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"Wir brauchen eine Doppelstrategie"

Gegen den Fachkräftemangel ist nach Ansicht von Raimund Becker, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, eine Doppelstrategie nötig. Man müsse das Potenzial inländischer Erwerbspersonen etwa durch Qualifizierungsmaßnahmen besser nutzen. Es bleibe aber eine Lücke, die durch gesteuerte Zuwanderung geschlossen werden müsse.

Raimund Becker im Gespräch mit Jasper Barenberg | 19.05.2011
    Jasper Barenberg: Vollbeschäftigung, dieses Ziel war in Deutschland lange nicht mehr als eine belächelte Utopie. Glaubt man aber denen, die über den Tag hinausschauen, ändern sich die Verhältnisse gerade gründlich. Nicht mehr Arbeitslosigkeit wird demnach in Zukunft das Thema sein, sondern der Mangel an geeigneten Arbeitskräften. Das hat viel mit den Folgen unserer alternden Gesellschaft zu tun. Weil die Zahl der Arbeitskräfte in Deutschland insgesamt kräftig schrumpfen wird, könnten schon in 15 Jahren sechseinhalb Millionen Arbeitskräfte fehlen. So hat es beispielsweise die Bundesagentur für Arbeit in einer ausführlichen Analyse kürzlich vorgerechnet. Was ist also nötig, um dem drohenden Mangel zu begegnen, und tut die Bundesregierung genug gegen den Fachkräftemangel? Auch darüber habe ich vor dieser Sendung mit Raimund Becker sprechen können, er ist einer der drei Vorstände der Bundesagentur, und ich habe ihn zunächst gefragt, wie dramatisch er die Entwicklung einschätzt.

    Raimund Becker: Ich glaube, dieses Problem schaukelt sich langsam auf. Am aktuellen Rand verspüren ja schon viele Unternehmen, dass es sehr eng wird, die entsprechenden Fachkräfte zu bekommen. Wir haben zwar noch keinen flächendeckenden Fachkräftemangel, aber in bestimmten Sektoren, in bestimmten Branchen merken viele Unternehmen, dass es eng wird. Und wenn wir ein Stückchen nach vorne schauen, in die nächsten Jahre, wird diese Demografie, insbesondere was die Schulabgänger anbelangt, richtig zuschlagen, sodass eigentlich den Unternehmen auch weniger junge Menschen zur Verfügung stehen, die man halt ausbilden kann.

    Barenberg: Das heißt, es besteht eine Gefahr aus Ihrer Sicht, dass wir wirtschaftlich geradezu ins Abseits geraten?

    Becker: Ja, dass zumindest für das, was an wirtschaftlicher Tätigkeit geleistet werden könnte, nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.

    Barenberg: Wir haben ja schon vor einer ganzen Weile - ich glaube, es sind ungefähr zehn Jahre - gesprochen über fehlende IT-Spezialisten beispielsweise. Da gab es eine große Diskussion seinerzeit. Der Mangel an Ingenieuren oder der fehlende qualifizierte Ingenieur ist geradezu zum geflügelten Wort inzwischen geworden. Hat die Politik, haben die Politiker da lange auch etwas verschlafen, was sich jetzt dramatisch zuspitzt?

    Becker: Ich glaube, vor zehn Jahren konnte man zwar intellektuell begreifen, dass aufgrund der Demografie auch irgendwann der Arbeitsmarkt letztendlich leiden wird, aber das Thema war noch nicht so präsent. Und ich glaube, seit diesem wirtschaftlichen Aufschwung 2007/2008 ist auch bei den Unternehmen klarer geworden, was es bedeutet, Fachkräfte nicht zu haben. Denn wir haben kurz vor der Krise ja erlebt, dass viele Elektriker, Ingenieure, Schweißer, Schlosser gesucht wurden, was schon darauf hingedeutet hat, es reicht nicht mehr letztendlich an ausgebildeten Kräften in Deutschland. Und dieses Signal hat sich nach der Krise noch mal wesentlich verstärkt, sodass ich glaube, dass jetzt alle gesellschaftlichen Gruppen, aber auch die Politik sehr stark daran interessiert sind und daran denken, aus diesem Thema, was vor uns liegt, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

    Barenberg: Die Bundesregierung will jedenfalls im Sommer ein Gesamtkonzept vorlegen, wie dem Fachkräftemangel abzuhelfen ist. Auf dem Tisch liegt bisher ein Entwurf, und alles, was man davon weiß, bedeutet vor allem, dass auf Ältere gesetzt werden soll, auf Arbeitslose, aber auch und vor allem darauf, Mütter zurück in den Beruf zu bekommen, Frauen also, die entweder gar nicht derzeit jedenfalls für Lohn arbeiten, oder die Teilzeit arbeiten. Ist die Bundesregierung da auf dem richtigen Weg?

    Becker: Ja, sie ist da auf einem richtigen Weg. Sie bedient die richtigen Hebel und die Hebel, wo auch Quantitäten vorhanden sind. Wir haben in Deutschland ein sehr großes Reservoir an Frauen, die schon in Beschäftigung sind, aber nur Teilzeit beschäftigt sind und gerne Vollzeit arbeiten würden. Wir haben viele Frauen, die momentan in der sogenannten stillen Reserve sind, die beobachten, eigentlich gerne arbeiten würden, aber den Markt auch ein Stück beobachten. Wir haben aber auch das Problem, dass, wenn es um die Realisierung von Arbeit von Frauen geht, wir das Thema Lage und Verteilung der Arbeitszeit, Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen als die Herausforderungen vor uns sehen.

    Barenberg: Flächendeckende Ganztagsschulen sind da ein Stichwort, flächendeckende Kinderbetreuung. Die Bundesregierung ist im Moment nicht in der Lage, das selbst gesteckte Ziel zu erreichen. Es sind noch nicht so viele Kitaplätze beispielsweise geschaffen, wie man das eigentlich in Aussicht gestellt hatte. Kommunen tun sich schwer, die Ziele zu erfüllen. Sind das nicht Voraussetzungen, ohne die dieses Reservoir jedenfalls nicht zu heben ist?

    Becker: Ich glaube, das sind notwendige Bedingungen, damit wir auch das Erwerbspersonenpotenzial der Frauen stärker erschließen können. Ich kann da nur Mut machen, an dem Ziel festzuhalten und es auch zu realisieren, auch wenn es ein Stückchen länger dauert.

    Barenberg: Und es ist auch ein Versäumnis der Bundesregierung, dass sie nicht genug getan haben?

    Becker: Ja, man muss sagen, wenn die Erkenntnis später kommt, ist es doch schöner, später die Erkenntnis zu haben und sie dann auch umzusetzen, und ich kann nur sagen, dass diese Initiativenentwicklungen in die richtige Richtung gehen.

    Barenberg: Allein mit Müttern, die künftig möglicherweise mehr arbeiten, ist das Problem nicht zu lösen. 6,5 Millionen, die Zahl haben wir schon genannt. Zuwanderung ist aus Sicht der Bundesagentur für Arbeit jedenfalls eine weitere notwendige Bedingung, um diese Lücke zu schließen?

    Becker: Ja! Wir haben nach unseren Berechnungen folgendes Szenario, dass wir sagen, wir brauchen eine Doppelstrategie. Wir brauchen die Strategie, unser inländisches Erwerbspersonen-Potenzial zu qualifizieren, wir haben die Frauen angesprochen, wir müssen darüber sprechen, Ältere länger in den Betrieben zu halten, wir haben viele Menschen, die gering qualifiziert sind, die keine Ausbildung haben. Aber selbst wenn wir das alles aktivieren würden, würde immer noch eine Lücke bestehen bleiben. Die verbleibt, und da ist die Frage, wie schließt man die, und aus unserer Sicht muss man sie schließen über eine gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften. Das hilft dann, die entstehende Lücke, über die wir gesprochen haben, diese 6,5 Millionen, zu schließen.

    Barenberg: Die Bundesregierung tut sich allerdings schwer. Sie plant keine Veränderung der derzeitigen Zuwanderungsregeln. Wie schwer wiegt dieses Versäumnis?

    Becker: Es gibt ja unterschiedliche Signale in der Regierung. Ich merke schon, dass ein Diskussionsprozess gestartet hat. Man muss sicherlich die Historie von Deutschland ein Stückchen betrachten, dass die bisherige Zuwanderung tendenziell eher aus familienpolitischen Gründen oder humanitären Gründen letztendlich geschehen war. Das Zuwanderungsrecht versteht auch ein ausländischer Dritter nicht so recht, muss man schon sagen, sodass ich glaube, wenn man wirklich das Zuwanderungsrecht eigentlich auch unterstützend für das Problem des Fachkräftebedarfs weiterentwickeln will, kommt man um eine gesteuerte Zuwanderung nicht herum, egal wie man die letztendlich therapiert, in Form eines Punktesystems oder über eine Positivliste.

    Barenberg: Christine Haderthauer ist nicht nur von der CSU, sie ist auch die Arbeitsministerin in Bayern, und sie sagt, die Lösung des Problems erreichen wir nicht durch Zuwanderung, sondern die Lösung liegt auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Wenn wir dort bessere Bedingungen haben, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, dann können wir das Ziel auch so erreichen.

    Becker: Da muss ich nur noch mal sagen, nach unserer Analyse brauchen wir die Doppelstrategie. Selbst wenn wir diese günstigen Voraussetzungen in Deutschland schaffen würden, würde selbst die Aktivierung all dieser Personengruppen, über die wir gesprochen haben, nicht reichen, diese Lücke zu schließen, und von daher bleibt es bei unserer Doppelstrategie zu sagen, wir brauchen auch gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften von außerhalb.

    Barenberg: Zu der Strategie, die Sie entwickelt haben, gehört ja auch die Weiterbildung, die Weiterqualifizierung. Nun hat die Bundesregierung Ihnen gerade die Zuschüsse gestrichen. Sie sollen Milliarden in den nächsten Jahren einsparen. Das kann man schon jetzt merken, welche Effekte das hat, denn die Bundesagentur hat beispielsweise die Angebote für Weiterbildung schon im letzten Jahr erheblich gesenkt. Nimmt man Ihnen damit eigentlich nicht die Möglichkeit, Ihren Beitrag zu leisten, um diesem Fachkräftemangel zu begegnen?

    Becker: Also wenn diese Sparziele auf uns übertragen werden, ohne letztendlich gesetzesgeberisch tätig zu werden, in Form von Einschränkungen von bestimmten Leistungen, dann haben wir große Probleme, die Arbeitsmarktpolitik letztendlich so aufrecht zu erhalten, wie sie eigentlich benötigt würde, um Menschen wieder in den Arbeitsprozess zu bringen, und wie sie auch benötigt würde, um dem Thema Fachkräftebedarf durch Qualifizierung und Weiterbildung Rechnung tragen zu können.

    Barenberg: Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk Raimund Becker, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit. Vielen Dank für den Besuch.

    Becker: Herzlichen Dank auch.
    Teilnehmer von Berufsbildungseinrichtungen arbeiten in der Lounge des Elbcampus in Hamburg.
    Weiterbildung ist nur eine Säule der Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel. (picture alliance)