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"Wir haben Angst, noch tiefer zu fallen"

In einem Briefwechsel zwischen den Generationen diskutieren die 28 Jahre alte Ophélie Latil, Sprecherin zweier französischer Protestkollektive, und der 57 Jahre alte österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß, wofür die Jugend heute protestiert. Ophélie Latil beginnt mit den Gründen ihrer Empörung.

01.08.2011
    Lieber Karl-Markus Gauß,

    man nennt uns die "Empörten": Überall in Europa kommen junge Leute kommen zusammen, veranstalten ein Sit-in und twittern, als ginge es um eine Revolution. Die Öffentlichkeit staunt entweder über diese Aktionen oder sie amüsiert sich über uns. Aber kaum jemand fragt: Was passiert da eigentlich? Und worum geht es? Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Junge Leute haben viel zu selten die Chance, sich öffentlich zu äußern - ich will diese Chance nutzen.

    Ja, ich bin jung. Soll ich sagen: Pech gehabt? Als junger Mensch bin ich für diese Konsumgesellschaft nur interessant, wenn ich Handys kaufe und teure Kleider. Abgesehen von ihrem Konsumpotenzial sind junge Leute in diesen Krisenzeiten nichts anderes als eine gesellschaftliche Manövriermasse. Sie sind diejenigen, die alles akzeptieren müssen, weil sie das Leben ja noch "vor sich haben", wie man so sagt: Deshalb müssen sie sich krumm legen, deshalb müssen sie tun, was man von ihnen verlangt.

    Wie sagte doch die Präsidentin der französischen Arbeitgeber, Laurence Parisot? "Jugend ist eine Krankheit, von der man gesundet". Was sie damit wohl meinte? Vermutlich wollte sie sagen, dass diese prekären Verhältnisse, in denen wir leben, nur vorübergehend sind: provisorisch gewissermaßen. Wenn es nur so wäre: Dann würden wir uns tatsächlich zusammenreißen und einfach weitermachen. Aber es ist nicht so. Es geht um die Verarmung einer ganzen Generation. Das beeinflusst unseren Alltag, unsere Haltung zur Arbeit, zu den älteren Generationen, zur Gesellschaft. Und deshalb sage ich: Schluss mit diesem Initiationsritus der Bescheidenheit!

    "Jugend ist eine Krankheit, von der man gesundet?" Wer so redet, der steckt den Kopf in den Sand. Anders als vor einem Jahrzehnt müssen wir heute durchschnittlich 28 Jahre auf eine Festanstellung hinarbeiten - heute gibt es zehnmal mehr Praktikanten als vor zehn Jahren. Um eine Wohnung zu bekommen, müssen wir einen unbefristeten Arbeitsvertrag vorlegen - dabei sind die Mieten heute dreimal teurer als vor zehn Jahren. Wer damals nach dem Abitur fünf Jahre studiert hatte und drei Sprachen beherrschte, war der "King". Heute sind viele junge Leute noch besser ausgebildet - und müssen selbst um die billigsten Gelegenheitsjobs kämpfen. Weil wir kein Recht auf Arbeitsplätze und eine angemessene Bezahlung haben, können wir uns nichts leisten. Keine Wohnungen. Keine Kinder. Keine Zukunft.

    Ich gehöre einem Kollektiv an, das sich "Génération Précaire" nennt. Es geht uns um das sogenannte Prekariat, um soziale Unsicherheit und sozialen Abstieg, um eine Gesellschaft, die uns ignoriert. Viele sagen, wir seien ängstlich. Jede Epoche und jede Generation habe mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen gehabt. Vielen gehe es noch schlechter als uns. Heißt das, dass wir wirklich zu nichts anderem taugen als zu Praktika? Heißt das, dass wir uns damit abfinden sollen, heute die Working Poor und morgen die verarmten Alten zu sein - weil wir heute kein Gehalt und morgen keine Rente bekommen?

    Wir haben Angst, noch tiefer zu fallen. Es geht uns um ein Leben in Würde. Es geht um unsere Zukunft. Können Sie verstehen, dass wir uns empören?

    Ich grüße Sie herzlich

    Ihre Ophélie Latil

    Serie "Liebe Ophélie - lieber Karl-Markus" - Jugendprotest in Europa. Ein Briefwechsel.

    Zu hören wochentäglich vom 1. bis 10. August 2011 im Deutschlandfunk in der Sendung "Europa heute" ab 9:10 Uhr und die Wiederholung um 14:35 Uhr in "Campus & Karriere".