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"Wir brauchen die Empörung"

Es geht um die Jungen, die Älteren, die Alten und wie sie auf soziale, menschenwürdige Weise leben können und leben wollen, antwortet der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß der französischen Aktivistin Ophélia Latil.

Von Karl-Markus Gauß | 10.08.2011
    Liebe Ophélie,

    wir haben bisher hauptsächlich über jene jungen Europäer gesprochen, die gut ausgebildet sind, aber dennoch gehindert werden, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Nun aber bin ich froh, dass Sie in Ihrem letzten Brief von der Kritik an der prekären Lage der Jugendlichen zur Forderung übergangen sind, die Gesellschaft selbst zu humanisieren. Freilich, wie kann das gelingen? Ich bin überzeugt, dass die Mehrheit der Europäer den meisten Ihrer Forderungen schon heute zustimmen würde; denn die Franzosen, Spanier, Deutschen, Österreicher wissen bereits, dass unsere Demokratien nahe daran sind, von frecher Korruption zerfressen, von selbstherrlicher Inkompetenz ruiniert zu werden, und sie lehnen es auch ab, dass sich in einer Zeit, die unerhörten Reichtum schafft, zugleich neue Armut ausbreitet.

    Wenn Menschen in großer Zahl empört sind, können sie von einer unerwarteten Mobilität erfasst werden: Dann gehen sie auf die Straße, besetzen die Plätze, die realen der Stadt und die virtuellen des Internet und der Medien, kehren, auch wenn sie vertrieben werden, wieder auf diese zurück und werden so zu einer Macht, die Staat und Gesellschaft nicht mehr ignorieren können. Größere Gefahr als durch offene Repression droht ihnen wenigstens in Europa von der kalkulierten Langmut der Obrigkeit, die sie demonstrieren lässt, einige ihrer Forderungen vage für berechtigt erklärt, andere als lächerlich bannt und im Übrigen darauf setzt, dass auch empörten Leuten irgendwann die Lust vergeht und sie sich, zumal wenn ihnen ein paar Reformen zugesichert wurden, wieder zerstreuen. Kann ein ziviler Protest überhaupt so vehement und originell, so ausdauernd und konsequent sein, dass der Staat mit seinen Institutionen endlich doch nachgibt oder die Gesellschaft mit ihren Parteien, Gewerkschaften, Interessengruppen sich die Forderungen der Protestierenden nach und nach zu eigen machen? Optimistisch gesprochen: Es ist, nun ja, nicht unmöglich.

    Da Sie aber, was ich gut verstehen kann, das Vertrauen in die Parteien und die Institutionen verloren haben, werden sie diese Hoffnung für eine leere Illusion halten. Dann bleibt uns nicht viel anderes, als darauf zu setzen, dass sich die Empörung, horribile dictu, selbst organisatorische Formen erschafft; Formen, die hoffentlich nicht gleich wieder parteimäßig verkrusten. Wichtiger als neue Parteien sind gesellschaftliche Initiativen, von denen Sie einige erwähnt haben, und von denen weitere entstehen werden, die wir beide noch nicht kennen, weil sie im Protest erst gefunden, erprobt werden müssen.

    Ich hoffe, dass die Empörung, wenn rasche Wirkung ausbleibt, nicht zur ratlosen Wut verkommt. Wir brauchen die Empörung, aber nicht nur sie, sondern auch die kundige Analyse der ökonomischen und sozialen Prozesse. Worauf es aber vor allem ankommt: dass wir, was uns widerfährt, nicht für Schicksal halten, in das wir uns fügen müssen. In den letzten Jahrzehnten wurde uns mit nachgerade religiösem Fanatismus gelehrt, dass es unbeeinflussbare Gesetze des Marktes sind, die über uns herrschen und denen wir uns zu unserem eigenen Nutzen zu ergeben hätten. Es wäre eine Wiederentdeckung, die es lohnte: die Einsicht, dass überall, wo vorgeblich anonyme Gesetze walten, konkrete Menschen mit ihren bestimmten Interessen dahinter stehen. Und dass wir, trotz alledem, selbst dafür verantwortlich sind, was mit uns geschieht.

    Liebe Ophélie, der soziale Protest der Jungen ist noch jung, er hat gerade erst begonnen. Aber er ist nicht verfrüht, im Gegenteil, denn an die Missstände, gegen die er sich richtet, haben wir alle uns schon fast zu gewöhnen begonnen. Bedenkt man, dass die alten Menschen immer älter und daher immer mehr werden, wird einem drastisch bewusst, wie überfällig es ist, dass wir neue Ideen entwickeln und alte, als weltfremd oder utopistisch abgewiesene Ideen wieder aufgreifen: Es geht um die Jungen, die Älteren, die Alten - und wie wir auf soziale, menschenwürdige Weise leben können und leben wollen.
    Es grüßt Sie herzlich,

    Ihr Karl-Markus Gauß

    Serie "Liebe Ophélie - lieber Karl-Markus"
    Jugendprotest in Europa. Ein Briefwechsel


    Zu hören wochentäglich vom 1. bis 10. August 2011 im Deutschlandfunk in der Sendung "Europa heute" ab 9:10 Uhr und die Wiederholung um 14:35 Uhr in "Campus & Karriere".