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Windungsreiche Tragikomödie

Martin Klugers neues Buch ist eine jüdische Familiengeschichte, die ihren Anfang nimmt mit der Verfolgung der europäischen Juden. Viele jüdische Emigranten, die während der Nazi-Zeit fliehen konnten, mussten sich ganz und unvorhersehbar neu erfinden: neue Namen, neue Mythen, neue Formen. Yehuda Leiser, der Vater des Ich-Erzählers in Klugers Roman, wird in seinem Emigrationsland, den USA, ein anderer.

Von Ulrich Rüdenauer | 09.06.2008
    Die Historie wird von Michel Foucault als Ort absoluter Kontingenz beschrieben; weder reine Vernunft noch göttliche Vorsehung machen der Dinge Lauf irgendwie erklärbar. Alles könnte immer auch anders sein - oder eben überhaupt nicht. Was für die große Geschichte gilt, gilt freilich umso mehr für das Schicksal jedes Einzelwesens.

    Im Leben eines Menschen, so habe ich gelernt, ist alles, absolut alles möglich, aber nichts, absolut nichts beweisbar.

    Heißt es einmal in Martin Klugers neuem Roman "Der Vogel, der spazieren ging", und man könnte dieses Diktum dick unterstreichen oder dem Buch als heimlich-unheimliches Leitmotto voranstellen. Die Literatur aber ist paradoxerweise der Ort absolut konstruierter Kontingenz: Den Figuren steht der Sinn zwar nach allen Möglichkeiten, aber der Autor ist zugleich Herr über deren Möglichkeitssinn. In Klugers rasanter Geschichte hat diese Doppelbödigkeit einen ganz besonderen Reiz: Kaum ein anderer Autor lässt seinen Helden so viel Raum zum Spiel und bleibt doch so sehr Souverän über das Geschehen.

    Dieses nimmt seinen Ausgang, auch wenn wir nichts konkret darüber lesen, während der Verfolgung der europäischen Juden: Vertreibung aus einem Land ist zugleich eine Vertreibung aus der biographischen Stringenz - ein Hineingeworfensein in die absolute Kontingenz. Viele jüdische Emigranten, die während der Nazi-Zeit fliehen konnten, mussten sich ganz und unvorhersehbar neu erfinden: neue Namen, neue Mythen, neue Formen. Auch Yehuda Leiser, der Vater des Ich-Erzählers in Martin Klugers Roman, wird in seinem Emigrationsland, den USA, ein anderer: Jonathan Still nennt er sich - was nicht nur eine Übersetzung von "Leiser" ist und "die Stille" bedeutet, sondern eben auch "dennoch, doch, noch immer", also: sich nicht unterkriegen lassen. Als Kriminalschriftsteller erschafft er eine katholische Romanfigur namens Paul Perrone. Die narrative Welt, die dieser Jonathan Still nach dem Krieg in Millionenauflage verbreitet, scheint die Gebrochenheit der Lebensläufe in der Ordnung einer Kinderfantasie aufzulösen. Der Vertriebene erfindet sich eine Detektivfigur, die noch jeden Kriminellen aufspürt und dem gerechten Gang des Gesetzes zuführt.

    In der Wirklichkeit natürlich gibt es so etwas wie Gerechtigkeit nicht: Der Subtext von Klugers Roman, um es fast schon verharmlosend philologisch zu sagen, besteht aus den Toten, aus jenen, die den Nazis nicht entkommen konnten. Sie bilden den unsichtbaren, dunklen Mittelpunkt, von dem aus erst erzählt werden, an den man aber auch nie mehr zurückkehren kann.

    An der Oberfläche haben wir es hingegen mit einer Komödie zu tun, die geradezu filmische Qualitäten besitzt: manchmal ins Screwballhafte sich steigernd, wirklich überdreht, eine Burleske, turbulent und höchst amüsant. Das hängt auch mit dem Erzähler zusammen, der diesem berühmten Vater sehr nahe steht und doch sehr fern ist. Dass es sich nebenbei um eine psychoanalytisch sehr fruchtbare Erzählperspektive handelt, merkt man, wenn der erste Satz mit dem Problem ins Buch fällt:

    Nicht ich bin, sondern mein Vater ist der Schriftsteller in der Familie. In meiner Geschichte ist er der Absender, ich bin der ewige Bote.
    Vater und Sohn - das ist die deutlichste Leitdifferenz im System Familie. Und in dieser Familie, in der die Nazis den Stammbaum und damit das Erbe abgesägt haben, ist da auch nicht viel mehr. Vater und Sohn schlagen sich beide als Einzelkinder durchs Leben. Der Sohn muss dabei die Übersetzungsarbeit leisten, nicht nur für uns, für sich, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes: Er ist einer von vielen Vasallen aus der Übersetzergarde des Bestseller-Autors Jonathan Still, und in den Büchern sucht er nach Schlüsseln für die "Fragen und Fragwürdigkeiten" des Lebens seines Vaters. Samuel Leiser - der Sohn beharrt auf dem Erbe des Namens, auch wenn die Namen, wie Kluger schreibt, sich "als unwirklich erwiesen haben" in der Geschichte - dieser Samuel Leiser hatte es nicht leicht mit seinem erotomanischen Vater und hat deshalb den Atlantik zwischen ihn und sich gebracht. Er lebt im Paris der 60er Jahre, getrennt von der uruguayischen Regisseurin Letitia Weintraub - auch sie freilich Kind einer jüdischen Familie, die zu den gezwungenen "Länderverlassern" gehörte, wie es Kluger in einem früheren Buch ausdrückte. Die Tochter der beiden ist im pubertären Trotzalter und soll für ein Jahr beim Vater in Paris wohnen, und fortan wird alles kompliziert.

    Nein, wir waren wirklich keine guten Eltern, wir litten selbst noch Wachstumsschmerzen, warteten weiterhin auf das Anbrechen eines goldenen Zeitalters und posierten derweil mit unseren Maos und Gurus und Psychoanalytikern vor goldenen Ersatzspiegeln. Auch unsere Väter waren Kinder geblieben, steckengeblieben, der eine erfand sich katholische Detektivgeschichten, der andere uruguayische Firmen, um eine Kontinuität wiederherzustellen, die es wahrscheinlich nie gegeben hatte für sie, oder nur als Reisegepäck, in den Karawansereis, wo man Leiser und Weintraub und Altshuld hieß.
    Tochter Ashley interessiert sich stärker für die Vergangenheit der Familie als ihr Vater, sie stellt sogar Nachforschungen an, die zu einigen Verwicklungen führen. Verwicklungsreich ist das Geschehen aber auch so schon: Die Geliebte von Sam verfällt in tiefste Depressionen, Letitia reist samt Liebhaber aus England an und Vater Jonathan aus Amerika. Auch Onkel Meyer, ein Geschäftemacher aus der Mafia-Halbwelt, taucht unvermittelt mit Bodyguards im Schlepptau auf der Bildfläche auf -man bräuchte einen Ernst Lubitsch oder Billy Wilder, um dieses Tohuwabohu angemessen zu verfilmen und um zu illustrieren, was im Buch einmal so formuliert wird:

    Der Mensch blieb unbegreiflich, seine Widersprüche ungelöst. Darin lag ja gerade der Charme dieses armseligen, auf den Krücken der Technik umherwandelnden Raubtiers, in seinen alten, stinkenden Geheimnissen.
    Wer sich in Martin Klugers zuletzt erschienenen, wunderbar poetischen Erzählungen "Der Koch, der nicht ganz richtig war" verloren hat, kennt sich schon ein wenig in seinem neuen Buch aus: Denn einige seiner dort eingeführten Figuren schwirren hier wieder durch die Szenerie, die Weintraubs beispielsweise oder der Schauspieler Ringold Schneider. Diesmal aber sind sie in eine geradezu süffig zu lesende, windungsreiche Tragikomödie hineingesetzt. So leicht und beschwingt erzählt kaum einer sonst vom Schweren und Unberechenbarem: "Der Vogel, der spazieren ging" hebt tatsächlich ab, wenn er seine Hauptfigur mit gestutztem Gefieder durch die große Stadt Paris und seinen Vater-Sohn-Konflikt torkeln lässt. Dabei bleibt bei Kluger vieles in der Schwebe; die Vergangenheit wird nur so weit angetupft, dass man sich zwar seine Gedanken, aber doch kein vollständiges Bild machen kann. Kluger glaubt, dass der Schrecken sich nicht nacherzählen lässt - nur andeuten: Wenn Onkel Meyer sagt, Identität bedeute Schuld, dann ahnen wir sofort, von welcher Identität da die Rede ist. Wie schwer es ist, eine Identität wiederaufzubauen, wenn sie einem erst einmal genommen wurde, auch davon spricht dieser Roman eines wunderbar sprachlistigen, fantasiebegabten Erzählers.

    Martin Kluger: Der Vogel, der spazieren ging. Roman.
    DuMont. Köln 2008.