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"Winnetou, Abel und ich"
Josef Winklers Rückkehr in Kärntner Indianerkindheit

Karl May war in jungen Jahren der Lektüregott des österreichischen Schriftstellers Josef Winkler. In "Winnetou, Abel und ich" nähert er sich sprachlich behutsam an den Geistesbruder von einst an. Dabei gelingt es Winkler, seinen bevorzugten Themen Tod, Homosexualität und katholische Erziehung eine neue künstlerische Dimension abzugewinnen.

Von Michaela Schmitz | 17.11.2014
    Undatierte Aufnahme des vielgelesenen deutschen Autors Karl May. Er wurde am 25. Februar 1842 in Ernstthal geboren. Bekannt geworden ist er durch seine abenteuerlichen Reiseerzählungen aus dem Wilden Westen und dem Vorderen Orient. In den populärsten Romanen ("Unter Geiern", "Der Ölprinz", "Winnetou", "Old Shatterhand" u.a.) fungieren die in der Ichform erzählenden Haupthelden Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi. Seit 1952 finden jährlich in Bad Segeberg und Elspe die Karl-May-Freilichtspiele statt, viele seiner Romane wurden verfilmt. Am 30. März 1912 starb Karl May in Radebeul.
    Behutsam gestaltet Josef Winkler seine sprachliche Annäherung an den Geistesbruder Karl May. (picture-alliance / dpa )
    Blutsbrüder und Brudermörder trennt oft nur eine dünne Buchseite oder Kinoleinwand. In Josef Winklers "Winnetou, Abel und ich" sind es die Bücher und Verfilmungen von Karl Mays Reiseerzählungen und die Bibel. Sie teilen die Welt des Erzählers in Bruderliebe und Bruderhass. In krasser Umkehrung des Gedankens christlicher Nächstenliebe steht der Katholizismus in Josef Winklers Einleitung zu seinen vier Nacherzählungen der wichtigsten Winnetou-Szenen für Bruderhass. Die Geschichte des Brudermordes von Kain an Abel gilt dem Erzähler und Alter Ego Josef Winklers als biblisches Urbild einer vom katholischen Glauben genährten brüderlichen Zwietracht. Aus Eifersucht erschlägt der Ackerbauer Kain, der Erstgeborene Adams und Evas, seinen jüngeren Bruder, den Schafshirten Abel, mit einem Stein.
    Neid auf die Zuneigung des Vaters bestimmt auch das Verhältnis des Erzählers von "Winnetou, Abel und ich" zu seinem ältesten Bruder und Erben des elterlichen Bauernhofs. Mit Bedacht spricht der Ich-Erzähler vom Hoferben mehrfach als zukünftigem "Ackermann". Erschlagen wird der Jüngere zwar nicht, aber der ältere Bruder holzt gemeinsam mit dem Vater seinen Marillenbaum ab, ein persönliches Geschenk seines Onkels. Als "Mordanschlag" empfindet das der junge Bruder. Denn außer diesem Aprikosenbaum gehöre ihm auf dem Hof gar nichts, so der Erzähler. Als nichtsnutziger Kostgänger wird der Handelsschüler beschimpft; von den älteren, bereits arbeitenden Brüdern genauso wie vom Vater. Dieser erscheint ihm mehr als einmal wie der leibhaftige Teufel.
    "Der Vater erschien mit seinen nägelbeschlagenen Goisererschuhen, seinem speckigen grauen Hut (...), einen Zweitagebart in seinem (...) spitzen Teufelsgesicht mit den zentimeterlangen Augenbrauen; hielt mir einen kotbeschmierten Hanfstrick, mit dem Kälber auf die Welt gezogen wurden und mit dem sich die Dorfjugend im Stall erhängte, unter die Nase (..) und sagte donnernd und zähneknirschend (..): ‚Wenn du noch einmal so spät heimkommst! Schau ihn dir an! Schau ihn dir genau an!' (...) Hinter seinem Rücken schaute ihm höhnisch und mit giftigem Blick der (...) Hoferbe und zukünftige Ackermann über die Schultern."
    Schwarze Komik
    Die Übertragung biblischer Figuren und Geschichten auf den elterlichen Hof und das kreuzförmig errichtete, streng katholische Dorf Kamering werden dabei parodistisch stark überzeichnet; und vom Erzähler immer wieder bis zu dem Punkt getrieben, an dem die persönlich dramatischen Ereignisse in schwarze Komik umschlagen.
    Genauso komisch sind die Schilderungen der ersten Begegnungen mit der Gegenwelt: Karl Mays Reiseerzählungen auf Kinoleinwand. Die Flucht vor dem heimatlichen Bruderhass ins Kino des benachbarten Ferndorf und zu den Blutsbrüdern Winnetou und Old Shatterhand wird für den jungen Bauernsohn bald zur Sucht. Für Winnetou-Bücher und -Filme schwänzt er die Schule und bestiehlt Eltern und Buchhändler. Und wird, wie sein Geistesbruder Karl May, in jungen Jahren regelrecht zum Kleinkriminellen.
    "Selbst im Alter von 15 Jahren schaffte ich es noch nicht, von den Karl-May-Büchern loszukommen (...) und begann, in der Buchhandlung Baldele die gebundenen Karl-May-Bücher mit den Deckblattbildern von Sascha Schneider zu stehlen (...)."
    Karl May selbst hatte die Zeichnungen beim homosexuellen Künstlerfreund Schneider in Auftrag gegeben, weil er sich und seine Ideen in seinen Darstellungen am besten wiederfand. Nur auf den ersten Blick erstaunt, dass Schneiders symbolistische, homoerotische Winnetou-Illustrationen von religiösen Motiven durchzogen sind. Karl May konvertierte zum Katholizismus, sein Held Winnetou bekennt sich kurz vor seinem Tod zum Christentum. Nicht zufällig setzt Josef Winkler Schneiders Zeichnungen vor seine eigenen Nacherzählungen von Karl Mays Reiseerzählungen, in denen er selbst den für ihn wichtigsten Szenen nachspürt. Auffallend behutsam gestaltet Winkler seine sprachliche Annäherung an den Geistesbruder Karl May. Dessen Originaltext wird von Winkler meist nur leicht modifiziert, in weiten Passagen sogar wortwörtlich wiedergegeben. So behutsam wie die im Buchvorspann erwähnten Indianer: Als sie ihre von Weißen gefilmten roten Brüder zum ersten Mal auf Kinoleinwand sehen, "befühlten und streichelten die völlig verblüfften Indianer, die sich in den beweglichen Bildern wiederfanden und erkannten, die Leinwand und rieben ihre Wangen daran."
    Beinahe pathologische Identifikation mit Karl May
    Direkt davor platziert Winkler ein Foto, das ihn selbst Schulter an Schulter mit einem Indianer zeigt. Und stellt damit die beinahe pathologische Identifikation des Schriftstellers Karl May mit seinem eigenen Romanhelden Old Shatterhand nach. Josef Winkler treibt dieses Spiel mit der mehrfachen Überlagerung von Kunst und Wirklichkeit, Dichtung und Autobiografie in "Winnetou, Abel und ich" ironisch auf die Spitze. Und spiegelt sich als Erzähler in den Winnetou-Romanen im persönlichen "Porträt eines Schriftstellers als Karl May in der Vision Old Shatterhands". Winkler gelingt es in "Winnetou, Abel und ich" einmal mehr, seinen "alten Themen" Tod, Homosexualität und katholische Erziehung - wie gewohnt in geschliffener Sprache und tiefsinniger, schwarzer Ironie - im Vexierspiel von Bruderliebe und Brudermord eine neue künstlerische Dimension abzugewinnen.
    Josef Winkler: Winnetou, Abel und ich.
    Suhrkamp Verlag 2014, 143 Seiten, 16,95 Euro