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Wie zu Stalins Zeiten

Eine Gruppe von weißrussischen Oppositionellen weilt in Brüssel, um vor Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments über die Lage in ihrer Heimat zu berichten. Nicht nur nur sie, auch Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Verteidiger und Künstler würden derzeit in Weißrussland terrorisiert und eingeschüchtert.

Von Barbara Lehmann | 12.01.2011
    "Ich möchte der EU keine Ratschläge erteilen, was zu tun sei, um die Gesetzlosigkeit in Weißrussland zu beenden. Doch sie sollte mit Präsident Lukaschenko so verfahren, wie sie es mit Terroristen zu tun pflegt. Es hat ein Akt des staatlichen Terrorismus stattgefunden: Unschuldige Menschen wurden ins Gefängnis geworfen, und zwar allein deswegen, weil Lukaschenko die Wahlen verloren hat. Das offizielle Wahlergebnis ist eine Fälschung. Lukaschenko hat nicht 80 Prozent, sondern weniger als die Hälfte der Stimmen erhalten. Aus Wut drangsaliert er mit allen Kräften all jene, die dazu beigetragen haben. Doch bevor man in Europa von Sanktionen redet, muss man erst einmal begreifen, was bei uns im Moment los ist."

    Stanislau Schuschkjewitsch ist vor knapp 20 Jahren das erste Staatsoberhaupt des unabhängigen Belarus gewesen. Heute weilt er mit einer Gruppe von weißrussischen Oppositionellen in Brüssel, um vor Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments über die Lage in seiner Heimat zu berichten. Nach Zwischenstopps in Warschau, Prag und Vilnius war die Gruppe gestern in Berlin. Sie beklagte vor allem die Situation der politischen Gefangenen.

    Der prominenteste unter ihnen ist der Dichter Wladimir Nekljajew. Bei den Präsidentenwahlen im letzten Dezember erzielte er das zweitbeste Ergebnis: Offiziell 2, 5 Prozent der Wählerstimmen wurden ihm zugesprochen. Seine Tochter Vera Neklajewa, die in Berlin mit auf dem Podium saß, ist allerdings überzeugt, dass er die Wahl gewonnen habe. Der Mann, der ihrer Meinung nach eigentlich der legitime weißrussische Präsident ist, war nach der Schließung der Wahllokale vor seinem Büro blutig zusammengeschlagen worden. Später stürmten Schwarzunfirmierte in sein Krankenhauszimmer und schleppten ihn heraus. Eine Woche lang wusste die Familie nicht, wo er ist und ob er überhaupt noch lebt.

    Währenddessen mokierte sich Lukaschenko im Parlament über seinen Rivalen: Er sei ein Weichei, weil er sich habe zusammenschlagen lassen. Und so einer habe Präsident werden wollen!

    Zwischen den Jahren erhielt die Familie nur zweimal eine kurze Nachricht über Neklajews Verbleiben. Am 29. 12 sah ihn sein Anwalt das letzte Mal: Immer wieder verlor der Dichter bei diesem Treffen das Bewusstsein.
    Und die Verhaftungen, betonten Schuschkewitsch und seine Weggefährten, gingen weiter. Nicht nur oppositionelle Politiker, auch Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Verteidiger von politischen Gefangenen und Künstler werden derzeit terrorisiert und eingeschüchtert. Tag für Tag verdichtet sich um die Gefängnisse die Wand des Schweigens.

    "Der Kontakt zu den politischen Gefangenen ist dermaßen eingeschränkt, dass wir faktisch nicht wissen, in welcher Situation sie sich befinden. Die Verhaftungen finden inzwischen nicht nur in Minsk statt, sondern auch in anderen Städten. Jeder kann angeklagt werden, einen Umsturz des Staates geplant zu haben. Das gab es so nur zu Stalins Zeiten."

    Die Gefangenen müssten unverzüglich freigelassen werden, fordert Schuschkewitsch. Harter Druck auf den Diktator sei seitens des Westens dafür vonnöten, dies sei die Sprache, die Lukaschenko begreife. Auch wirtschaftliche Sanktionen halten die oppositionellen Politiker für wichtig, weil sie die Wirtschaftskraft des Staates schwächen, mit denen dieser die Unterdrückungsmaßnahmen finanziere. Weiterhin wünschen sie sich eine Resolution des Europäischen Parlaments und eine Anhörung im Europarat, bei der Vertreter der weißrussischen Regierung wie auch die oppositionellen Kräfte Gehör finden würden. Gleichzeitig bekräftigten die Gäste immer wieder, dass sie in ihrer Heimat eine einheitliche Front gegen Lukaschenko bilden würden.

    "In Europa existiert der Mythos, die weißrussische Opposition sei zersplittert und nicht in der Lage, einen einzigen Kandidaten aufzustellen. Das ist Unsinn. Es gibt bei uns keine Opposition im westlichen Sinne. Die Opposition ist mit diktatorischen Methoden aus dem Parlament vertrieben worden. Die staatlichen Medien sind gleichgeschaltet und zu Mitteln der Propaganda geworden. Wenn wir nur einen Kandidaten aufgestellt hätten, hätten wir die Wahlen verloren. Die zehn Kandidaten aber konnten vor der Wahl im ganzen Land herumreisen und im Gespräch mit den einzelnen Bürgern für demokratischen Werte und Vertrauen werben. Deshalb hat die Mehrheit für sie gestimmt und sie haben die Wahlen gewonnen. Wir haben in diesen Tagen ein entsprechendes Dokument unterzeichnet. Alle demokratischen Kräfte, die an dieser Wahl teilgenommen haben, bilden eine Einheit."

    Die Oppositionellen beklagten, dass Lukaschenko vor der Wahl von der deutschen Regierung unterstützt worden sei. Geprägt von der eigenen totalitären Erfahrung könne Deutschland nun aber zum Zugpferd einer neuen europäischen Politik werden, die klare Antworten an den Diktator hätte. Projekte wurden beschworen, welche die Zivilgesellschaft stärken könnten. Hilfe für die Genesung derer, die bei den Repressionen misshandelt wurden, stand ebenfalls auf der Wunschliste weit oben. Auch sollte jenen, die ihre Arbeit bei staatlichen Stellen verloren, mit neuen Jobs unter die Arme gegriffen und die freien Medien gefördert werden. Und jene jungen Leute, die auf Minsk Straßen für ein Leben in Freiheit kämpften, sollten nun die Möglichkeit erhalten, ohne Visazwang und -Gebühren nach Europa einreisen zu dürfen. Menschenrechte und Geiseln, lautete Schuschkewitschs abschließender Vorwurf an Lukaschenko, seien keine wohlfeile Münze, mit der man schachern könne. Dies müsse die Europäische Union begreifen.
    Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko
    Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko (AP)