr Thierse, wie umgehen mit Rechtsradikalen, mit Rechtsextremen, gehört natürlich auch die Frage, ob es einen neuen Anlauf für ein NPD-Verbotsverfahren geben soll. Der Bundesrat hat sich dafür ja schon entschieden, Ende letzten Jahres. Auch die SPD-Fraktion will am Freitag einen Antrag einbringen in den Bundestag. Wie sinnvoll ist ein solcher Alleingang?

    Thierse: Ist das ein Alleingang?

    Heckmann: Die anderen Fraktionen sind jedenfalls nicht dabei.

    Thierse: Moment! – Moment! Wenn der Bundesrat – und das sind die Länder und wir leben in einer föderalen Republik – eine solche Entscheidung getroffen hat, darf dann irgendjemand vernünftigerweise noch von Alleingang reden? Es haben diejenigen sich zu rechtfertigen, die sagen, wir wollen das nicht, diejenigen, die verantwortlich sind für jetzt ein bereits monatelanges endloses Gezerre über die Frage, soll man einen Antrag stellen oder nicht. Da wird beklagt, das ganze würde der NPD mehr Aufmerksamkeit schenken; ja, wenn man so hin- und herdebattiert. Ich bin dafür, dass der Bundestag einfach beschließt, dass Innen- und Rechtsausschuss die vorgelegten Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern genau prüfen und uns dann sagen, ist das ein ausreichendes Material für ein neues Verbotsverfahren oder nicht. Aber nicht vorher in Unkenntnis oder in halber Kenntnis dieser Materialien dann immer nur sagen, nein, das hat keinen Zweck, das sollten wir nicht machen, das ist riskant, wenn das Gericht vielleicht so und so. Das macht wahrscheinlich in den Augen der NPD große Freude, dieses Hin und Her.

    Heckmann: Aber, Herr Thierse, es gibt ja auch nun gewichtige Gegenargumente.

    Thierse:° Das weiß ich!

    Heckmann: Norbert Lammert, der Bundestagspräsident von der CDU, der hat ein Verbotsverfahren politisch unklug genannt, und auch bei den Grünen gibt es ja große Skepsis. Da wird als Argument genannt, die NPD liege sowieso derzeit am Boden und sie bekomme durch ein Verbotsverfahren bei den kommenden Bundestagswahlen nur noch mehr Aufwind. Es sei keineswegs sicher, dass Karlsruhe dann auch folgt und dem zustimmt. Und es gibt auch noch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

    Thierse: Es ist schon interessant, dass da eine Art öffentliche Angst vor dem Verfassungsgericht sich äußert. Und im übrigen will ich doch sagen: Das Verbotsverfahren ist faktisch eingeleitet durch den Antrag des Bundesrates. Jetzt sollte man prüfen, so nüchtern wie irgend möglich, ist das vorgelegte Material ausreichend für die formelle Einleitung eines solchen Verfahrens oder nicht. Und die politische Erwägung, dass die NPD am Boden liege, nur weil sie in Niedersachsen ein niederschmetterndes Ergebnis bekommen hat, darf uns doch nicht davon ablenken, dass sie in anderen Landtagen sind, dass wir, der demokratische Staat, diese Partei finanzieren nach Recht und Gesetz, was ich immer noch für einen Skandal halte, dass der demokratische Staat seine Feinde finanziert. Also es gibt mindestens genauso viele starke Argumente für ein solches Verbotsverfahren wie dagegen. Und da wir bereits einen entsprechenden Antrag vorliegen haben des Bundesrates, ein solches Verfahren einzuleiten, sollte man das jetzt ganz nüchtern prüfen und das Material sichten, und das sollte der Innen- und Rechtsausschuss des Bundestages machen und dann ein Votum abgeben, ja, wir sollten es machen, oder, wenn die Bundestagsabgeordneten zu dem Schluss kommen, das Material reicht nicht aus, ja dann muss man es einstellen und dann auch die ganze Debatte darüber beenden.

    Heckmann: Aber wäre es nicht klüger gewesen, sich darüber mit den anderen Fraktionen im Bundestag zu verständigen, bevor man einen solchen Antrag ankündigt?

    Thierse: Ja! Aber ich sage noch einmal: Die Länder der Bundesrepublik Deutschland, die Innenminister, die Ministerpräsidenten haben sich darauf geeinigt, ein solches Verfahren einleiten zu wollen.

    Heckmann: Kritiker der Grünen wenden unter anderem noch ein, dass ein Verbot kaschieren würde, dass rechtsextremes Gedankengut politisch bekämpft werden muss. Ist ein Verbot der NPD nicht ein allzu einfaches Mittel?

    Thierse: Ja, dass es nicht einfach ist, sieht man ja gerade. Und zweitens, selbstverständlich: Ein Verbot einer Partei, einer rechtsextremistischen Partei, hat noch nicht das rechtsextremistische Gedankengut in Köpfen und Herzen von Menschen beseitigt. Also geht es darum, politische Bildung zu verstärken, Aufklärung zu betreiben, darüber zu reden, was in den Schulen passiert, was in den Medien passiert, was in den Familien passiert. Das wird doch durch ein solches Verbot nicht überflüssig gemacht, sondern eher noch bestärkt und bestätigt, denn natürlich ist ein Verbotsverfahren und ein Verbot ein faktischer Vorgang, aber es ist zugleich eine symbolische Handlung, dass die Demokratie sagt, wir finanzieren nicht noch unsere Feinde, wir lassen uns nicht alles bieten.

    Heckmann: Und dass die Anhänger der NPD dann in die nächste Organisation übertreten, eine Nachfolgeorganisation gründen, das nehmen Sie dann hin?

    Thierse: Entschuldigen Sie, das passiert schon ständig. Diese NPD – das wissen wir doch sehr genau – arbeitet mit allen möglichen rechtsextremistischen Organisationen zusammen und sie leitet Geld, das sie vom demokratischen Staat hat, nach allem, was wir wissen, auch in diese anderen Organisationen. Das ist nichts Neues, das würde sich faktisch so nicht verändern, die Vielfalt rechtsextremistischer Umtriebe, legal, halb legal, illegal.

    Heckmann: In allen anderen Ländern Europas gibt es rechtsextreme, rechtsradikale Parteien. Müssen wir in Deutschland nicht vielleicht möglicherweise mit einer solchen Gruppierung leben lernen?

    Thierse: Ja, aber Deutschland ist nicht wie alle anderen Länder. Wir gedenken heute der Machterschleichung Hitlers. Wir erinnern uns an das Verbrechen des Holocaust. Was in anderen Ländern normal ist, womit man dort gelassen umgehen kann, das ist in Deutschland auf absehbare Zeit nicht legal. Damit dürfen wir nicht gelassen und entspannt umgehen. Das ist der bleibende Unterschied auch so viele Jahrzehnte nach Ende des Krieges und nach Ende des Verbrechensstaates.

    Heckmann: Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse von der SPD, war das live hier im Deutschlandfunk. Herr Thierse, ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen einen schönen Tag.

    Thierse: Danke schön und auf Wiederhören.


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