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Wikipedia und die Geisteswissenschaften im Dialog

Geisteswissenschaften haben ein Selbstdarstellungsproblem: Oft können sie kaum plausibel machen, wozu sie eigentlich gut sind. Dem freien Onlinelexikon Wikipedia wiederum wird vorgeworfen, viele der veröffentlichten Einträge seien von bescheidener Qualität. Es läge also nahe, dass Geisteswissenschaften und Wikipedia sich zusammentun. Am Wochenende hat man sich verständigt: "Wikipedia und Geisteswissenschaften" im Dialog nannte sich die Veranstaltung in Mainz.

Von Kersten Knipp | 26.08.2007
    Man muss es sagen, auch nach der Konferenz: Die Mitarbeit an Wikipedia ist überwiegend ein selbstloses Projekt. Die Arbeit bringt kein Geld ein, zumindest nicht unmittelbar, und die wissenschaftliche Reputation fördert sie auch nicht - schon darum nicht, weil alle Artikel anonym veröffentlicht werden. Dabei soll es auch bleiben. Denn schon der Grundgedanke von Wikipedia setzt hohen Idealismus voraus, so der in Bamberg lehrende Romanist und Wikipedia-Mitarbeiter Martin Haase:

    " Es soll ein Projekt sein, was jedem Menschen freien Zugriff auf qualitativ möglichst hochwertiges Wissen liefern soll, ohne dass die finanzielle Situation des einzelnen eine Rolle spielt."

    Warum also für Wikipedia schreiben? Die Motive sind ungewöhnlich für eine Gesellschaft, die ihr Handeln gewöhnlich auf Kosten-Nutzen-Denken gründet. Dagegen kann Wikipedia nicht angehen. Es gibt aber, so die Kölner Historikerin Gudrun Gersmann, auch andere Gründe:

    "Ich weiß auch von vielen Kollegen, die Artikel für die Wikipedia schreiben, dass sie das praktisch als etwas sehen, was neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit herläuft, und wo sie manchmal auch fröhlicher und freier publizieren können als in der Fachzeitschrift XY."

    Es ist die ungezwungene Produktionsatmosphäre, das Spontane auch, das den Artikeln ihren Reiz gibt, sie auch stilistisch nicht ganz so sperrig wie ein Lexikon werden lässt. Und dadurch, so der Historiker Markus Mueller, könnten die Geisteswissenschaften jene Bühnen finden, die sie so dringend suchen:
    "Es kommt gerade auch auf diese Mischung an, dass eben Experten auch auf ein breites Publikum treffen. Also das ist, glaube ich, auch das Besondere. Das haben wir hier traditionell eigentlich nicht. Wir haben höchstens, wenn man das traditionelle Lexikon sich anguckt, dass da Verlage sind mit Redakteuren, die das vielleicht noch mal bearbeiten, so dass das Wissen dann auch popularisiert werden kann, was ja wirklich schwer ist. Und das funktioniert bei der Wikipedia glaube ich besser. "

    Die ungeheure Menge von Autoren und Nutzern verwandelt die Enzyklopedia in einen niemals ruhenden Informationsmarkt, in dem viele Artikel schon nach Minuten wieder neu bearbeitet werden. So, meint Martin Haase, erfährt auch als Wissenschaftler recht schnell, ob man auf dem Stand der Dinge ist:

    "Es gibt da glaube ich eine ganz wichtige Motivation. Und das ist das sofortige Feedback. Also wenn ich bei der Wikipedia schreibe bekomme ich innerhalb von Minuten auch eine Reaktion auf das, was ich geschrieben habe. Und das finde ich persönlich sehr motivierend. Denn wenn ich einen Artikel schreibe, dann dauert es Monate unter Umständen, bis die Gutachter der Zeitschrift sich zu Wort melden, und erst dann habe ich mein Feedback. Und das ist eben bei der Wikipedia anders."

    Und das Feedback für Wissenschaftler ist ein überwiegend qualifiziertes. Neben den freien Autoren, berichtet Markus Mueller, bei Wikipedia mit der Qualitätssicherung befasst, gibt es nämlich auch mehrere Fachredaktionen, die ihre Themenfelder regelmäßig kontrollieren.

    "Grundsätzlich ist es so, dass die meisten Mitarbeiter tatsächlich aus akademischen Zusammenhängen kommen, es sind hauptsächlich Studenten; viele auch, die schon einen Abschluss haben und promovieren und natürlich auch Akademiker; und es sind vor allen dingen diese Personen, die dafür sorgen, dass die Artikel auf ihre inhaltliche Korrektheit geprüft werden."

    Aber welches Wissen ist korrekt, welches nicht? Die Geisteswissenschaft sind eine flüchtige Disziplin, in der Erkenntnis ständig neu verhandelt wird. Insofern, meint die Historikerin Gudrun Gersmann, spiegelt sich in Wikipedia auch die Kontingenz des Wissens:

    "Man weiß heute, dass ein gedrucktes Lexikon am Tag des Erwerbs im Grunde auch schon überholt ist, weil sich die Dinge viel schneller ändern als früher. Ich kann mich sehr gut erinnern, in meiner Jugendzeit war es so, man bekam zur Konfirmation etwa ein Taschenlexikon, und das sollte die nächsten 20 Jahre halten. Die Idee ist geradezu grotesk, dass das heute noch funktionieren würde."

    "Paradigmenwechsel" nennt man die großen Umbrüche im wissenschaftlichen denken. Der Begriff hört sich suggeriert ein epochales Ereignis. Dass daran Tag für Tag gearbeitet wird, zeigt Wikipedia sehr konkret. Und damit zugleich auch, dass die Geisteswissenschaften nach wie vor sehr lebendig sind.