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Winfried Kretschmann (Grüne)
Plädoyer für die "richtige Mitte"

Ökologie und Ökonomie, Freiheit und Sicherheit, Humanität und Ordnung - die Tugend liegt in der Mitte, meint Grünen-Politiker Winfried Kretschmann. Mit der "richtigen Mitte" in der Politik sei die Zivilisation seit tausenden Jahren erfolgreich, sagte er im Dlf - und fordert einen auf die Zukunft ausgerichteten Konservativismus.

Winfried Kretschmann im Gespräch mit Mario Dobovisek | 17.10.2018
    Sie sehen Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann, er spricht in zwei grüne Mikrofone.
    Konservativ sei es, die Schöpfung zu bewahren, so Kretschmann im Dlf (picture-alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Winfried Kretschmann von Bündnis 90/Die Grünen. Er ist Ministerpräsident von Baden-Württemberg und hat gerade ein Buch veröffentlicht. "Worauf wir uns verlassen wollen", lautet der Titel bei Fischer, "Für eine Idee des Konservativen im Wandel" – sein Beitrag auf der Suche nach dem Kurs im Hier und Jetzt. Guten Morgen, Herr Kretschmann!
    Winfried Kretschmann: Guten Morgen!
    Dobovisek: Sind die Grünen konservativ?
    Kretschmann: Nein.
    Dobovisek: Was denn dann?
    Kretschmann: Ich finde, so pauschal ist es jetzt nicht die Absicht dieses Buches, den Begriff auf der politischen Achse irgendwie zu verschieben. Es geht auch gar nicht um die Grünen in erster Linie. Es geht darum, was können wir im Wandel behalten, woran können wir uns orientieren, was die zivilisierte Menschheit eigentlich schon immer für richtig gehalten hat. Darum geht es. Das ist ein Buch, was etwas Orientierung liefern soll in Zeiten eines dramatischen Wandels, aber auch der politischen Umbrüche. Es geht nicht darum, den Grünen einen neuen Titel zu verpassen.
    "Konservativ ist zum Beispiel, die Schöpfung zu bewahren"
    Dobovisek: Was können Sie an Orientierung uns geben auf dem Weg zum Konservativen der Moderne?
    Kretschmann: Erst mal ist wichtig, dass wir das Konservative von der Zukunft her anschauen, was müssen wir bewahren für unsere Zukunft – nicht nur, weil früher es vermeintlich so schön war oder uns etwas so gut gefallen hat. Das ist erst mal der Blick, den wir darauf werfen. Konservativ ist zum Beispiel, die Schöpfung zu bewahren, die Natur zu erhalten. Wir haben sie ja vorgefunden und können sie nicht selber schaffen. Das sind sehr wichtige Werte, die wir für die Zukunft brauchen, denn bei der Natur geht es ja schließlich um unsere Lebensgrundlage.
    Oder, dass wir die offene Gesellschaft bewahren. Nur in ihr gibt es Freiheit und nur in ihr kann sich der Einzelne wirklich entfalten. Oder, dass wir in der Bildung darauf schauen, dass die jungen Menschen so gebildet werden, dass sie Urteilskraft besitzen. Das wissen wir spätestens seit Sokrates, dass das ganz wichtig ist in einer zivilisierten Welt, in einer Demokratie. Darum geht es, solche Werte noch mal zu betonen, reinzulegen in unsere heutige Zeit.
    Dobovisek: Würden das CDU, CSU und Teile der AfD auch unterschreiben?
    Kretschmann: Ich hoffe, dass das Teile der CDU/CSU auch alles unterschreiben. Aber ich sehe das bei der AfD nicht, sondern sie ist ja gerade jemand, die diese Werte entweder gar nicht anerkennt, wie Nachhaltigkeit bei der Natur, oder bekämpft, wie die offene Gesellschaft. Sie will ja genau das Gegenteil, eine geschlossene Volksgemeinschaft.
    Dobovisek: "Worauf wir uns verlassen wollen", lautet ja der Titel des Buches. Dabei geht es Ihnen auch um die Verunsicherung der Menschen, um ihre Ängste, den Kontrollverlust, weil sich so vieles gerade ändert, und jene folgen dann oft den populistischen Lautsprechern mit ihren einfachen Antworten. Weil Ihre Antworten, Herr Kretschmann, die der schrumpfenden Volksparteien, aber auch der Grünen zu kompliziert sind?
    Kretschmann: Das glaube ich nicht. Das ist sicher nicht der Grund. Wir haben alle die Aufgabe als Politiker, auch komplizierte Dinge so darzustellen, dass sie verstanden werden. Dem Auftrag müssen wir allerdings auch gerecht werden.
    Dobovisek: Und das wird die Politik nicht derzeit?
    Kretschmann: Die Welt ist nun mal kompliziert. Das ist einfach eine Tatsache. Die Menschen sind verschieden, das ist einfach eine Tatsache und der muss man gerecht werden, und das kann man auch. Der Rechtspopulismus ist ja ein neues Phänomen. Den gibt es jetzt nicht schon ewig. Jetzt muss man nicht so tun, als seien wir nicht in der Lage, Menschen etwas zu erklären. Dann wären wir doch kein erfolgreiches Gemeinwesen. Das ist aber der Fall. Wir müssen uns jetzt nicht von der Verblendung der Rechtspopulisten erzählen lassen, wir könnten die Welt nicht richtig erklären. Das können gerade wir und nicht die!
    "Dass der Fremde unser Nächster ist, das steht in den Evangelien"
    Dobovisek: Die CSU hat es im Wahlkampf ja mit einfachen Antworten in der Flüchtlingspolitik probiert. Wir erinnern uns an unsäglichen Koalitionskrach, der dann in Berlin folgte, rund um Seehofer und Co. Sind solche Annäherungsversuche an die AfD konservativ?
    Kretschmann: Nein, sicher nicht. Dass der Fremde unser Nächster ist, das steht in den Evangelien. Das ist 2.000 Jahre alt. Wir sind eine christlich geprägte Gesellschaft. Das ist eine der großen Wegmarken der Menschheitsgeschichte, dass nicht nur der, der in Deiner Umgebung wohnt oder mit dem Du verwandt bist, der zu Deinem Volk oder zu Deiner Religion gehört, Dein Nächster ist, sondern jeder auf der ganzen Welt, dem es schlecht geht, der in Not ist und der unserer Hilfe bedarf. Das sind wichtige christliche Werte und an denen sollten wir festhalten.
    Etwas ganz anderes ist, wie man praktisch damit umgeht. Natürlich kann nicht einfach jeder zu uns kommen, sondern die, die politisch verfolgt sind. Für solche in wirtschaftlicher Not müssen wir ein Einwanderungsgesetz machen, so dass sie auch eine Perspektive haben. – Das sind alles Fragen des tagespolitischen Kampfes, und dafür braucht man Orientierung und die versucht, das Buch zu geben. Aber es ist nicht einfach eine Anleitung zum politischen Handeln an jeder Kabinettssitzung. So ist das nicht gedacht.
    Dobovisek: Sie schreiben ja vom Bewahren und Gestalten, von Maß und Mitte. Hat zum Beispiel die CSU im Umgang mit der AfD und in der Flüchtlingspolitik Maß und Mitte verloren?
    Kretschmann: Ich will mich jetzt nicht an der CSU abarbeiten. Wir hatten ja gerade eine Wahl und die Menschen haben jetzt mal für Veränderung plädiert und sie hat da einen erheblichen Dämpfer bekommen. Ich glaube, wichtig ist immer das Und: Ökologie und Ökonomie, Freiheit und Sicherheit, Humanität und Ordnung. Da muss man diesen mittleren Kurs bewahren. Auch das ist ein Klassiker, der stammt in dem Fall von Aristoteles, dass die richtige Tugend die Mitte zwischen Übermaß und Mangel, zwischen zu viel und zu wenig ist. Deswegen bin ich ein großer Anhänger dieser richtigen Mitte in der Politik, weil wir damit einfach erfolgreich gewesen sind in unserer Zivilisation seit vielen tausend Jahren.
    Dobovisek: Raus aus der linken Ecke, sagt ja auch sinngemäß Grünen-Chef Robert Habeck. Der möchte die Grünen gerne in die Mitte führen. Mehr Kompromissbereitschaft, sagt er dazu, weniger urgrüne Ideologien. Wie groß ist dabei die Gefahr, dass die Grünen die Mitte überspringen und gleich auf der anderen Seite des Spektrums landen, im Schoß der Union?
    Kretschmann: Die Gefahr ist überhaupt nicht da.
    "Ich wüsste nicht, warum wir da bei der Union landen sollten"
    Dobovisek: Warum nicht?
    Kretschmann: Ich wüsste nicht, woher die Gefahr kommen sollte. Wir sind eine eigenständige Partei, wir haben unsere Kernanliegen, Umwandlung der Gesellschaft in eine nachhaltige Gesellschaft, im Verkehr, in unserer ganzen Lebensweise, in der Industrie, bei der Erzeugung von Energie. Das ist eine der großen Menschheitsfragen. Ich wüsste nicht, warum wir da bei der Union landen sollten, sondern Seehofer hat gerade das Gegenteil gesagt, wir müssen mehr Klimaschutz machen. Die Sorge brauchen Sie mal nicht haben. Ich glaube, es ist umgekehrt, dass sich andere Parteien stärker an uns orientieren müssen, weil wir Kernfragen der Menschheit aufs Tapet bringen. So sehe ich das eher.
    Dobovisek: So scheint ja, der natürliche Partner der Grünen längst nicht mehr die SPD zu sein. Stattdessen ist es die Union, und das nicht nur notgedrungen, sondern auch mit großen Schnittmengen. Wir sehen das bei Ihnen in Baden-Württemberg, Herr Kretschmann, wir sehen das in Hessen, wo jetzt wieder gewählt wird. Union und Grüne, zwei konservative Partner?
    Kretschmann: Nein, das halte ich für ein Klischee. Wir regieren hier mit der Union, weil das die einzige Möglichkeit war, eine stabile Regierung zu bilden. Wir hatten vor, mit den Sozialdemokraten weiterzuregieren. Es hat nur nicht gereicht für die Mehrheit. Das ist so: Wir haben ein ganz eigenständiges Programm mit eigenständigen Kernanliegen. Wir definieren uns nicht über andere Parteien. Wir sind wir selber. In Koalitionen kann man mit unterschiedlichen Partnern unterschiedliche Schwerpunkte setzen, und ich glaube, das wäre ganz verhängnisvoll, wenn sich die Parteien jetzt einander annähern. Die Parteien müssen ihren Markenkern hervorheben, aber koalitionsfähig bleiben. Das ist die Aufgabe der Stunde.
    Schauen Sie nur, wieviel Kombination wir jetzt in den Bundesländern haben; an die zehn auf jeden Fall. Dass wir uns einander ideologisch annähern, oder in unseren Weltanschauungen, das kann nicht der Sinn der Veranstaltung sein. Das ist auch überhaupt nicht mein Ziel, sondern wie gesagt, das was die Menschheit schon immer für richtig gehalten hat, so etwas zu verflüssigen, solche wichtigen Grundsätze für die Überlegungen, die jeder Mensch in seinem Kopf hat. Da geht es jetzt erst mal nicht um Parteipolitik, sondern um Orientierung, was die Grundlagen unserer demokratischen Ordnung betrifft. Das ist etwas ganz anderes.
    Dobovisek: Machen Sie sich um diese Grundordnung Sorgen?
    Kretschmann: Das muss man sich ja ganz offenkundig, wenn man sich anschaut, was in der Welt passiert ist, wer heute alles in Regierungen beteiligt ist oder sie gar führt. Schauen Sie nur in Italien, wo links- und Rechtspopulisten eine Regierung stellen, und die nagen an diesen Grundsätzen. Das kann man in Ungarn, in Polen, das kann man in den USA sehen. Das ist schon die große Sorge, die uns heute umtreibt: Wie erhalten wir die große Errungenschaft der Demokratie und der offenen Gesellschaft in der Welt, die ja jetzt viele Jahrzehnte auf dem Vormarsch war, und auf einmal sehen wir uns einer Menge von Rückschlägen in dieser Richtung ausgesetzt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.