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Willkommenskultur in der Krise
Flüchtlingspolitik frustriert Helfer

Jugenheim in Rheinhessen gilt als "Willkommensdorf" mit vorbildlicher Integration. Beim Polit-Talk mit den Bundestagskandidaten des örtlichen Wahlkreises kam zutage, wie sehr die Helfer unter Abschiebungen betreuter Flüchtlinge leiden. Die Diskussion um Leitkultur finden viele Jugenheimer nicht integrativ sondern spaltend.

Von Anke Petermann | 05.05.2017
    Beim Polit-Talk am 4.5.2017 in Jugendheim, Rheinhessen. Von rechts: Carsten Kühl, SPD, Tabea Rößner, Grüne, Moderator Uli Röhm, Ursula Groden-Kranich, CDU, Martin Malcherek, Die Linke.
    Beim Polit-Talk am 4.5.2017 in Jugendheim, Rheinhessen. Von rechts: Carsten Kühl, SPD, Tabea Rößner, Grüne, Moderator Uli Röhm, Ursula Groden-Kranich, CDU, Martin Malcherek, Die Linke. (Deutschlandradio / Anke Petermann)
    Einige der etwa 40 Alltagshelfer im "Willkommensdorf" Jugenheim stehen noch unter Schock, manche überlegen, sich aus der Flüchtlingsarbeit zurückzuziehen: Wolfhard Klein schildert den vier Kandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien, warum:
    "Wir hatten hier einen Flüchtling, wir hatten ihn, der hat rund drei Jahre hier gelebt, der hat auch gearbeitet, der war nach islamischem Recht verheiratet. Er wurde morgens um 5 abgeholt."
    Ein Kriegsflüchtling aus Syrien.
    "Dieser Mann wurde nach Bulgarien gebracht, das Land, wo er zum ersten Mal in Europa war. Nun erfüllt aber Bulgarien die Dublin-Kriterien nicht. Das heißt, da gibt es keine Unterstützung, kein Wohnung. Der Mann lebt dort auf der Straße. Er wird von hier punktuell unterstützt, so gut das möglich ist. Wie werden sie sich der Dublin-Gesetzgebung im Bundestag gegenüber verhalten?"
    "Politik regelt auch nicht nur den Einzelfall, sondern die grobe Linie"
    Die Bundeskanzlerin hatte zwischen August und Oktober 2015 aus Gründen der Nothilfe die umstrittene Dublin-Regelung für Syrer ausgesetzt, nach der die Flüchtlinge auch in heikle EU-Länder wie Ungarn und Bulgarien hätten zurückgeschickt werden müssen. Merkels Mainzer Parteifreundin Ursula Groden-Kranich kandidiert erneut für den Bundestag und bleibt beim Dublin-Thema vage. Die Regelung anzupassen, werde diskutiert:
    "Wie wir sie in Notzeiten anwenden und wie wir sie in Normalzeiten anwenden. Dass das im Einzelfall immer kritikwürdig sein kann, bestreite ich nicht. Aber Politik regelt auch nicht nur den Einzelfall, sondern die grobe Linie."
    Was die Jugenheimer Alltagshelfer gemeinsam mit dem jüngst abgeschobenen Flüchtling über Jahre hinweg aufgebaut hatten, wurde jedenfalls zunichte gemacht. Hier und anderswo beobachtet die grüne Bundestagsabgeordnete Tabea Rößner als Konsequenz:
    "Das demobilisiert auch die Helferinnen und Helfer, die fragen sich, wozu geben sie sich solche Mühe, Integration anzubieten, die Leute aufzunehmen, willkommen zu heißen, wenn nicht gewährleistet ist, dass die dann auch hier bleiben können und dann auch Fortschritte zu erzielen sind."
    "Wenn EU-Länder nicht bereit sind – EU-Regeln zu erfüllen, das ist ja nicht nur Bulgarien, das sehen wir auch in auch Ungarn, dann finde ich, dürfen Flüchtlinge dahin nicht abgeschoben werden",
    Ergänzt Carsten Kühl, ehemaliger Finanzminister von Rheinland-Pfalz und jetzt als SPD-Bundestagskandidat im Wahlkampf.
    "Herr de Maizière quasi als Moses"
    Die von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, CDU, angezettelte Leitkulturdebatte unter dem Motto "Wir sind nicht Burka" umschreibt Kühl im Martinskirchengespräch mit biblischen Metaphern:
    "Ich finde, es ist auch schon eine besondere Form von Selbstüberschätzung, wenn sich Herr de Maizière quasi als Moses den Berg Sinai hinauf begibt und dann glaubt, die zehn wichtigsten Gebote des christlichen Abendlandes für die deutsche Nation aufzuschreiben. Das ist nicht integrativ, das ist nicht versöhnend, das ist spaltend. 'Wir sind nicht Burka', schreibt er. Er hätte auch schreiben können: 'Wir sind nicht Springerstiefel und Bomberjacke'."
    Den energischsten Widerspruch erntet der Sozialdemokrat da nicht von Maizières Parteifreundin Groden-Kranich, sondern aus dem Jugenheimer Publikum. Zwar trägt im Dorf keine der etwa zwanzig Flüchtlingsfrauen Burka, eine Afghanin hat sogar das Kopftuch abgelegt, weil sie sich endlich nicht mehr vor den Taliban fürchten muss. Aber im benachbarten Mainz sehe es anders aus, merkt eine Zuhörerin an:
    "Beispielsweise heute Morgen in der Uniklinik war ich in einem Café, alles Deutsche und eine Gruppe von Verschleierten, die spalteten sich ab, die waren nicht integriert, die wollten mit keinem was zu tun haben. Das ist eine Ablehnungshaltung, die da zutage tritt, das passt nicht zu uns. Wir haben offene Gesichter, und ich denke, das darf man auch sagen. Auch ein Herr de Maizière darf so was sagen."
    Und fragen dürfe man, ergänzt ein junger Mann:
    "Wie begegnen wir Problemen, dass muslimische Mädchen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen, wegen religiöser Vorschriften. Das sind Probleme, die können wir nur lösen, indem wir über eine Leitkultur reden".
    Kein Geld für Flüchtlingskinder, um in die Ferienfreizeit zu fahren
    Was die Jugenheim Alltagshelfer allerdings nur selten tun. Sie haben vielleicht zu viel damit zu tun, begeisterte syrische Mädchen zum Schwimmunterricht zu fahren. Kinder und was es kostet, ihnen Sport, und Bildung zu finanzieren - ein großes Thema in allen Familien, die Hartz IV beziehen, auch bei den Flüchtlingen. Stellvertretend richtet Wolfhard Klein eine Frage an die Bundestagskandidaten:
    "Wissen Sie, was für Mittel zur Verfügung stehen aus dem Topf für Bildung und Teilhabe?"
    Viermal Kopfschütteln auf dem Podium, auch auf die Frage, was eine Sportfreizeit kostet. Die Kleins betreuen eine afghanische Mutter von zwei Kindern als Alltagshelfer. Sabine Klein weiß es daher genau.
    "Für Bildung und Teilhabe gibt es pro Kind und Jahr 120 Euro. Das muss man immer jeweils bei den Aktionen beantragen. Ist das Geld ausgeschöpft, hat man Pech, dann können die Kinder zum Beispiel in sechs Wochen Ferien keine Freizeit machen. Andere Freizeiten kosten ab 360 Euro, wenn sie eine Woche im Zeltlager sind, das kann gar nicht finanziert werden. Die Mutter, wenn sie ihren VHS-Kurs nicht besucht, den sie im Moment macht, vom Jobcenter aus, dann wird ihr Geld gekürzt. Sie muss also dorthin und die Kinder alleine lassen."
    Es sei denn, die Jugenheimer Ehrenamtlichen organisieren Nothilfe. Aber eigentlich wollen sie sich ja um die Willkommenskultur kümmern - und nicht darum, staatliches Versagen abzufedern.