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Wie wir die Welt verstehen

Der Mensch versucht, die Welt meist mittels einfacher Kausalzusammenhänge zu erklären. Was jedoch im Alltag bisweilen ein brauchbares Rezept sein mag, stößt bei komplexeren Problemen an seine Grenzen. Sandra Mitchell warnt in ihrem Essay "Komplexitäten" davor, die Welt mit einfachen Formeln zu entschlüsseln.

Von Matthias Eckoldt | 25.09.2008
    Das Leben ist nicht einfach, und deshalb können auch unsere Abbildungen des Lebens, unsere Erklärungen und Theorien über seine Funktionsweise nicht einfach sein. Meine These lautet: Komplexität, ob in der Biologie oder anderswo, liegt nicht außerhalb unserer Verständnisfähigkeit, sondern sie erfordert eine neue Art von Verständnis.

    Komplexität ist das große Thema von Sandra Mitchell. In ihrem gut 150-seitigen Essay legt die Professorin für Wissenschaftstheorie an der University of Pittsburgh plausibel und eingängig die erkenntnistheoretischen Probleme dar, die sich den modernen Naturwissenschaften stellen: Immer, wenn es um komplexe Systeme geht, versagen die herkömmlichen Erklärungsmodelle, die davon ausgehen, dass eine Wirkung auch auf eine Ursache zurückgeführt werden kann. Doch nicht einmal das Zertrümmern einer Fensterscheibe mithilfe eines Steins könne die Physik bis ins letzte Detail erklären.

    Wenn es um die alltägliche Welt der Dinge geht, muss sich die Mechanik mit idealtypischen Annäherungen zufrieden geben. Da diese in der Regel den Bedingungen, unter denen sie eingesetzt werden, genügen, fällt die Unschärfe der exakten Wissenschaften nicht weiter ins Gewicht. Wesentlich dramatischer stellt sich das Komplexitätsproblem jedoch bei komplexen biologischen Systemen: Mitchell macht dies an Erklärungsversuchen der Depression deutlich:

    Bei der Untersuchung der biochemischen, neurologischen und genetischen Organisationsebene wird zunehmend deutlich, dass Depressionen keine Auswirkung eines einfachen Systems sind und auch selbst kein einfach aufgebautes System darstellen.

    Depressionserkrankungen lassen sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen, und es gibt auch keine Gruppe eindeutiger Ursachen, die gemeinsam solche Auswirkungen haben.


    Der reduktionistische Weg, der noch bei der zu Bruch gegangenen Fensterscheibe zu einem zumindest befriedigenden Ziel führt, erweist sich im Falle der Depression als nicht gangbar. Eine Ursache, wie beispielsweise ein bestimmtes Gen oder ein gewisses Maß traumatischer Erfahrungen, genügt für sich genommen nicht, damit eine Depression entsteht. Vielmehr führt ein kaum zu entwirrendes Ursachengeflecht zum Ausbruch der Krankheit. An dieser Stelle, wo eine Wirkung nicht mehr eindeutig auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen ist, so legt Mitchell schlüssig dar, reden die Forscher von Komplexität.

    Dies gilt natürlich auch andersherum: Ein System wird als komplex bezeichnet, wenn aus den Ursachen nicht eindeutig die Wirkung vorherzusagen ist. Hier bringen die Komplexitätsforscher ihr Zauberwort in Stellung: Emergenz. Emergenz nun liegt immer dann vor, wenn das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Oder in Mitchells Wissenschaftssprache:

    Emergenz bedeutet, dass die Wechselbeziehungen zwischen den Einzelteilen zu neuen Eigenschaften führen, die keines der Einzelbestandteile besitzt.

    Solche anspruchsvollen Formulierungen unterfüttert Sandra Mitchell mit schlagenden Beispielen, so dass ihr der Leser folgen kann. Sie beschreibt die V-förmigen Formation eines Gänseschwarms als emergentes Verhalten, das die Flugbewegungen der einzelnen Vögel übersteigt. Nicht anders geht es ihr zufolge in einem Bienenstaat zu. An dieser Stelle schießt Mitchell sogar ein wenig Humor in ihre ansonsten sachlichen Argumentationen, mit denen sie ihr recht abstraktes Theoriethema Zug um Zug entfaltet. Sie fragt:

    Was veranlasst eine Honigbiene, zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die Suche nach Nahrung zu gehen, statt es sich im Bienenstock bequem zu machen?

    Die Komplexität erzeugende Emergenz, die das Einzelne Teil des Ganzen werden lässt. So etwa lautet die Antwort. Sandra Mitchell, deren Spezialgebiet die Philosophie der Biologie ist, belegt immer wieder, dass der Reduktionismus angesichts der Komplexität des Lebendigen versagt und schlägt dann ihrerseits einen neuen Ansatz vor, den sie integrativen Pluralismus nennt. Dieser von ihr selbst als neue Erkenntnistheorie gepriesene Problemlösungsvorschlag geht davon aus, dass man mit den Erklärungen von Komplexität nach Möglichkeit ähnlich verfahren solle wie die Dinge selbst, wenn sie Komplexitäten bilden - nämlich die einzelnen, sich teilweise auch widersprechenden Erklärungsversuche nicht unter dem Konkurrenzaspekt begreifen, sondern sie in ihrer Pluralität zu vereinen suchen. Widersprüche aushalten und nicht durch Reduktion vernichten. Als Lohn für diese Art von Erkenntnisgewinn winkt das Verständnis komplexer Zusammenhänge in der Natur.

    Der integrative Pluralismus beinhaltet die Vielfalt der Natur, die dynamische Stabilität und Instabilität der Kausalprozesse und eine nicht zu beseitigende tiefgreifende Unsicherheit. Wenn man so tut, als gäbe es das alles nicht, bestätigt man zwar eine vorgefasste Vorstellung von Ordnung in der Welt, aber man übersieht völlig, was wir genau vor Augen haben: Ein in dynamischem Wandel begriffenes, kompliziertes, komplexes, chaotisches und dennoch verständliches Universum.

    Fraglich bleibt bei Sandra Mitchells Essay über Komplexität das Zielpublikum. Schwer vorstellbar, was der an vergleichbarer Stelle oft strapazierte "interessierte Laie" mit Mitchells Vorschlag für einen integrativen Pluralismus beim Umgang mit komplexen Systemen anfangen soll! Und der Wissenschaftler? Wird er sich das Buch auf seinen wahrscheinlich recht hohen Stapel zu lesender Fachliteratur legen oder wird er lieber seiner Erfahrung und seiner Intuition vertrauen? Schließlich gibt es in der Wissenschaftsgeschichte Beispiele dafür, dass Forscher aus einem Problemlösungsdruck heraus von selbst zu pluralen Erklärungsmodellen gekommen sind. Wie Niels Bohr, der mit seinem Komplementaritätsprinzip bereits vor über achtzig Jahren die Doppel-Natur des Lichtes mit zwei sich eigentlich ausschließenden Prinzipien erklären konnte. Solche Beispiele jedoch fehlen in dem ansonsten an Beispielen reichen Buch von Sandra Mitchell.

    Sandra Mitchell: Komplexitäten
    Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen

    Übersetzt von Sebastian Vogel
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
    174 Seiten, 10 Euro