"Sagte sie: 17 Erzählungen über Sex und Macht"

Männer, Frauen - und dazwischen jede Menge Erzählstoff

Lina Muzur, Kolumnistin und stellvertretende Verlagsleiterin von Hanser Berlin
Lina Muzur, Kolumnistin und stellvertretende Verlagsleiterin von Hanser Berlin © imago/IPON
Lina Muzur im Gespräch mit Frank Meyer · 03.08.2018
Die Anthologie „Sagte sie“ versammelt ausschließlich weibliche literarische Stimmen zum Thema Sex und Macht. Die Metoo-Debatte sei nicht der Auslöser gewesen, erklärt Herausgeberin Lina Muzur.
Frank Meyer: "Was läuft falsch zwischen Männern und Frauen? Einige der besten Autorinnen der deutschen Gegenwartsliteratur erzählen." So wird ein Buch angekündigt, ein Buch mit dem Titel "Sagte sie. 17 Erzählungen von Frauen über Sex und Macht". Das Buch ist im Hanser Berlin Verlag erschienen, herausgegeben von der stellvertretenden Leiterin dieses Verlages, Lina Muzur, und die ist jetzt hier bei uns im Studio. Seien Sie willkommen, Frau Muzur!
Lina Muzur: Guten Tag!
Meyer: In Ihrem Vorwort zu dem Buch beziehen Sie sich auf die MeToo-Debatte. War das jetzt tatsächlich der Auslöser dafür, dieses Buch zu machen, diese große Debatte?
Muzur: Es waren eigentlich zwei Dinge. Erstens hab ich schon länger überlegt, ob es nicht interessant wäre, vielleicht ein Buch zu machen, in dem die interessantesten deutschsprachigen Autorinnen und Autoren versammelt sind, und dann kam aber eben dieser Moment hinzu, in dem MeToo plötzlich hochkam und alle darüber redeten, und eigentlich war die Anthologie letztens Endes so eine Art Experiment. Es war die Frage, kann man Erzählungen versammeln, die wirklich literarisch stark sind, also einfach gute Erzählungen, die aber unter einem Oberthema stehen, das sehr aktuell ist und gesellschaftlich sehr relevant ist, also auch die Frage, was für einen Beitrag kann Literatur eigentlich zu den Debatten unserer Zeit leisten.

Zum Thema Sex und Macht im weitesten Sinne

Meyer: Und haben Sie dann Autorinnen – es sind ja nur Frauen, die geschrieben haben dafür –, gebeten, Texte direkt für das Buch zu schreiben? Ich weiß, eine Geschichte von Annett Gröschner, die ist schon älter, die ist vor 30 Jahren erschienen, die hat aber auch eine ganz besondere Geschichte, und die anderen, sind die exklusiv für das Buch geschrieben worden?
Muzur: Die sind exklusiv für das Buch geschrieben worden, und das war natürlich total wichtig, dass sie extra für das Buch geschrieben werden, weil ich einfach vor allem sehr neugierig war, was diese Autorinnen zu diesem Thema schreiben würden, in diesem bestimmten Moment.
Meyer: Und was war das Thema, wie haben Sie das Thema formuliert oder welchen Wunsch, welche Bitte haben Sie dann an die Autorinnen herangetragen?
Muzur: Ja, das war mir sehr wichtig, dass das Thema relativ weit gefasst ist. Ich habe im Grunde genommen nur gesagt, schreibt etwas zum Thema Sex und Macht im weitesten Sinne, über Rollenklischees und Machtmissbrauch vielleicht, und mehr hab ich eigentlich nicht gesagt. Es gab auch keine Vorgaben, was die Länge der Erzählungen anbetrifft, die sollten einfach genauso lang oder kurz sein, wie es die Geschichte erfordert hat, die sie eben erzählen wollten. Es war ein sehr weit gefasstes Thema, und das war auch das, was mich daran interessiert hat, was kommt dabei heraus, wenn man eben das nicht so eng vorgibt, sondern einfach sagt, es geht um Sex und Macht im weitesten Sinne und was macht ihr daraus.
Meyer: Man muss ja vielleicht auch aufpassen bei so einem Projekt, dass man, wenn man so Texte beauftragt gewissermaßen, dass dann nicht eine Art von Auftragsliteratur entsteht, die dann eigentlich nur eine These zu bebildern versucht.

Die Bandbreite der Erzählungen ist groß

Muzur: Ja, natürlich. Ich meine, ich wusste wirklich nicht, was dabei herauskommen würde, ich kannte die Autorinnen alle, ich habe sie angefragt, weil ich sie alle sehr schätze, weil ich finde, dass sie alle einen ganz besonderen Stil haben, den ich bewundere. Aber trotzdem konnte ich letzten Endes nicht wissen, ob die Erzählungen auch literarisch stark sein würden, und ich konnte nicht wissen, ob sie nicht vielleicht sich sehr ähnlich sein würden. Nach und nach trudelten die Erzählungen dann ein, und ich hab ziemlich schnell gemerkt, dass sie sehr unterschiedlich sind, dass die Bandbreite sehr groß ist, dass es sehr viele verschiedene Perspektiven und Settings gibt, und war wirklich extrem erleichtert.
Meyer: Schauen wir vielleicht dann erst mal auf die eine Ausnahme, auf die wir schon kurz zu sprechen gekommen sind, den Text von Annett Gröschner – soweit ich mich erinnere, 1988 zum ersten Mal publiziert, allerdings auch nicht so richtig offiziell. Können Sie uns vielleicht kurz erzählen, was das für eine Geschichte ist und welche Geschichte diese Erzählung hat.
Muzur: Das ist ein sehr interessanter Fall. Ich hab mich mit Annett Gröschner unterhalten über diese Anthologie, und ich hab sie gefragt, ob sie Lust hätte, ebenfalls dabei zu sein. Und dann hat sie mir irgendwann von dieser Erzählung erzählt und mir auch erzählt, dass sie nur in einer Untergrundzeitschrift erschienen ist, dass es aber damals sehr, sehr krasse Reaktionen gegeben hat auf diese Erzählung.
Meyer: In der DDR war das.

Annett Gröschners Erzählung einer Vergewaltigung

Muzur: In der DDR. Man kann es auch nachlesen. Also man kann die Reaktionen ihrer Kritikerinnen und Kritiker auf diese Erzählung nachlesen, und wir haben auch kurz überlegt, sogar die mitzuveröffentlichen, das haben wir dann am Ende nicht getan. Aber der Punkt war vor allem der, dass sie im Grunde genommen zerfleischt wurde für diese Erzählung, in der es um eine Vergewaltigung geht: Also eine Frau läuft in Moskau, es ist Winter, es ist total verschneit, und sie wird von einem Mann in den Schnee geworfen und brutal vergewaltigt. Und dass es auf diese Erzählung solche Reaktionen gab, liegt teilweise auch einfach an den politischen Umständen – es sollte nicht schlecht über die Russen geredet werden, und solche Aspekte haben eine große Rolle gespielt. Und das fand ich natürlich unglaublich, als ich das gehört habe, und wollte auf jeden Fall, dass diese Erzählung noch mal einen ganz eigenen Rahmen bekommt und einfach noch mal ordentlich veröffentlicht wird.
Meyer: Sie schreiben jetzt in Ihrem Vorwort zu diesem Buch, es gehe in den Erzählungen viel um Wut und Angst und Scham, aber es gehe um noch viel mehr – da sagen Sie, weil Literatur die Welt noch realistischer abbilden könne, als sie in Wirklichkeit ist. Vielleicht können Sie uns das an einem Text mal erklären, was Sie damit meinen, inwieweit Literatur die Welt realistischer abbilden kann, als sie ist.
Muzur: Ja, das ist erst mal eine Behauptung, aber ich glaube daran, dass es vielleicht wirklich stimmt, weil erstens, in der Literatur geht es nicht darum, dass man irgendwie eine Seite ergreift, es geht nicht darum, dass eine bestimmte Meinung transportiert wird. Im besten Fall ist Literatur einfach Literatur und beschreibt bestimmte Dinge auf eine sehr elaborierte, sprachlich elaborierte Art und Weise, und man kann als Leser seine Schlüsse daraus ziehen.
Es gibt zum Beispiel eine Erzählung – ich finde, dass das eigentlich bei allen Erzählungen der Fall ist, aber ich picke jetzt eine heraus –, das ist die erste von Antonia Baum. Der geht es darum, dass eine Frau, sie hat einen Chef, der Chef ist eigentlich sehr nett, findet sie, und es kommt dazu, dass die beiden abends bei einem Businesstermin zusammen sind und irgendwann auch im Taxi weiterziehen. Und in diesem Taxi fängt er an, sie zu begrapschen, und da stellt sie aber fest, dass sie das auf gar keinen Fall möchte, aber sie weiß nicht genau, wie sie aus dieser Situation herauskommen soll. Sie selbst möchte gut da rauskommen, sie möchte aber vor allem auch, dass ihr Chef da gut rauskommt. Es ist eine sehr ambivalente Situation, und ich denke, dass auch viele Leserinnen, die das lesen, das Gefühl haben werden, dass sie das vielleicht auch selbst erlebt haben. Aber es ist halt interessant, wie diese Frau einfach nicht weiß, wie sie da rauskommen soll, wie sie am besten irgendwie dem Mann signalisieren soll, dass sie nicht will, ohne ihn zu beleidigen. Und dann begrapscht er sie immer mehr, und sie gibt Schreckenslaute von sich und schreit einmal kurz auf, er denkt aber, dass das ein Schrei der Lust ist, es wird eigentlich immer schlimmer. Ich lass jetzt offen, wie das ausgeht.
Aber das Interessante ist, dass da sehr, sehr viele komplizierte Dinge stattfinden. Die Protagonistin sagt auch, es gibt Momente, da liebe ich es, von Männern angesehen zu werden, denn Männer haben Macht. Das ist natürlich eine Aussage, die beweist, dass diese Frau sich auch in eine Rolle fügt, und zwar in die Rolle des Opfers mehr oder weniger, indem sie den Männern die Macht zuschreibt. Und natürlich, dass der Mann sich das Recht herausnimmt, sie zu begrapschen, sie aber nicht nein sagt, sondern es geschehen lässt und so weiter und so fort. Da gibt es sehr, sehr viele Aspekte, die plötzlich so ganz, ganz überdeutlich werden, finde ich, wenn man das liest.

Nur in der Literatur kann man 1000 Elefanten auftreten lassen

Meyer: Es gab ja jetzt im Rahmen der MeToo-Debatte auch sehr viele Erzählungen von sexuellen Übergriffen, von Situationen, die auch so auf der Kippe stehen wie die Situation, von der Sie jetzt erzählt haben aus dieser Erzählung. Was unterscheidet denn jetzt in Ihren Augen so diese literarische Fassung, die Sie in diesem Band aufgenommen haben, von einem, sag ich jetzt mal, normalen Bericht im Rahmen dieser MeToo-Debatte, die man lesen konnte?
Muzur: Ja, das ist natürlich, was ich eben auch sagte, es ist die Kunst, also die Kunst gibt dem Künstler, in dem Fall den Autorinnen, die Freiheit, zu tun, was sie wollen. Es gibt keine Tabus, es gibt keine Richtlinien, sie müssen sich eigentlich noch nicht mal an moralische Standards halten, sie können eine Welt erschaffen, wie es ihnen beliebt. Nur in der Literatur kann man eigentlich zum Beispiel 1000 Elefanten auftreten lassen, das kann man ja nirgends sonst. In der Literatur ist alles möglich, und diese Autorinnen haben die absolute Freiheit, mit der Sprache alles zu machen, was sie möchten. Ich glaube, dass das ein großer Unterschied ist, weil es eben nicht diesen Wunsch dahinter gibt, irgendwie den Leser zu lenken oder so, sondern es wird einfach eine Geschichte erzählt, und die muss für sich stehen. Und was der Leser da rauszieht, ist natürlich seine Sache.
Meyer: In dieser Erzählung gibt es ja dann auch noch andere Instanzen: Die Erzählerin hat so Stimmen im Kopf, eine feministische Stimme sozusagen, und dann gibt es eine Hellmuth-Karasek-hafte Sektion, die das Ganze kommentiert. Das ist ja zum Beispiel etwas, was man in einem normalen Erfahrungsbericht nicht finden würde, dass es andere Instanzen gibt …
Muzur: Natürlich, andere Ebenen, ja.
Meyer: … die das Geschehen noch einmal kommentieren und verschiedene Verhaltensweisen, die man haben könnte, dem Gegenüber noch mal vorwegnehmen.
Muzur: Genau, oder eine Erzählung von Jackie Thomae spielt in der Zukunft und eine andere ist so ein bisschen comicartig überdreht von Juliane Liebert. Das sind natürlich alles Wege irgendwie, die Gegenwart zu nehmen und aus ihr etwas anderes zu machen mit der Kunst und daraus dann vielleicht irgendwelche Schlüsse zu ziehen.

Mädchen, die schon sehr früh anfangen, sich zu entschuldigen

Meyer: Sie schreiben in Ihrem Vorwort auch, dass das Buch eher fällt in eine Zeit der Neuverhandlung der Verhältnisse zwischen Frauen und Männern. Wird denn in den Texten davon etwas sichtbar, also dass tatsächlich etwas Neues, was schon entstanden ist oder im Entstehen ist, auftaucht, vom Verhältnis zwischen Frauen und Männern?
Muzur: Ich denke ja, aber ich glaube, es geht vor allem darum, dass ganz viele Klischees und Geschlechterrollen, dass die einfach aufgedeckt werden. Es gibt wie gesagt ganz, ganz viele unterschiedliche Herangehensweisen, die hier deutlich werden. Es gibt Autorinnen, die schreiben eben über Chefs, die mit ihren Angestellten schlafen wollen, aber wir haben auch die Angestellte eben bei Juliane Liebert, eine gewisse Beate, die unbedingt mit ihrem Chef schlafen möchte.
Wir haben Kinder bei Kristine Bilkau, wo man merkt, die Jungs werden anders behandelt als Mädchen und haben andere Rechte und können sich mehr herausnehmen als die Mädchen, die schon sehr früh anfangen, sich zu entschuldigen für Sachen, die sie nicht getan haben. Und wir haben bei Anna-Katharina Hahn eine Umdrehung davon – da ist es so, dass die Mädchen den kleinen Jungen belästigen, und die Mutter findet das heraus und weiß nicht, was sie machen soll.
Wir haben bei Mercedes Lauenstein eine Frau, die mit einem Typen schläft, und der Typ will das gar nicht, und sie zwingt ihn dazu und hat danach noch nicht mal ein schlechtes Gewissen. Also es ist schon sehr interessant, dass es da eigentlich alles Mögliche gibt, und das finde ich eben so toll, dass es eigentlich keine Klischees sind. Auch bei Heike-Melba Fendel, die ältere Frau, deren junger Liebhaber, der ist 18 Jahre jünger, mit ihr Schluss macht.
Meyer: Lina Muzur, stellvertretende Verlagsleiterin des Hanser Berlin Verlags und Herausgeberin des Buches "Sagte sie. 17 Erzählungen über Sex und Macht", in eben diesem Verlag erschienen, bei Hanser Berlin, mit 224 Seiten, 20 Euro ist der Preis. Vielen Dank für das Gespräch!
Muzur: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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