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Wiederveröffentlichung von Throbbing Gristle
Die Abwracker der Zivilisation

Mit ihren Performances, Konzerten und Ausstellungen hat das britische Quartett Throbbing Gristle die Geschichte eines brutalen Jahrhunderts erzählt. Ihre Strategie sei gewesen, der Gesellschaft einen Zerrspiegel vorzuhalten, zu welchen Untaten sie in der Lage sei, sagte Kulturwissenschaftler Uwe Schütte im Dlf.

Uwe Schütte im Corsogespräch mit Ulrich Biermann | 02.11.2017
    Die Musiker von "TG" 1980, ein Jahr bevor sich die Band auflöste
    Die Musiker von "TG" 1980, ein Jahr bevor sich die Band auflöste (ThrobbingGristle / Industrial Records)
    Ulrich Biermann: Erzählen wir jetzt eine düstere Geschichte mit sehr viel Nachhall: Morgen vor 40 Jahren erschien "The Second Annual Report", das Debüt von Throbbing Gristle. Vier erklärte Nichtmusiker, die in Zeiten vor dem Punk zusammenfanden, mehr Performancekünstler als Instrumentalvirtuosen. Eine Formation, die wie nie zuvor in der Popkultur Klang, Lärm, Rhythmus und die dunkle Seite der menschlichen Existenz miteinander verwob. Pioniere des Lärms, deren Einfluss nicht zu überschätzen ist. Ab 3.11. wird das Label Mute den kompletten Katalog des Quartetts nach und nach wieder veröffentlichen. Was ist das - Nostalgie, was für Sammler, Fans, oder Nochzuentdeckendes - Uwe Schütte?
    Uwe Schütte: Ich denke beides. Man muss auch bedenken, dass es die dritte - oder ich glaub sogar schon vierte - Wiederveröffentlichung, zumindest der Kernplatten, ist. Das widerspricht interessanterweise ja auch völlig dem radikalen Ethos dieser Band, die sich gleichsam vollends gegen das Musikbusiness und jede Form von Kommerzialität gestellt hat.
    Hörbare Verwesung
    Biermann: Dr. Uwe Schütte, willkommen zum Corso-Gespräch. Sie sind Kulturwissenschaftler, lehren an der Aston University in Birmingham, vor zwei Jahren haben Sie ein sehr kundiges Essay über Genesis P-Orridge, den Throbbing-Gristle-Gründer, veröffentlicht. "Wreckers of Zivilisation", also die Abwracker der Zivilisation sind Throbbing Gristle mal von einem Politiker beschimpft worden. Was eigentlich ein Etikett ist, das genau passt, denn wenn es etwas gibt, was Throbbing Gristle klanglich abgebildet haben, dann ist es, wie die Zivilisation sich selbst abgewrackt hat im 20. Jahrhundert.
    Schütte: Ja, sicherlich und vor allem sie stammen ja aus der nordenglischen Industriegegend, mit eben diesem Industrial-Sound haben sie im Zeitalter des Postindustriellen, als auch in Großbritannien längst der Trend absehbar war, dass die Industrie nicht mehr eine Rolle spielen wird, nochmal diesen Lärm aus den Fabrikhallen wieder neu definiert als Musik. Ganz ähnlich vielleicht auch wie Kraftwerk.
    Biermann: Es war ja nicht nur der Lärm, sondern es waren ja auch die Schreie der Opfer der Moderne, die zu hören waren in der Musik von Throbbing Gristle.
    Schütte: Ja, genau. Und gerade auch in dem Debütalbum von ihnen, das ja jetzt eben sein Jubiläum erlebt, ging es auch sehr stark um das Organische. Kraftwerk haben diesen cleanen Maschinensound gemacht und Throbbing Gristle haben es sehr erfolgreich geschafft, diese Art von Fäulnisgestank, Verwesung und organischem Zerfall auch noch im Medium dieser damals noch neuen elektronischen Musik hörbar und erfahrbar zu machen.
    Musik als Aufklärungswaffe
    Biermann: Sie sind mit ihrem Label Industrial Records zum Namensgeber geworden dieser Richtung Industrial. Wie würden Sie Industrial definieren?
    Schütte: Ich würde es nicht wagen, es heute zu definieren, denn da ist es ganz klar ein Kommerzlabel oder eine Art Etikett geworden, mit dem man Jugendliche frustrierter Natur für irgendeine harte Art von Musik gewinnen kann. Damals hingegen war Industrial eine Kunstmusik, eine Avantgarde-Musik, ein Versuch, tatsächlich etwas abzubilden und Musik vor allem umzukodieren als Waffe, als Aufklärungswaffe, als Versuch gegen den Konsens und gegen den Alltag etwas zu erschaffen, was in der Tat singulär und einmalig war und sich nicht eingepasst hat in irgendwelchen kommerziellen Schemata.
    Biermann: Diese Idee der Guerilla-Taktik der Gegenkultur, den Throbbing Gristle bei William S. Burroughs entlehnt haben, wie haben sie mit dem gearbeitet?
    Schütte: Naja, in einer eigentümlichen Mischung aus Kunst, aus Intellektuellem und aus einer radikalisierten Punk-Attitüde und dem Versuch, eben ihre Performance-Kunst auch in die Musik einzubringen. Und das war damals doch sehr einmalig.
    Biermann: Was war der Tabubruch?
    Schütt: Hauptstächlich Sexuelles, Inzest. Sie haben ja dieses Video gemacht, in dem sie eine Kastration live nachgestellt haben, das sah so echt aus, dass viele Leute in Ohnmacht gefallen sind. Diese ganzen Tabuthemen: einer Schwangeren den Bauch aufschlitzen, das Baby rausholen und dann zertreten. Also derartige Grausamkeiten, die wohl auch in beschämender Weise natürlich in Realität die Nazis damals in den Konzentrationslagern gemacht haben, wie überhaupt auch die Übernahme von Nazi-Mustern, Ikonographie, die selbst in Großbritannien - hier ja noch mehr - ein Schock waren, ein Tabubruch.
    "Der Gesellschaft einen Zerrspiegel vorhalten"
    Biermann: Das hat sie immer wieder in eine ganz komische Ecke gedrängt. Viele konnten sie nicht einordnen und haben gedacht: Hallo, sind das Faschisten?
    Schütt: Ähnlich wie Laibach, wo das ja auch nicht der Fall ist. Es war der Strategie, der Gesellschaft einen Zerrspiegel vorzuhalten, zu zeigen, zu welchen Untaten und wie die Realität unserer kapitalistischen Gegenwart in Wirklichkeit aussieht.
    Biermann: "Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht", hat Georg Büchner in seinem "Woyzeck" schon formuliert im 19. Jahrhundert. Man könnte den Katalog von Throbbing Gristle als die musikalische Umsetzung davon definieren.
    Schütt: Absolut. Mit diesen erstaunlichen, wunderbaren Ausbrüchen. Wo das Kakophonische, das eben auch schlecht oder kaum zu Ertragende, als Hörer dann in diese musikalischen Momente von fast einer Art Harmonie, Rhythmus und Allgemeinverträglichkeit übergeht - und da, finde ich, sind sie dann eben auch am allergrößten.
    Popgestus gibt Größe
    Biermann: Interessant, wie sie es dann schaffen, Pophymnen mit verführerischem Gesang zu kreieren.
    Schütt: Wenige natürlich, das war ihnen schon klar, dass sie das nicht übertreiben durften. Genau aus dieser Spannung, also dass sie einerseits gezeigt haben: Das sind wir, nämlich der Widerstand, die Verweigerung der Konvention. Aber nebenbei durchblicken zu lassen: Wir können es aber auch anders. Das ist natürlich auch - der Popgestus gibt dem frühen Oeuvre eine gewisse Größe.
    Biermann: Wie würden Sie den Einfluss von Throbbing Gristle bis heute formulieren?
    Schütt: Den würde ich veranschlagen vor allem auf Grund dieser Kunstkonzeption und dieser Herangehensweise. Zu sagen, dass jetzt Nine Inch Nails oder Rammstein in direkter Weise von Throbbing Gristle gelernt haben, das sehe ich keineswegs so. Eine interessante Einflusslinie ist Propaganda, die Düsseldorf/Londoner-Pop-Band der 80er, die sich gegründet hat als Abspaltung von den Krupps, eben genau das zu machen: "Discipline", ein Song von Throbbing Gristle als Pophymne zu interpretieren. Und in solchen überraschenden oder vereinzelten konzeptionellen Überschneidungen, da sehe ich ihre Wirkung.
    Biermann: Dr. Uwe Schütte zur Neuveröffentlichung des Backcatalogues durch Muse Records zu Throbbing Gristle. Und hier ein Stück von ihnen, "Persuasion". Ein paar Worte von Ihnen zu "Persuasion"?
    Schütt: Eine der sehr schönen Disko-Industrialhymnen von Throbbing Gristle. Mehr möchte ich dazu gar nicht sagen.
    Biermann: Danke für das Gespräch.
    Schütt: Danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.