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Wien von unten

Max Winters Reportagen aus Obdachlosenheimen, Wärmestuben und Polizeirevieren waren vor dem ersten Weltkrieg so berühmt wie ihr Verfasser: Die Arbeiterzeitung, für die Max Winter schrieb, war keineswegs nur Hausblatt der österreichischen Sozialdemokratie, sie war eine bedeutende Stimme im Chor der europäischen Zeitungen. Winter schrieb nicht nur, er hat die Kinderfreunde-Bewegung mitaufgebaut, wurde selbst zum Politiker und 1919 Vizebürgermeister von Wien.

Von Beatrix Novy | 01.12.2006
    Der Specklmoriz ist schon zehn Schritte voraus. Da ich ihm nun nachkeuche, scheint es mir, dass er lauft. So schnell kommt er, so langsam ich vorwärts. Schon nach den ersten zwanzig Schritten glaube ich, dass ich zurück muss. Mehr als zwei Fünftel meines Körpers muss ich unterdrücken, um durch den niederen gemauerten Kanalganb durchzukommen. Der Oberkörper ist in der Waagrechten, die Beine sind etwas gebeugt. In der Rechte trage ich das Lämpchen, dessen offene Flamme bei jedem Schritt nach vorwärts einen schwarzen Rauchschwall meinen Lungen sendet.

    Für einen normalen Schreibtischmenschen ist diese Art der "Strotter", sich ein Zubrot zum erbärmlichen Lebensunterhalt zu verdienen, kaum vorstellbar. Nur einen, einen einzigen gab es, der es so genau wissen wollte, dass er mit hinabstieg in die dämmrigen Kanäle der großen Stadt. Die Strotter, das waren Männer, die dort unten nach Münzen, Metall oder sonst wie Brauchbarem suchen. Der eine, das war Max Winter, Reporter bei der Arbeiterzeitung in Wien.


    Hannes Haas:
    " Max Winter glaubte an die Kraft der Aufklärung: Wenn ich Missstände beweisen kann, dann muss das System reagieren. "

    Diesen unzeitgemäßen Idealismus möchte Hannes Haas, Professor an der Wiener Medienhochschule, seinen Studenten wenigstens noch zur Kenntnis bringen; auch für sie hat er Max Winters Reportagen erstmals wieder zu einem Buch gemacht. Diese Reportagen waren vor dem ersten Weltkrieg so berühmt wie ihr Verfasser. Und die Arbeiterzeitung, für die Max Winter schrieb, war keineswegs nur das Hausblatt der österreichischen Sozialdemokratie, sie war unter ihrem Gründer und Chefredakteur, dem hochgebildeten Mediziner, Politiker und Journalisten Victor Adler eine bedeutende Stimme im Chor der europäischen Zeitungen.

    " Seine wichtigste journalistische Darstellungsform ist die Sozialreportage. Er hat für die AZ 1500 Reportagen geschrieben, viele in Buchform, der Journalist hat sich zum Schriftsteller versammelt, hat Alfred Polgar geschrieben. "

    Mit den heute noch geläufigen Namen des Wiener fin de siècle verbindet sich die eigentümliche Atmosphäre der literarischen und gelehrten Elite, Klimt, Neurath, Hofmannsthal, Mahler gehören zum historischen Kapital, das sich für die Stadt Wien bis heute bestens touristisch verzinst. Wer damals im Wiener Bürgertum zuhause war, wusste wenig oder nichts von Elend und Wohnungsnot der Großstadt. Für die 1903 geborene Architektin Grete Schütte-Lihotzky zum Beispiel wurde der Rat ihres Lehrers, sich einmal in den Problemvierteln ihrer Heimatstadt umzuschauen, zum Umkehrerlebnis: zum ersten Mal lernte sie die angespannten Verhältnisse der Armen kennen, überfüllte und verdreckte Wohnungen, Bettgeher, kranke Kinder. Der Fotograf Emil Mayer schaute hinter die Kulissen des Prater und fand Trunksucht, Gewalt, Trostlosigkeit: "Wurstelprater". Die Kehrseite der schönen Stadt - Max Winter wollte sie zeigen und kroch buchstäblich in sie hinein.

    Je länger ich in der Wärmestube war, desto mehr wuchs in mir die Sehnsucht nach einer Zigarette, desto mehr bedrückte mich die verdorbene Luft, und doch war es erst halb 12 Uhr. Wie mag es in diesem Raume um 5 Uhr morgens sein, wenn jetzt schon die Luft, trotz aller Vorsichtsmaßregeln, die bebraucht werden, so arg verschlechter ist?! Keiner der Obdachlosen darf seine Unterkleider ablegen, auch dann nicht wenn sie nass sind ... Dieses Verbot des Ausziehens ist eine Vorsichtsmaßregel, um eine noch größere Verpestung der Luft hintan zu halten. Dennoch dünkt mich jetzt schon die Luft unerträglich.

    Max Winters Reportagen waren so populär, dass er, dessen Gesicht ja nicht durch Illustrierten ging wie heute, manchmal doch erkannt oder doch vermutet wurde. Er schrieb ja nicht nur, er hatte die Kinderfreunde-Bewegung mitaufgebaut, wurde selbst zum Politiker und 1919 Vizebürgermeister von Wien. Aber kaum jemand dachte mehr an Max Winter nach dem 2. Weltkrieg. 1937 war er im amerikanischen Exil gestorben, allein und erfolglos in der Neuen Welt.

    " Es hat dazu beigetragen dass er vergessen wurde, dass nach ihm Leute kamen, die sich besser vermarkten konnten, der Egon Erwin Kisch. Dem Max Winter war das soziale Anliegen wichtiger. Beide haben in der AZ gearbeitet, Max Winter war der Günther Wallraff der k.u.k. Monarchie, und Kisch hat viel von ihm gelernt. "

    Als der erste Undercover-Reporter zeigte Max Winter seiner Zunft einen neuen Weg zur Reportage, aber nicht in der Camouflage liegt die bedeutendste Neuerung des Reporters, sondern in der Abstimmung mit den sorgfältig gesammelten Informationen, den Daten und Fakten, und in der uneitlen, nüchtern gefassten Sprache, die Alfred Polgar besonders lobte

    " Solche Reportagen waren es, die damals Paul Lazarsfeld nach Marienthal gelockt haben, es füllte die Lücke zwischen den nackten Zahlen und der Reportage. "

    Max Winter war ein Sozialist, der für die Arbeiterzeitung schrieb. Wo andere sich am bunten Treiben eines Triestiner Fischmarkts erfreuten, erfreute auch er sich und fragte dann eisern nach: Wie viel verdienen die Händler, was kriegen die Fischer davon ab, wie entwickelt sich ihre Lage?

    Er ließ sich als Kulissenschieber am Burgtheater und als Statist an der Oper engagieren und entlarvte die bodenlose Unsicherheit dieses Tagelöhnertums, das hinter den glanzvollen Inszenierungen stand. Das sind Dinge, die man lieber gar nicht so genau wüsste - selbst noch von heute aus. Wenn Max Winter seinen aufklärerischen Blick auf den Kolportageroman, diese käufliche Illusion für die Massen, und das sie umgebende Wirtschaftssystem richtete, dann nahm er die philosophische Kulturkritik späterer Jahre vorweg - die allerdings ist mittlerweile Geschichte geworden. Während die Reportagen aus Obdachlosenheimen, Wärmestuben und Polizeirevieren unangenehm aktuell erscheinen.

    Max Winter, Hannes Haas:
    "Expeditionen ins dunkelste Wien"
    (Picus Verlag)