Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Wildromantische Aussichten
Wandern auf dem Harzer-Hexen-Stieg

Spätestens Johann Wolfgang von Goethe hat in "Faust" den höchsten Harzgipfel, den Brocken, als Blocksberg populär gemacht. Dort treiben Geister und Hexen ihr Unwesen. Heute erlaubt der Harzer-Hexen-Stieg ein ganz neuzeitliches Erlebnis des Mythos.

Von Folkert Lenz | 27.04.2014
    Wandern auf dem Harzer Hexensteig.
    Wandern auf dem Harzer Hexensteig. (Deutschlandradio / Folkert Lenz)
    "In der Walpurgisnacht, da kamen dann die vielen Brockenhexen aus ganz Deutschland und haben hier oben also den letzten Schnee vom Brocken gefegt und somit den Sommer eingeleitet."
    So ein richtiger Harzer, der kennt die Geschichten, die man sich über den Hexentrubel erzählt. Doch bis zum geheimen Treffpunkt, dem Blocksberg, ist es noch ganz schön weit. Brocken wird der höchste Gipfel des Harzes heutzutage genannt.
    Und wer sich nicht - wie die Hexen - behände auf seinen Besen schwingen kann, der muss die mühevollere Variante nehmen: Per pedes geht es auf dem Harzer-Hexen-Stieg von Osterode aus, der alten Stadt am Harzrand, stetig bergan gen Clausthal-Zellerfeld.
    Erst nach der ehemaligen Bergwerksstadt wird es wieder flacher: Die Clausthaler Hochfläche ist erreicht. Der Wald ist typisch für den Harz: Das dunkle, fast düstere Grün der Fichten herrscht hier vor. Immer wieder blinken silbrig kleine Teiche zwischen den Baumstämmen hindurch.
    Überall scheint es zu rinnen und zu plätschern. Eine menschengemachte Seenlandschaft sei das, erzählt der Kulturhistoriker Manfred Reiff bei einem Spaziergang an einer der Wasserläufe:
    "Man brauchte Sammelgräben und Leitungsgräben. Um das Wasser aus den Hochbereichen des Harzes, wo sehr viel Wasser vorhanden war, aber kein Bergbau, dort zu sammeln und dann auf die Clausthaler Hochebene zu leiten. Und das war auch die Funktion des Dammgrabens, an dem wir uns hier befinden."
    Wanderweg mit wenig Steigung
    Reiff hat sich ausgiebig mit der Oberharzer Wasserwirtschaft beschäftigt. Das Wasser war die Energiequelle für den Bergbau über Jahrhunderte. Wasserräder hoben die Förderkörbe mit dem Erz, bewegten die Hämmer der Pochwerke, in denen das Gestein zerkleinert wurde - und: Sie hielten die Schächte trocken.
    "'Wasser hebt Wasser' ist so ein Slogan. Und deswegen hat man sich bemüht, die Teiche möglichst an der höchsten Stelle im Gelände anzulegen, damit es man möglichst oft nutzen konnte: über Wasserräder, über Stangenkünste, die dann die Energie in den Berg übertragen haben, um dann Wasser rauszupumpen, natürlich auch das Erz zu heben, Pumpen zu betreiben, für all solche Zwecke."
    Seit ein paar Jahren zählt das System aus Gräben und Kunstteichen zum Unesco-Weltkulturerbe. Aber auch dem Wanderer in der Moderne hat es einiges zu bieten, findet Manfred Reiff:
    "Das Schöne ist natürlich an der Wasserwirtschaft: Man läuft immer am Wasser. Sehr schön natürlich auch: Man hat wenig Steigung. Naturgemäß läuft man praktisch durch ein sehr gebirgiges Gelände, man hat tolle Ausblicke in die Ferne und bleibt aber immer auf einer Höhe."
    Und so geht es weiter Richtung Torfhaus. Während der Teilung Deutschlands war das kleine Bergdorf auf fast 800 Metern über dem Meer die höchste Siedlung im Westharz. Wandererheime und Vereinshütten in der typischen Harzer Holzbauweise drängeln sich am Rande des Ortes. Wer ihn verlässt, der steht mitten im Großen Torfhausmoor - und bekommt sofort nasse Füße, wenn er nicht auf den Wanderpfad achtet.
    "Das Torfhausmoor ist also ein typisches, weitestgehend ungestörtes Moor. Einzigartig für mitteleuropäische Verhältnisse. Der Niederschlagsreichtum hier ist die Ursache dafür. Auf den Kämmen der Berge und den Sätteln, da haben wir dann oft Hochmoorbildung. Die leben also von dem permanenten Niederschlagswetter."
    Toter Wald bietet neue Chance
    Ein Holzbohlenweg führt über das tückische Gelände. Denn aufgepasst: Ein Tritt daneben und - platsch! - landet man in einem der grundlosen schlammigen Wasserlöcher. Gewölbt wie ein Uhrendeckel soll die torfige Masse sein, so steht es in den Schulbüchern. Doch der unbedarfte Betrachter, der den Biologen Gunter Karste begleitet, sieht nur eine tischebene Fläche vor sich. Hier und da ein schulterhohes Bäumchen, überall wehen die weißen Wimpel vom Wollgras im Wind. Dazwischen grün-braune Grasbüschel - denkt man zumindest. Der Kenner entdeckt mehr Vielfalt am Boden:
    "Die kleine Zwergbirke, die seit der letzten Eiszeit hier im Harz ihr Zuhause hat. Wir haben die Preiselbeere, die Heidelbeere dort. Und natürlich - ganz wichtig - die Rauschebeere."
    Der Harzer-Hexen-Stieg erreicht kurz darauf den Quitschenberg. Ein trostloser Anblick! Fichtengerippe allüberall. Wie aufgepflanzte Streichhölzer stehen die silbrig glänzenden Baumleichen herum. Schuld ist der Borkenkäfer, der die Nadelbäume auf dem Gewissen hat. Denn im naturbelassenen Schutzgebiet durfte der Schädling jahrelang wüten. Nationalpark-Ranger wie Andreas Pennig müssen den Touristen heute erklären, welch ökologisches Drama sich hier abgespielt hat:
    "Viele heiße Sommer, das ist so eine Art Stress für die Fichte. Dann kommen auch Naturkatastrophen wie der Sturm Kyrill dazu. Wenn natürlich große Flächen vom Sturm umliegen, dann kommt der Borkenkäfer, die Borkenkäferpopulation zum Ausbruch."
    Das Sterben der Bäume - so natürlich es sein mag - erfreut nicht jeden. Doch der tote Wald bietet auch eine Chance. Denn neben den Forstwegen wächst schon wieder neues Leben heran:
    "Da hat man mehr oder weniger die Natur sich selbst überlassen. Und diese Quietsche, diese Eberesche, fühlt sich nach den vielen Jahren wieder heimisch. Und diese Quietschen sind jetzt schon sieben, acht Meter wieder hoch."
    306 Nebeltage im Jahr
    Auch ein paar Minuten weiter ist neues Leben entstanden. Bis 1989 verlief hier - an den Hängen des Brockens - der Todesstreifen der deutsch-deutschen Grenze. Heute zeugt nur noch der alte Kolonnenweg von dieser Zeit.
    Die Betonpflasterung der Straße an den ehemaligen Grenzanlagen ist ein letztes Relikt. Ein gruseliger Gedanke, dass Jahrzehnte lang nur die DDR-Wachtruppen mit ihren Zweitaktautos hier unterwegs waren.
    Bald ist auch die Brockenstraße erreicht, die bis auf den Gipfel führt. Kahl ist die höchste norddeutsche Kuppe, denn Bäume gibt es hier nicht mehr. Kein Wunder, bei dem Wetter, welches hier meistens herrscht.
    "Die Meteorologen geben ja immerhin 306 Nebeltage an. Von denen immerhin 100 ganztägig neblig sind. Und vor dem Hintergrund ist das dann das Normale. Also ständig Wind. Bei 2000 Millimeter Niederschlag im Jahr haben wir hier natürlich auch oft Regen, Niederschlag, Schnee."
    Zugebaut ist der Brockengipfel: rot-weiß das Wahrzeichen, der Mega-Pylon des Sendemastes. Daneben Brockenherberge und Nationalparkhaus. Der Bahnhof der Dampfbahn. Am Rande des Trubels: zwei kleine Felsklippen. Und endlich: eine Spur zu den Hexen!
    "Das ist hier Brockengranit, einer der berühmtesten Punkte hier oben auf dem Brocken: Teufelskanzel und Hexenaltar. Hier entstand oder entsprang die Walpurgisnacht."
    "Grand Canyon des Harzes"
    Jedenfalls, wenn man Goethe glaubt. Der nämlich erwähnte die unscheinbaren Felsen in seinem "Faust" in der legendären Walpurgisnachtszene. So kamen sie zu literarischem Ruhm, nachdem der Dichter 1777 dem Berg zum ersten Mal seinen Besuch abgestattet hatte. Auch Heinrich Heine beschreibt in seiner "Harzreise" eindrucksvoll seine Wanderung auf den Brocken. Der deutsche Literat soll 47 Jahre nach Goethe an einem sehr nebligen Tag den Gipfel erreicht haben.
    Doch weiter, der Hexen-Stieg ist noch lange nicht zu Ende. Nach Drei-Annen-Hohne geht es steil hinunter. Kurz vor Königshütte öffnet sich die Landschaft. Es wird grüner, der Wald wirkt heller.
    "Gute alte Buchenmischbestände mit richtig starken Eichen. Das hat schon ein bisschen Urwaldcharakter in den unteren Bereichen. Wenn so eine 200-jährige Buche aus Altersgründen zu Fall kommt, dann gibt das auch den besten Humus für die nächste Generation."
    Bald ist auch die Bode erreicht. Deren Lauf verfolgt der Steig jetzt die nächsten Stunden und Tage bis zu seinem Ende in Thale. Dunkelbraun fließt die Bode dahin, scheinbar zäh wie Quecksilber. Man merkt, dass das Flüsschen seinen Ursprung in den torfigen Mooren unterhalb vom Brocken hat.
    Zwischen Treseburg und Thale hat sich die Bode tief in Granit und Hornfels gefressen. Knapp 300 Meter hohe Wände säumen die Bodeschlucht, die bisweilen auch als "Grand Canyon des Harzes" bezeichnet wird. Bleibt noch der Hexentanzplatz auf der letzten Etappe.
    Sollten sich die gesuchten Damen hier verstecken? Ein mystisches Gekicher scheint in der Luft zu liegen. Oder war es doch nur ein Vogel, der geckernd aufgeflogen ist? Es scheint der falsche Tag, die falsche Stunde, um Hexen aufzustöbern.
    So bleiben nur die letzten Kilometer bis nach Thale, wo die Bode das Harzgebirge verlässt. Wer nach Tagen des Unterwegsseins in das Städtchen einläuft, der mag an Heinrich Heine denken. Der soll bei seiner Harzreise im Gipfelbuch des Brockens völlig unprätentiös notiert haben:
    "Sicht keine, lahme Beine, nur Steine, saure Weine: Heinrich Heine."