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Wilfried Scharnagl (CDU)
"Erstaunlich, dass auf der Titanic so gute Stimmung herrscht"

Das Wahlergebnis wäre anders ausgefallen, wenn man Forderungen der CSU - vor allem seit der Flüchtlingskatastrophe - befolgt hätte, sagte der Publizist Wilfried Scharnagl im Dlf. Erfreulicherweise werde das Thema Obergrenze bei der FDP genauso "dramatisch ernst genommen", wie es ernst genommen werden müsse. Diese Haltung vermisse er aber bei der CDU.

Wilfried Scharnagl im Gespräch mit Philipp May | 26.09.2017
    Der CSU-Politiker Wilfried Scharnagl.
    Der CSU-Politiker Wilfried Scharnagl. (dpa / Michael Kappeler)
    Philipp May: Kann Bundeskanzlerin Angela Merkel tatsächlich ein Jamaika-Bündnis schmieden? Klar ist, das wird eine schwierige Aufgabe, und dabei scheint noch das kleinste Problem zu sein, die beiden konkurrierenden kleinen Parteien FDP und Grüne unter einen Hut zu bringen. Vor allem im eigenen Laden ist der Zoff nämlich groß. Vor der ersten gemeinsamen Fraktionssitzung von CDU und CSU droht ein offener Richtungsstreit: Wie weit nach rechts darf die Union rücken?
    Mitgehört hat Wilfried Scharnagl, langjähriger Chefredakteur der CSU-Zeitung "Bayernkurier". Herr Scharnagl, ich grüße Sie!
    Wilfried Scharnagl: Hallo, grüß Gott.
    May: Herr Scharnagl, bei der CSU wird ja öfter mal der König gestürzt. Droht das jetzt auch Seehofer?
    Scharnagl: Ich glaube, überhaupt nicht. Ich war gestern in der Vorstandssitzung unserer Partei. Die hat, weiß ich nicht, sechs Stunden gedauert, oder fünf Stunden. Eine Riesendebatte. So viele Wortmeldungen, wie ich eigentlich nie erlebe in einer Vorstandssitzung. Und niemand hat Position und Person Seehofer in Frage gestellt.
    May: Aber heute gibt es ja die ersten Stimmen aus Franken, dem Heimatkreis oder der Heimatregion von Markus Söder, die einen Rücktritt von Seehofer fordern.
    Scharnagl: Na gut. Da kann ich nur sagen, in einem von 90 Wahlkreisen äußert sich jemand. Das ist ja das gute Recht einer demokratischen Partei, dass es diese Stimmen auch gibt. Aber es geht ja nicht nur darum, dass man Stimmen zählt, sondern Stimmen gewichtet. Sonst höre ich nichts.
    May: Aber weniger als 40 Prozent in Bayern, das ist für die CSU indiskutabel. Wer hat denn die Schuld daran?
    Scharnagl: Da sind wir uns einig, das ist ein dramatisches Minusergebnis, das uns großen Kummer macht und große Herausforderungen bedeutet. Aber man muss doch bei allem Elend dieses Ergebnisses auf eines hinweisen: Wenn es anderswo in der Bundesrepublik Deutschland ein Land gäbe, wo eine Partei alle von allen Stimmkreisen gewinnt, wie die CSU 45 von 45, dann heißt das, die CSU ist eine starke, lebendige Volkspartei.
    May: Und ihren Spitzenkandidaten nicht in den Bundestag bekommt.
    Scharnagl: Das ist der schmerzliche Preis, dass wir keine Listenkandidaten gewonnen haben. Aber ich muss es noch mal sagen: Gewinnen Sie erst 45 von 45 Direktkreisen. Das ist eigentlich völlig außertourlich und darüber wird auch überhaupt nicht geredet. Es entschuldigt nichts, es macht es nicht leichter, aber es macht es erträglicher für die CSU.
    May: 2008 – ich habe es gerade noch mal nachgeguckt – bei der Landtagswahl, da haben Huber und Beckstein 43 Prozent für die CSU bekommen und mussten beide gehen.
    Scharnagl: Da kann ich nur sagen, das war natürlich etwas anderes. Wir haben die absolute Mehrheit in Bayern verloren und waren regierungsmäßig gezwungen, uns anders aufzustellen mit der FDP, die kurzzeitig in den Landtag kam. Dieses Mal geht es nicht um solche Äußerungen, sondern es ist ein Wahlergebnis, das dieses Bayerische nicht berührt. Seehofer regiert mit großer stabiler Mehrheit, so dass sich dieser Vergleich verbietet.
    "Erstaunlich ist, dass auf der Titanic so gute Stimmung herrscht"
    May: Dann kommen wir doch mal zu den unmittelbaren Konsequenzen, die die CSU ja auch schon angekündigt hat: Jetzt gibt es einen knallharten Rechtskurs.
    Scharnagl: Das kann man sagen. Man kann sagen, weil die CSU davon überzeugt ist, das Wahlergebnis wäre anders ausgefallen, wenn man die Anmerkungen, Vorschläge, Forderungen der CSU in den letzten Jahren, vor allem seit der Flüchtlingskatastrophe von 2015 anders und gründlicher und offener befolgt hätte, hätte die Union insgesamt besser abgeschnitten. Es kann nicht sein, dass jetzt in Berlin bei der CDU gesagt wird, Ziel erreicht, Regierung bilden, Kanzlerin bleibt, wir sind stärkste Gruppierung, oder dass man sagt, ich sehe nicht, was ich hätte anders machen sollen, oder ich sehe nicht, was man heute anders machen könnte.
    May: Die eigentliche Schuldige ist Frau Merkel, die Bundeskanzlerin?
    Scharnagl: Das hat die Frau Merkel gesagt und das wundert mich, weil es doch erstaunlich ist, dass auf der Titanic so gute Stimmung herrscht.
    May: Warum ist denn eigentlich so klar, dass Sie nach rechts rücken müssen. Die meisten Wähler hat die CSU ja nicht an die AfD, sondern an die FDP verloren, 1,3 Millionen?
    Scharnagl: Da kann ich nur sagen, aber die FDP, wenn Sie sich erinnern, hat Herr Lindner zum Beispiel in der Zuwanderungsgeschichte eine Position bezogen, wenige Tage vor der Wahl, die massiver hätte ja gar nicht sein können.
    May: Aber die Obergrenze kam nicht in der Position vor.
    Scharnagl: Die eine Partei hat sie, die andere hat sie nicht. Aber das Thema als solches wird von der FDP erfreulicherweise genauso dramatisch ernst genommen, wie es ernst genommen werden muss und von der CSU schon immer ernst genommen worden ist, leider nicht von der Regierung in Berlin.
    May: Das heißt, beim Einwanderungsgesetz, wie es die FDP fordert, da würden Sie mitgehen, würde die CSU mitgehen?
    Scharnagl: Wenn es ein Einwanderungsgesetz ist, das eine Klärung oder eine Beendigung des unkontrollierten Zuflusses bedeutet, wenn das heißt, dass nur reinkommt, wer sich ausweisen kann, dass nur reinkommt, wer einen Pass hat, dass nur reinkommt, wer nach unserer Gesetzeslage dazu berechtigt ist, dagegen spräche überhaupt nichts.
    May: Aber ist das nicht mittlerweile längst schon wieder so, Obergrenze hin oder her?
    Scharnagl: Das weiß ich nicht. Das ist offensichtlich nicht, weil es sonst nicht notwendig wäre, dass an unseren Grenzen nach wie vor Kontrollen notwendig wären, die eigentlich im Widerspruch zum Schengen-Raum der Europäischen Union stehen, weil die Außengrenzen nicht funktionieren. Und solange diese nicht funktionieren, muss innen kontrolliert werden. Darum ist es nicht so. Es kommen nach wie vor unkontrollierte Leute bei uns an.
    "Es darf niemand ohne Papiere herein"
    May: Aber was kann da eine Obergrenze ausrichten, wenn die Außengrenzen von Schengen nicht funktionieren?
    Scharnagl: Das heißt, dass die Geschlossenheit der Kontrolle in ganz entschiedener Weise vorangetrieben werden muss. Dass sie überhaupt betrieben wird, ist ja nun ein Ergebnis des bayerischen Drängens, dass wir nicht nachgegeben haben. Auch dazu musste ja der Hund erst zum Jagen getragen werden, die Bundesregierung erst mit Mühe dazu gebracht werden. Jetzt ist Frau Merkel auch dabei, dass das notwendig ist, und auch in Brüssel, diesem unsäglichen, langsamen, riesen Moloch-Betrieb, ist man auch der Einsicht, dass man es hinnehmen muss zumindest. Das heißt, es hat hier schon Bayern ganz Wesentliches bewirkt, und das muss noch verschärft werden. Es darf niemand ohne Papiere herein. Die Kontrollen müssen ganz woanders erfolgen. Ist alles schon behandelt, alles schon erörtert worden. Es müssen Hotspots in den betroffenen Ländern, in Griechenland, Italien errichtet werden, dass dort überhaupt entschieden ist, wer kann für einen Asylantrag nach Deutschland kommen und wer nicht. Es gibt Möglichkeiten, die noch nicht ausgeschöpft sind.
    May: Jetzt hat sich aber Angela Merkel immer gegen eine Obergrenze ausgesprochen, klar positioniert, und will ihre Linie der Mitte ja auch weiter fortsetzen. Hat sie ja gestern gesagt. Was wird dann heute passieren bei der ersten Fraktionssitzung? Gibt es da den Bruch?
    Scharnagl: Darüber wird man heute nicht reden. Ich glaube nicht, dass dadurch heute der Bruch kommt. Heute kommen die Regularien. Man wird eine Fraktionsgemeinschaft beschließen. Die CSU wird einen vorzüglichen Mann an die Spitze ihrer Landesgruppe wählen, den Alexander Dobrindt, politisch gehärtet und erfahrungsstark und klug und einfallsreich. Das, glaube ich, ist schon der Beginn einer guten Geschichte.
    "Beim Thema Grün empfiehlt sich ein Blick zurück"
    May: Und dann, vorausgesetzt CDU und CSU können sich einigen, stünden Sondierungsgespräche an mit Gelb und vor allem mit Grün. Kann das was werden, die nach rechts gerückte CSU mit den Grünen?
    Scharnagl: Wissen Sie, beim Thema Grün empfiehlt sich ein Blick zurück. Als die Grünen vor mehr als einem Vierteljahrhundert auf der politischen Szene auftauchten, war das alles ganz fürchterlich. Da gab es einen großen Häuptling aus Göttingen, den Herrn Trittin, der stand im wabernden Umkreis von Äußerungen wie klammheimliche Freude über die Ermordung des Bundesanwalts Buback durch die Terroristen. Es gab einen neuen Abgeordneten Fischer, der dem Bundestagspräsidenten anbot, …
    May: Lassen Sie uns im Hinblick auf die CSU …
    Scharnagl: Entschuldigung! Das ist alles wichtig! – Es gab einen Ministerpräsidenten der SPD, den Holger Börner in München, der das Problem der Grünen mit der Dachlatte lösen wollte als ehemaliger Bauarbeiter. – Ein Vierteljahrhundert später stehen auch wir, die Union, vor Koalitionsverhandlungen mit den Grünen. Ich kann nur sagen, was für ein wundersamer Wechsel. Dass es schwierig wird mit den Grünen, das wissen wir, aber wenn diese Koalition zustande kommt, dann werden alle nachgeben müssen. Aber Essentials werden zu behaupten sein.
    May: Wo würde die CSU, wo könnte die CSU Zugeständnisse machen an die Grünen?
    Scharnagl: Das weiß ich nicht. Kommt darauf an, was die Grünen verlangen werden.
    May: Die Grünen wollen aber mit Sicherheit keine Obergrenze, haben ja auch schon gesagt, dass das relativ schwierig wird, mit ihnen durchzukriegen.
    Scharnagl: Wenn die Grünen sagen, wir haben ein anderes Wort für Obergrenze, ist es uns auch recht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.