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"Wie soll die Kanzlerin besser erklären, was sie auch nicht weiß?"

Der Bundespräsident fordert von der Kanzlerin, ihre Europapolitik den Bürgern besser zu erklären. Der Theologe Friedrich Schorlemmer stimmt zu, sieht aber die Politik als Ganzes in der Pflicht, die Bürger zu informieren - auch, um nationalistische Tendenzen zu verhindern.

Das Gespräch führte Gerd Breker | 09.07.2012
    Gerd Breker: So weit der Bericht von Theo Geers. Am Telefon sind wir nun verbunden mit Friedrich Schorlemmer, einer der streitlustigsten, provokantesten und auch umstrittensten Aktivisten der ehemaligen DDR-Opposition. Guten Tag, Herr Schorlemmer!

    Friedrich Schorlemmer: Guten Tag!

    Breker: Herr Schorlemmer, Politik kommuniziere an manchen Stellen nur mäßig. Diesen Satz kann doch jeder unterschreiben.

    Schorlemmer: Ja, natürlich. Wer von den Mitbürgern kann mir denn erklären, was EFSF oder ESM ist. Der Mensch auf der Straße weiß nur, was der alte Rabbi seinem Sohn sagte, und der sagte: Wenn du etwas nicht verstehst, Junge, es geht immer ums Geld. Und um wessen Geld geht es denn nun? Ich finde, dass es jetzt wirklich eine Bringschuld der Politik insgesamt gibt, auch des Bundespräsidialamtes, zu erklären, was denn heute auf dem Spiel steht, warum was auf dem Spiel steht, welche Alternativen also mit welchen Folgen jeweils zur Debatte stehen, und wo schließlich die Profiteure und die Opfer der Politik werden und welche weltpolitischen Implikationen das alles hat. Das muss wirklich erklärt werden, das heißt, wir brauchen einen ganz großen, breiten gesellschaftlichen Diskussionsprozess über das, was jetzt auf dem Spiel steht und welche Folgen das hat.

    Breker: Sie haben es angedeutet, Herr Schorlemmer, Joachim Gauck legt seinen Pfarrerfinger in eine offene Wunde. Stellt sich nur die Frage: Wer muss sich denn angesprochen fühlen?

    Schorlemmer: Ja, ich denke, es müssen sich alle angesprochen fühlen und ...

    Breker: Auch der Präsident?

    Schorlemmer: ... er sagte, wenn es bei der Regierung schief geht, kann die Bevölkerung nicht erwarten, dass er es richtet. Das erwartet auch niemand, aber auch sein Amt ist dazu da, zu erklären, worum es jetzt im Ganzen geht. Und jetzt müssten wir irgendwo auch zugeben, und auch Joachim Gauck müsste den Politikern das zugestehen, dass auch die Politiker gegenwärtig schwimmen wie alle, und sollen sie die Unsicherheit denn noch vergrößern? Denn ich habe sogar den Eindruck, wie soll die Kanzlerin besser erklären, was sie auch nicht weiß. Also, wo kurz- und längerfristig die Lösung ist, die für alle akzeptabel und auch noch praktikabel ist und die uns davor bewahrt, dass es nicht zu einer Renationalisierung in Europa mit unabsehbaren Folgen kommt.

    Breker: Die Menschen mitnehmen, ist schlicht leichter gesagt, weil die Dinge so fürchterlich kompliziert sind?

    Schorlemmer: Ja, sie sind wirklich kompliziert. Aber man kann schon doch sehen, wer wo immer ärmer wird und wer warum immer reicher wird, und ich finde, jetzt ist auch der Mut gefordert, für mehr – finde ich, ja – für mehr Europa zu plädieren, auch wenn diametral dagegen Andere sind, die meinen, wir dürften nicht Zahlmeister werden. Wir brauchen mehr Solidarität im Interesse des Ganzen, denn wir Deutschen waren doch bisher die Profiteure des Euro, insbesondere … und da entsteht auch eine besondere Pflicht, und es geht nicht um weniger Euro oder um mehr Nationalstaat, sondern es geht wirklich jetzt um sozusagen das europäische Projekt. Und dabei auch darum, dass die Banken nicht nur in Europa, sondern auch weltweit, das muss Politik sein auch im Weltmaßstab, dass sie in ihre Dienstfunktion zurückgeführt werden, und ihre Herrschaftsfunktion eingedämmt wird.

    Breker: Herr Schorlemmer, ich möchte noch ein bisschen bei der Frage bleiben, die Menschen bei diesen Entscheidungen mitnehmen. Thorsten Albig, der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, hat auf das Beispiel Hartz-Gesetze verwiesen. Damals habe die SPD eben die Menschen nicht mitgenommen, und weil sie sie nicht mitgenommen haben, haben sie bei den nächsten Wahlen eine schmerzliche Erfahrung durchmachen müssen.

    Schorlemmer: Da hat der Ministerpräsident völlig recht. Es fiel mir auch ein, dieses Wortungetüm Hartz IV war auch so eine, sozusagen, Verschleierung. Und man hätte wirklich besser erklären müssen, auch welche Schwierigkeiten zu lösen sind und dass es beim Lösen der Schwierigkeiten für viele Menschen auch Schwierigkeiten gibt. Aber dann auch klarzumachen, welche Alternativen hätte es denn gegeben dazu. Und das hat diese Regierung, und vor allem Herr Clement, der Superminister damals, sträflich versäumt. Aber diesmal würde es bei Wahlen ja nicht nur um Deutschland gehen, diesmal geht es um weltpolitische Konsequenzen von Politik. Und auch die Opposition bleibt, und das hat sie bisher ja auch getan, in der Mitverantwortung. Hier geht es nicht um Parteipolitik, hier geht es um die Zukunft Europas, und die muss uns, denke ich, wichtig bleiben und wir müssen verhindern, dass so etwas auch in Deutschland wieder passiert, wie es gegenwärtig mit der Renationalisierung des Denkens und Fühlens schon in einigen anderen Ländern wie Tschechien oder in Ungarn passiert. Oder in den, denke ich, populistisch gefährlichen Zuschreibungen von Schuld, die es in der griechischen Bevölkerung gegenwärtig gibt.

    Breker: Herr Schorlemmer, dann müssten wir ja eigentlich sagen, Joachim Gauck hat als Bundespräsident absolut richtig gehandelt, weil er gesagt hat, die Politik muss mehr Aufklärungsarbeit leisten.

    Schorlemmer: Da hat er völlig recht, aber er darf sich nicht auf Kosten der Kanzlerin profilieren. Ich glaube auch nicht, dass er das dort wollte. Aber die Verantwortung des Bundespräsidenten, des Bundespräsidialamtes ist hier auch nicht von der Hand zu weisen. Hier geht es um ganz grundsätzliche Fragen, wie soll ich sagen, wie wir Deutschen uns jetzt gegenwärtig emotional und politisch verhalten zu Europa. Und da ist eigentlich ein großer runder Tisch gefordert, an dem die Wissenschaftler Platz nehmen, an dem die Gewerkschafter Platz nehmen, an dem die Politik parteienübergreifend Platz nimmt. Wir brauchen wirklich einen großen runden Tisch. Die Unsicherheit der Menschen ist ganz, ganz groß. Und wir dürfen sie nicht vergrößern. Aber wir dürfen ihnen auch nicht suggerieren, die Politik wüsste jetzt die Lösung. Aber sie darf auch nicht sagen, wir wissen auch nichts. Sondern wir sind auf der Suche nach einer Lösung für das vereinte Europa, dass auch in Griechenland mitentschieden wird, auch in Spanien mitentschieden wird und auch in dem Empfinden der Deutschen da ist, und dass wir, dass gewissermaßen diese Angst, wir könnten unser Geld und unseren Wohlstand verlieren, muss in Zusammenhang gestellt werden mit dem, mit den Fragen, vor denen gegenwärtig bei der Sparpolitik etwa die Spanier stehen. Und ich verstehe überhaupt nicht, muss ich sagen, und ich muss überhaupt wissen, wie die Bundeskanzlerin mir das erklärt, warum man nicht von vornherein einerseits Sparpolitik und andererseits Investitionspolitik betrieben hat. Man kann doch nicht die Schulden loswerden, wenn man nicht auch gleichzeitig auch Investitionen fördert.

    Breker: Herr Schorlemmer, es mag ja sein, dass Politiker selbst nicht alles im Zusammenhang mit der versuchten Lösung der Eurokrise verstehen, aber Politiker haben oftmals noch ein Bauchgefühl. Der CSU-Chef Horst Seehofer will seine Landtagswahl im nächsten Jahr, die ja im Sog der Bundestagswahl stattfinden wird, zur Abstimmung über Europa machen. Abstimmung über Europa beim jetzigen Wissensstand der Menschen – hat das überhaupt eine Chance?

    Schorlemmer: Ich habe den mulmigen Verdacht, dass er da mehr an sein Wahlergebnis denkt und damit, wie soll ich sagen, Volksmeinung aufnimmt und stimuliert. Wir wären die Zahlmeister und sollten das weiterhin nicht mehr sein. Und er will offensichtlich mit einem solchen, sagen, doch Deutschland-zentrierten, um nicht zu sagen, Bayern-zentrierten Denken, die Wahl gewinnen. Ich halte das ausdrücklich für gefährlich.

    Breker: Das würde ja bedeuten, gegen Europa zu stimmen.

    Schorlemmer: Natürlich, aber mit dem Anschein, es ginge um Europa. Nein, es geht darum, dass wir nicht die Schulden Europas tragen. So vereinfacht wird das dann. Dabei muss gesagt werden, dass das richtig ist und dass die anderen auch eine Bringschuld haben. Aber es muss doch klar sein, warum wir Deutschen, und das nicht nur wegen der berühmt-berüchtigten Hartz-IV-Gesetze, warum wir Deutschen bisher so gut dastehen und warum die anderen so schlecht dastehen. Ich würde allen Politikern raten, einen Film noch mal zu sehen, der 2008 vor der Krise entstanden ist, der auch noch Preise bekommen hat: "Let's make money!" heißt der. Und da ist alles, was dann passiert ist, ein Jahr später und in den Jahren später, schon beschrieben. Man konnte wissen, wo etwa die Katastrophe herkommt mit diesen Immobilienkrediten und den Anlageverfahren vieler Leute auf der ganzen weiten Welt, wie einzelne Leute verantwortungslos Profit machen. Und meine Auffassung ist, wenn die Wirtschaft nicht in ihre Dienstfunktion zurückgeführt wird und nur nach Profit fragt, dann verliert sie die Verantwortung für das Ganze sozusagen, das Ganze bleibt auf der Strecke, wenn der Profit weiterhin das einzige und entscheidende Kriterium politischen Handelns wird.

    Breker: Im Deutschlandfunk war das die Position von Friedrich Schorlemmer, dem ehemaligen DDR-Bürgerrechtler. Herr Schorlemmer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!

    Schorlemmer: Danke auch!

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