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Willenskraft lässt sich trainieren

Die jüngsten Einblicke der Neurowissenschaften in die komplexen Vorgänge unseres Denkens und Fühlens haben auch praktische Auswirkungen - beispielsweise lässt sich nach Ansicht von Forschern der Wille genauso trainieren wie ein Muskel.

Von Bettina Mittelstraß | 17.09.2009
    "Wir hätten uns nie träumen lassen, was man heute alles im Scanner untersucht: Vertrauensbildung, Risikobereitschaft, Neugierde, Liebe, Trauer, auch soziale Phänomene wie Einfühlungsvermögen oder Schadenfreude. Den Psalm 23 beten, mit und ohne Inbrunst und dann schauen sie nach: Wo ist die Inbrunst?"

    Es sind nicht die blinkenden Bilder, die Professor Manfred Spitzer, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, begeistern. Die jüngsten Einblicke der Neurowissenschaften in die komplexen Vorgänge unseres Denkens und Fühlens, sagt er, haben eine neue Qualität und sind für die Gesellschaft von unschätzbarem Wert - zum Beispiel für Bildung und Erziehung:

    "Nehmen wir das Beispiel der Selbstkontrolle. Sie wissen, wir haben ja eine große Diskussion über Disziplin. Und die ist natürlich schrecklich ideologisch angefärbt. Und wenn wir davon wegkommen, dann können wir das zum Beispiel mit der Gehirnforschung. Wie kognitive Kontrolle - das ist der Terminus technicus in der Wissenschaft - funktioniert, das kann man unter anderem mittels bildgebender Verfahren heute sehr schön untersuchen. Das ist ein Zusammenspiel verschiedener Gehirnregionen, das letztlich, wenn es denn funktioniert, dazu führt, dass wir es schaffen, willentlich bestimmte Leistungen zu vollbringen und eben auch andere, die wir vielleicht gerade lieber täten zu hemmen. Das Kind bleibt dann eben mal länger an einer Aufgabe dran, als gleich wieder woanders hinzugehen und abzuschweifen. Eine ganz wichtige Eigenschaft, die wahrscheinlich für den Schulerfolg – dazu gibt es Untersuchungen – wichtiger ist als die Intelligenz."

    Der Mangel an Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Durchhaltevermögen und zielgerichteter Selbststeuerung bei vielen Schülern gehört derzeit zu den am meisten diskutierten Problemen, denen sich Lehrer gegenübersehen.

    "Was wir immer besser wissen, ist: Man kann das tatsächlich üben! Genauso wie sie einen Muskel trainieren können, können sie auch ihre ich sag mal in Anführungszeichen "Willenskraft" trainieren. Das hat eine riesige Bedeutung für das, was man heute Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität nennt. Und es ist in sofern ganz wichtig: Wir haben die Grundlagen ein Stück weit verstanden und wir haben verstanden, wie wir Trainingsmethoden entwickeln können, um das im Kindergarten für ein besseres Schuldasein zu implementieren. Und das halte ich für ganz wichtig."

    Manfred Spitzer, der die Konferenz amerikanischer Neurowissenschaftler, die sich seit 2007 für die Vermittlung von Neurowissenschaft in den Bildungsbereich einsetzen, erstmals nach Berlin geholt hat, leitet selbst seit 2004 in Ulm das "Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen". Hier versucht ein Team von Psychologen, Erziehungswissenschaftler und Lehrern in Zusammenarbeit mit über 100 Schulen und Kindergärten konkrete Pädagogik auf der Grundlage von Ergebnissen der Hirnforschung aufzubauen. Ein "Staffellauf" vom Neurowissenschaftler über den Pädagogen bis zum Kind muss geschaffen werden, so beschreibt die Psychologin Katrin Hille ihre Aufgabe als Forschungsleiterin am Ulmer Transferzentrum. Das Trainingsprogramm, das dabei etwa in Bezug auf verbesserte Selbstkontrolle herauskommt, überrascht, weil es älteren Erwachsenen altbekannt vorkommt:

    "Man muss da nichts Schlimmes machen. Das ist nur, was früher im Kindergarten gemacht worden ist. Das sind die alten Dinge. Das sind Lieder oder Spiele, Fingerspiele wie "Alle Vögel fliegen hoch", "alle Flugzeuge fliegen hoch" und dann wird gesagt "alle Tische" - und dann darf man es halt nicht sagen. Das ist die Basis für Selbstregulation. Wenn man das mit den Kindern übt, dann werden die besser darin. Und dieses besser sein, dieses besser sich selbst steuern können, hat viele positive Auswirkungen auf das spätere Leben."

    Es klingt so einfach: Tun, was immer schon getan wurde! Die Neurowissenschaft erfindet das Rad nicht neu, sagt Katrin Hille, aber sie ist heutzutage vor allem deshalb so wichtig, weil sie begründet, warum man eben nicht jedes uralte und angeblich "verstaubte" pädagogische Konzept über den Haufen werfen sollte.

    "Wenn wir sagen, wir wollen Selbststeuerung mehr in den Kindergarten oder in die Grundschule reinbringen, dann müssen wir nichts Neues machen, sondern nur die alten Kinderspiele, die es gibt, aufgreifen und den Erzieherinnen oder den Grundschullehrern erklären: Das ist gut dafür! Das sollt ihr nicht einfach so wegschmeißen, weil das jetzt nicht mehr en vogue ist. Das ist ganz wichtig, weil es Selbststeuerung fördert!"

    Es ist ein Kampf gegen Vorurteile und Mythen, sagt Katrin Hille, die Emotionen kochten bei Pädagogen fast immer hoch, wenn der Begriff "Neurowissenschaften" fiele. Die einen sähen darin die Lösung aller Probleme, die anderen wollten damit nichts zu tun haben. Noch dazu kursierten falsche Vorstellungen in den Klassenzimmern:

    "Das Klassenzimmer ist, so haben wir gefunden, voll von "Neuro-Mythen": Linkes Hirn, rechtes Hirn, man braucht es nur zu verknüpfen, und schon geht die Legasthenie weg, als Beispiel. Das ist neurowissenschaftlicher Blödsinn."

    Stattdessen geht es lediglich darum, mit dem neuen Wissen der Hirnforschung über Rechtschreiberwerb, Zahlenverständis oder eben Konzentration gute Unterrichtsmethoden zu bestätigen oder zu erweitern und damit den Lernerfolg der Kinder zu verbessern. Ob das eine oder andere veränderte Trainings- und Unterrichtsprogramm dann wirklich zu Verbesserungen führt, das wird am Zentrum für Neurowissenschaften und Lernen übrigens erst einmal getestet. Mediziner arbeiten nun mal mit Studien, sagt Manfred Spitzer, und wäre mal ein vernünftiges Modell auch für Neuerungen in der Pädagogik:

    "In der Pädagogik, nur um ein Beispiel zu bringen, haben wir diese Forschungstradition nicht. Da hat jemand eine gute Idee und dann werden alle Kinder damit beglückt. Zum Beispiel: Man müsste Mathematik so unterrichten, wie man sie systematisch begründet, das heißt mit der Mengenlehre in der ersten Klasse anfangen. Bin ich selbst Geschädigter und kann sagen: Nach Jahren hat man gemerkt, keiner wird schlauer dadurch und hat das flächendeckend wieder sein lassen. Das wäre so, als würden sie eine Pille erfinden, tun die ins Trinkwasser und zählen nach zehn Jahren die Toten und finden dann raus: Das war doch keine gute Idee. So wird Forschung heute noch in der Pädagogik vorangetrieben."

    Die Einbindung der neurowissenschaftlichen Erforschung unserer geistigen Leistungen in die Praxis von Bildung und Erziehung lohnt sich, gerade weil vieles davon als selbstverständlich ist, sagt Manfred Spitzer:

    "Es ist letztlich Selbstverständnis. Wir verstehen uns besser. Und wenn wir uns besser verstehen, dann können wir mit uns auch besser umgehen. Und es wird dann oft gleich kritisiert: ah, dann kann man die Menschen auch leichter manipulieren und so was. Das glaube ich überhaupt nicht. Ich glaube man kann vor allem die Randbedingungen so setzen, dass Menschen eher ihr eigenes Potenzial erreichen. Und wir sind da weit drunter, wenn Sie schauen was heute in der Schule und anderswo für Frustrationen herrschen – und wir wissen: Frustration ist das Schlechteste, was es für Lernen überhaupt gibt, dann ist völlig klar: wir könnten es besser machen."