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Wie Tote leben

Die Krankheit, der karzinöse Räuber, ist in den Körper der Frau eingedrungen. Es geht dem Ende zu und die Welt geht auf Distanz der behandelnde Chirurg fixiert schon wie ein Pathologe den Fall; die Töchter wählen bekannte Muster: die eine übt sich in der Planung für die letzten Tage der Mutter; die andere, eine Heroin-Abhängige, macht selbst die Sterbende noch zum Medium eines ihrer Selbsterfahrungstrips.

Werner Könne | 12.08.2002
    Am anderen Pol der Welt bleibt Lily zurück , die unheilbar Kranke, die das Undenkbare, das Nicht -mehr- sein, vor Augen hat. Die Situation ist ein Skandal, dem vorübergehend mit Morphium und Fliegerisch korrekten Sätzen begegnet wird: "Ihre Mutter hatte eine sehr ruhige Nacht."

    So etwas geschieht täglich und ist uns doch ganz unvertraut. Der Schock der Trennung, das dumpfe Schweigen, die gespenstische Undeutlichkeit unserer Gefühle: Sterben und Tod bilden noch immer die größte Herausforderung für die Literatur.

    Hundertfünfzig Seiten lang liest sich der Roman des britischen Autors Will Seif wie eine gelungene Fortschreibung von Leo Tolstois Erzählung "Der Tod des Ivan Illjitsch. Die Dramaturgie ist bekannt: die Welt macht weiter und zieht eine Grenze aus Scham und Peinlichkeit zur Sterbenden. Diese wacht nachts auf, entsetzt vor Einsamkeit und starr vor Erkenntnis: Zukunft gibt es für sie nicht mehr, und die Erinnerung lässt endgültige Bilder hervorschießen, Situationen, in denen sie halb, falsch oder gar nicht gelebt hat. Und dann dringt die Prosa in die "hora mortis" vor, sie zieht eine Lichtspur in den verschwiegenen Raum. Sichtbar wird das Äußerste: der Schmerz , der auf die Sterbende zugaloppiert, die Angst, ein merkwürdiges Hinausgetrieben werden aus dem eigenen Körper, die . nur noch von ferne vernommenen Anrufe, der hämmernde Beat und das Beschleunigen der Erinnerung, der Schwindel - und das Letzte. ein Zusammenstürzen, eine Implosion im Hirn.

    Self schreibt an gegen den Skandal des Todes, die Furie des Verschwindens - wütend und trotzig wie Sisyphus, in einem bissigen Humor, der uns - wie Jean Paul treffend bemerkte - den Tod am ehesten überwinden hilft. "Nur die Versager haben Mumm", lesen wir von den Lippen der Frau ab, nur die Ohnmacht bildet Geschichte, weil sie aus dem Korsett der Lebenskonzepte befreit. Und so kann diese Frau endlich erzählen: von den Männern die sie kannte und denen, die sie wollte und nicht bekam - von ihren Erfahrungen des Nie Ankommens und dem Unfalltod des Sohnes, - einer persönlichen Katastrophe, die sie von einem Tag auf den anderen alt und dick werden ließ. Sie hat ihr Leben in Dekaden unterteilt und lässt uns auf diese Weise an der Zeitgeschichte teilhaben: Es waren die vierziger, als sie, eine junge Designerin, im Stile einer Joan Crowford an der kurzen Morgenröte weiblicher Freiheit teilhatte; die sechziger, wo wir sie mit einem Liebhaber auf Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg finden. Die achtziger allerdings lassen sie verstummen, die Resignation wird in einen aufgeblähten Körper verpackt. Lebensstoff genug für einen Roman.

    Doch der Schriftsteller Will Seif wollte mehr - der Titel des Buchs verrät es: How dead live - "Wie Tote leben": Sie leben natürlich nicht weiter, sondern erfahren eine phantastische Reanimation durch den Autor: Lily wird nach ihrem Tod von einem Aborigine-Indianer über den Todesfluss geleitet und landet in einem Zwischenreich, in dem sie eine ätherische Existenz führt. In einem öden Londoner Stadtteil geht sie einer geregelten Arbeit nach, nimmt an Treffen in einem Therapiezentrum für persönlich Tote teil und macht allgemein Bekanntschaft mit den Vorzügen und Nachteilen der Todokratie - einer Ordnung, die sich kaum von der uns bekannten unterscheidet. Es treten darin Verwaltungsbeamte auf und Vizepräsidenten. Die eher zum Chaos neigende Lilly fühlt sich ernüchtert von dieser postmortalen Wiederkehr des Gleichen. Immerhin ist es ihr möglich, ihre Töchter weiterhin zu begleiten, was sie sich besser erspart hätte, denn die eine von ihnen landet mit ihrem Dealer im sozialen Abseits und die andere verfängt sich bis zur Absurdität in den Netzen perfekter Lebensplanung.

    Der literarische Zugewinn dieser Nachgeschichte erscheint bei näherem Hinsehen fragwürdig. Dass der Tod nicht länger das Tor zum Ganz Anderen, zu Himmel und Hölle darstellt, ist ein Gedanke, den man mit dem Autor durchaus teilen kann. Und es leuchtet auch ein, dass unsere westliche Ramsch-Kultur in ihrem Bemühen um Ewigkeit nichts besseres verdient hat, als einen Spiegel vorgehalten zu bekommen, worin wir uns auch nach dem Tod als dieselben Schnäppchenjäger wiederfinden, die wir vorher schon waren. Das Szenario wirkt sogar so stimmig, dass man bedauern mag, dass sich der Autor nicht konsequent daran gehalten hat. Denn er überzieht seine Prosa vor allem im zweiten Teil mit einem Zuckerguss an skurrilen Einfallen und satirischen Hinsprengseln, die die Darstellung wohl anreichern sollten, die Dramaturgie jedoch insgesamt verharmlosen.

    Lily hat sich mit einem zwischen ihren Beinen irrenden steinernen Fötus herumzuschlagen, ein Vermächtnis aus Lebzeiten, der wie ET aussieht. Auch, dass ihr Führer über den Styx ein Aborigene sein muss, deutet an, dass hier ein Zeitgeist bedient und nicht in Frage gestellt wird. Ein merkwürdig getragener Ton schleicht sich zudem ein, wenn wir mit Lily in der australischen Wüste eine der Töchter suchen - man glaubt darin eine Stimme, eine Stimmung, der Zeit auszumachen: Hinter dem Gekicher der Spaßgesellschaft verbirgt sich nur mühsam die Sehnsucht nach Überwältigtwerden und stummem Ernst. Will Self hat im zweiten Teil seines Romans wohl versucht, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Buntes Erzählen reicht dazu nicht aus.