Simon Strick über sein Buch "Rechte Gefühle"

Alte Tränen in neuen Schläuchen

08:13 Minuten
Ein Mann sitzt mit nacktem Oberkörper weinend auf dem Boden, nachdem er von Reizgas getroffen wurde. Um ihn herum stehen ältere Männer mit Fackeln.
Tränen wegen Tränengas in Charlottesville, Virginia, im Sommer 2017. Im Netz hingegen nutzen radikale Rechte ihre Tränen, um für die eigene Sache zu mobilisieren. © picture alliance/abaca/AA/Samuel Corum
Moderation: Mandy Schielke · 10.07.2021
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Nazis sind harte Kerle, die sich von traurigen Gefühlen nicht hinreißen lassen - denkt man. Umso erstaunlicher fand der Medienwissenschaftler Simon Strick, dass auch Rechtsextreme im Netz Tränen gezielt einsetzen: Sie weinen sich in die Opferrolle.
Ein Nazi bricht auf Youtube in Tränen aus. Zuvor, August 2017, hatte er am rechtsextremen Aufmarsch in Charlottesville, Virginia, teilgenommen und war mit einer Strafanzeige wegen Körperverletzung nach Hause gekommen. Nun schüttet er sein gebrochenes Herz vor der Netzöffentlichkeit aus, weil er sich angeblich von einem "antiweißen Rassismus" verfolgt fühlt.
Unter dem Titel "The Crying Nazi" ist dieses Video herumgereicht, parodiert und verhöhnt worden. Es wurde zum Meme. Auch weil es quer steht zur gängigen Vorstellung des soldatisch abgehärteten, zu sanften und traurigen Gefühlsregungen nicht befähigten Männerkörpers.
Für Simon Strick war dieses paradoxe Moment die "Initialzündung" für sein neues Buch "Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus":
"Ich hatte tatsächlich noch nie Nationalisten und Rechtsextreme weinen sehen." Vor allem das öffentliche Ausstellen, die "Performance eines nationalistischen Nervenzusammenbruchs", mit der im Video eine verfolgte Position für sich in Anspruch genommen wird, habe Strick interessiert.

Minderheitengefühle für Mehrheiten

Im Kern seiner Forschungsarbeit stecken "Unterdrückungs- und Betroffenheitsgefühle, die die extreme Rechte verbreitet", etwa die These vom "großen Austausch" oder von der "Umvolkung", wie sie auch in der AfD kursiert. Solche "Unterdrückungs- oder Risikopositionen" fußen zwar in den allerseltensten Fällen auf einem objektiven Befund, aber in den Kommunikationskulturen der Rechten würden die Gefühle, die solche fantasievoll ausgestalteten Szenarien hervorrufen, "verechtet. Es wird echter gemacht."
Als "emotionale Trigger" locken sie mit "Minderheitengefühle für Mehrheiten". Als Beispiele nennt Strick den Davidstern, den sich Demonstranten auf den von Rechten unterwanderten Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen angeheftet hatten. Daneben mobilisiert die extreme Rechte auch mit "optimistischen Gefühlen, Widerstandsgefühlen. So können sie sich besser fühlen, besser leben mit weißem Nationalismus."

Performance zwischen falsch und echt

Die Frage, ob der "crying Nazi" seinen Gefühlsausbruch nur vorspielt, um Aufmerksamkeit zu erhalten, lässt sich nur schwer beantworten, sagt der Medienwissenschaftler. Die Kommunikationskultur im Netz sei allgemein stark performativ. "Eine Performance liegt immer zwischen dem, was falsch und echt ist, es ist eine Praktik."
Auf diesem Feld hat die extreme Rechte seit den 80ern einen erheblichen Professionalisierungsschub geleistet: "Das sind Influencer mit eigenem Markenmanagement, das sind Menschen, die Plattformen betreiben, Plattformen programmieren und die große Desinformations- und emotionale Kampagnen starten."

Was modern klingt, ist allerdings bloß alter Wein in neuen Schläuchen. Wesentliche politische Positionen teilt sich der heutige Rechtsextremismus auch weiterhin mit dem historischen Nationalsozialismus. Nur die Form sei an die Gegenwart und das plattformgetriebene Netz angepasst. In ihren Onlineauftritten sei die "alternative Rechte außergewöhnlich versiert darin, diese neuen Genres und Mechanismen der Plattform für mehr Aufmerksamkeit zu spielen".
Buchcover: "Rechte Gefühle: Affekte und Strategien des digitalen Faschismus" von Simon Strick
"Die Lösung gegen diese attraktiven rechten Gefühlswelten können nur andere Gefühlswelten sein", sagt Autor Simon Strick.© Deutschlandradio / transcript Verlag

Gegengefühle zu den extremen Rechten

Gesten der ausgebreiteten Arme, um für Verständnis oder zumindest ein Mitgefühl für rechte Gefühle zu werben, um sie so wieder in einen bürgerlichen Konsens einzugemeinden, erteilt Strick eine klare Absage. Ihn interessiert vielmehr: "Wer ist denn 'wir'? Wo ist die Grenze zwischen dem, was die extreme Rechte ist und der Mehrheitsgesellschaft? Wie kann man ein 'Wir' aufstellen, das tatsächlich dagegen fühlen kann?"
"Fremdheitsgefühle", die etwa CDU-Politiker Wolfgang Schäuble vielen, allerdings vorrangig weißen Deutschen bescheinigt, ist für Strick ein "Schlüsselbegriff": "Es gibt sehr viele Menschen in Deutschland, die die ganze Zeit Fremdheitsgefühle haben, weil sie nämlich aus der Mehrheitsgesellschaft zum Beispiel rassistisch und sexistisch ausgeschlossen werden."
Diese Gefühlswelten müssten integriert werden, um sich als Gesellschaft von den extremen Rechten klar abzugrenzen, so Strick.

Neue Kollektive, heterogene Gefühlswelten

Die Strategie der Medien, rechten Gefühlsnarrativen allein mit rationalen Faktenchecks etwas entgegenzusetzen, hält der Forscher spätestens seit Trumps Wahlerfolg in den USA für gescheitert. "Das hat immer noch dazu geführt, dass die Rechten gefragt wurden, ob sie das denn wirklich glauben, wo doch die Fakten so und so sind." Unbeachtet bleibe dabei, dass auch die radikale Rechte in ihren Medien eine große "Beweisproduktion" führte.
Sein Lösungsvorschlag: "Es braucht neue Kollektive. Die Lösung gegen diese attraktiven rechten Gefühlswelten können nur andere Gefühlswelten sein, die viel heterogener sein müssen, als wir sie gerade haben."
(thg)

Simon Strick: "Rechte Gefühle: Affekte und Strategien des digitalen Faschismus"
‎transcript Verlag, 2021
480 Seiten, 34 Euro

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