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"Wir haben doch ein solidarisches Volk"

Die finanzpolitischen Debatten verstehe ohnehin kaum ein Mensch, meint die CDU-Ministerpräsidentin von Thüringen, aber die politische Klasse solle den Stammtischen klar machen, dass die Krisenstaaten der EU nicht fallen gelassen würden.

Christine Lieberknecht im Gespräch mit Christoph Heinemann | 30.09.2011
    Christoph Heinemann: EFSF steht für European Financial Stability Facility, zu Deutsch Europäischer Finanzstabilisierungsfaszilität, und dass das wichtig sein muss, geht schon daraus hervor, dass dieses Wort aus 31 Buchstaben besteht. Die FAZ – dieses Kürzel steht bekanntlich für Frankfurter Allgemeine Zeitung – löste EFSF kürzlich in einer Karikatur folgendermaßen auf (Schüler bitte kurz weghören, die Rechtschreibung stimmt nämlich am Schluss nicht so ganz): EFSF gleich Europa füttert seine Fersager. – Nach der Abstimmung ist vor der Debatte. Der Bundesrat beschäftigt sich heute mit dem Rettungsschirm. Die Länderkammer stimmt allerdings dabei nicht ab. Am Telefon ist jetzt Christine Lieberknecht (CDU), die Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen. Guten Morgen.

    Christine Lieberknecht: Guten Morgen, Herr Heinemann.

    Heinemann: Frau Lieberknecht, stabilisieren wir den Euro, oder füttern wir Versager in Banken und Regierungen?

    Lieberknecht: Ich finde diese Karikatur in der FAZ mit Verlaub nicht nur unangemessen, sondern sogar unanständig im Blick auf den Populismus, mit dem wir über Wochen in Deutschland zu kämpfen hatten, denn die Rettung des Euro, der Euro-Rettungsschirm, die Erweiterung sind notwendig für die Stabilität des Euro und sind notwendig auch im Interesse der Solidarität in Europa, zu der wir dringend gerufen sind.

    Heinemann: Das ist das Wesen von Karikaturen, dass sie übertreiben, und es entspricht vielleicht dem, was doch sehr, sehr viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Land denken.

    Lieberknecht: Ja natürlich entspricht es dem, was viele Menschen denken, aber Aufgabe der Politik ist doch, diesem Denken auch Erklärungen zu bieten, diesem Denken auch einmal wirklich Standhaftigkeit zu bezeugen, und da ist es doch so, dass der Euro von den Griechen, von den ganz normalen Arbeitern genauso sauber und hart verdient werden muss, wie das im Bayerischen Wald der Fall ist, wie das in meinem Thüringer Heimatland der Fall ist, und es ist doch unanständig, die Menschen in Europa aufeinanderzuhetzen, wo Europa gerade für uns Deutsche eine Geschichte der Solidarität ist, so dass es Klärungsbedarf gibt.

    Heinemann: Frau Lieberknecht, aber gerade die gegenwärtige Bundesregierung trägt doch nicht zur Klärung bei, Stichwort Ausweitung des Rettungsschirms.

    Lieberknecht: Es gibt eine ganz klare Maßgabe der Bundeskanzlerin und von Wolfgang Schäuble seit Ende Juli, seit den Verabredungen im europäischen Raum über die Erweiterung des Rettungsschirmes, über die Konditionen, die eingebaut worden sind, mit der ganz klaren Maßgabe des Lieferns durch die Griechen, des tranchenweise zur-Verfügung-Stellens, wenn die Gelder gebraucht werden, und die Griechen haben enorme Anstrengungen schon unternommen. Es ist natürlich einfach, auf den deutschen Stammtischen mit Populismus letztlich die europäische Debatte zu führen, und ich sage Ihnen ehrlich: Mir ist die Hutschnur wirklich geplatzt bei den Überschriften am Wochenende "Wann lassen wir die Griechen endlich Pleite gehen?" So gehen wir in Europa nicht miteinander um und zu meinen Grundwerten gehört, dass Solidarität ein unverzichtbarer Wert ist.

    Heinemann: Frau Lieberknecht, Sie sprachen von den ganz klaren Botschaften. So ganz klar ist das alles nicht, und da komme ich jetzt drauf. Es wird ja spekuliert über den sogenannten Hebel, das heißt, den Rettungsschirm zu einer Art Teilkasko-Versicherung zu erweitern, die Käufern von Staatsanleihen zum Beispiel bei einer Insolvenz von Italien die ersten 20 oder 25 Prozent des Verlustes abnehmen würden. Damit könnte man die Summe des Rettungsfonds vervierfachen, wenn man zum Beispiel chinesische Staatsfonds oder wen auch immer dazugewinnen könnte. Darüber hat mein Kollege Friedbert Meurer gestern mit Wolfgang Schäuble in dieser Sendung gesprochen, und wir wollen uns diesen Gesprächsauszug kurz anhören.

    Wolfgang Schäuble: "Und noch einmal, es bleibt dabei: die Haftungssumme, die der Deutsche Bundestag beschließt, kann ohne einen neuen Beschluss des Deutschen Bundestages nicht verändert werden."

    Friedbert Meurer: Es wird schon spekuliert, dass aus den 440 Milliarden bis zu zwei Billionen werden könnten, durch einen Kredithebel, auch wenn Sie ihn jetzt nicht erwähnt haben.

    Schäuble: "Aber nicht an Haftung! Aber nicht an Haftung für die deutschen Steuerzahler. Das ist etwas völlig anderes."

    Heinemann: Und diese Antwort war wirklich spannend, denn Wolfgang Schäuble schließt eine Erhöhung des Rettungsschirms ausdrücklich nicht aus, sondern nur einen höheren deutschen Haftungsbetrag, also dieser Hebel. Er hat diesem Hebel nicht widersprochen. Haben die Bürgerinnen und Bürger, Frau Lieberknecht, bei Ihnen in Thüringen zum Beispiel nicht ein Recht darauf zu wissen, was diese Bundesregierung genau plant?

    Lieberknecht: Natürlich! Deswegen sind wir ja auch unterwegs und müssen sachlich erklären. Aber es ist nicht nur das monetäre Europa, was zur Debatte steht, sondern die Menschen brauchen klare Signale, denn diese ganzen finanzpolitischen Debatten versteht ohnehin kaum ein Mensch, sondern es geht darum, dass die politische Klasse in Deutschland sich eindeutig zu Europa bekennt, keinen Zweifel daran lässt, dass Griechenland gesichert wird, dass wir gemeinsam in der Euro-Zone die Zukunft in dieser Gemeinschaft auch gehen, und nur diese Sicherheit ist ja ein Signal an die Märkte.

    Bei dieser Unruhe und bei diesem ständigen Spekulieren und auch Lamentieren, schaffen wir die Kanzlermehrheit, wie geht die Abstimmung im Deutschen Bundestag aus, das ist doch klar, dass die Märkte dann auch "verrückt spielen". Das Ganze ist ja auch eine große Sache der Psychologie. Von daher kann ich nur sagen, die politische Klasse in Deutschland muss klare Signale senden: Wir lassen keinen Zweifel daran, Griechenland die Hilfe angedeihen zu lassen, die es braucht, bei der ganz klaren Gegenleistung, zu der sich die Griechen auch verpflichtet haben. Wir brauchen Eindeutigkeit in den Botschaften. Die technischen Debatten versteht ohnehin kaum jemand.

    Heinemann: Sie sind ganz schön geladen!

    Lieberknecht: Ja, es ist doch wahr! Seit Ende Juli stand fest, dass die politische Logik in Deutschland ja geradezu auch die Mehrheit und auch die Kanzlermehrheit im Bundestag erfordert und dass diese Mehrheit kommen wird. Sie werden an keiner Stelle über die ganzen Wochen und Monate von mir auch nur einen einzigen Satz gehört haben, dass ich daran zweifle, und das war doch allen klar, dass sie kommen muss und kommen wird. Aber über Wochen und Monate das deutsche Volk und auch das Ausland und die europäischen Märkte in dieser Unsicherheit zu lassen – das mag vielleicht spannend sein, das mag der eine oder andere interessant finden, aber das hilft doch nicht und entspricht auch nicht unserem europäischen Gedanken.

    Heinemann: Aber Frau Lieberknecht, wir haben doch gerade eben Wolfgang Schäuble gehört. Wir haben genau gehört, wie der Bundesfinanzminister, ich sage es jetzt mal, herumgeeiert ist! Genau das trägt doch zu dieser Verunsicherung bei. Er müsste sagen, den Hebel gibt es nicht, es gibt keine größere Haftung und so weiter. Er müsste das klar aussprechen. Was tut er? Er sagt, na ja, vielleicht so ein bisschen. Die Süddeutsche Zeitung überschreibt einen Artikel heute mit "Schäubles Kriegslist".

    Lieberknecht: Also dass es immer noch theoretische Debatten und Eventualitäten gibt, natürlich kann man da von der Sache her nicht Nein sagen. Aber es ist doch die Frage, was tun wir dafür oder dagegen, dass sie zur Anwendung kommen, und am meisten tut man dagegen, dass sie nicht zur Anwendung kommen, indem man selber Klarheit setzt für die Märkte und indem man selber Klarheit setzt auch in dem, was unserem Volk auch eigen ist. Wir haben doch ein solidarisches Volk, die Menschen möchten doch Solidarität üben, die Menschen möchten sich nicht gegen andere Völker hetzen lassen, und ich denke, da haben wir ein hohes Maß an Verantwortung und das möchte ich gerne wahrnehmen.

    Heinemann: Es kann sein, dass Deutschland mindestens 211 Milliarden Euro eines Tages zur Verfügung stellen muss. Viele ehemalige DDR-Bürger hätten gern so gelebt wie viele derjenigen, die von der Schuldenpolitik ihrer Regierung profitiert haben. Wieso sollen ausgerechnet diejenigen, die lange ausgesperrt waren, diese Zeche zahlen müssen?

    Lieberknecht: Gerade aus der Sicht eines Landes, das aus der DDR hervorgegangen ist, und gerade als jemand, der selber Jahrzehnte seines Lebens auf der anderen Seite, hinter Stacheldraht und Mauer, mit Schießbefehl unter der Diktatur verbracht hat, habe ich diese große Solidarleistung Europas erlebt. Wir wären in Thüringen jetzt mit einer Arbeitslosenquote von 8,1 Prozent, mit Landkreisen unter fünf Prozent, fränkische, bayerische Verhältnisse, nicht da, wo wir heute sind, wenn wir nicht diese europäische Solidarität erfahren hätten. Und ich sage Ihnen eins: Unsere französische Partnerregion in der Picardie beispielsweise hat eine wesentlich höhere Arbeitslosenquote. Viele, viele Regionen, denken Sie an die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, sehen Sie, was in London los ist, das alles haben wir in Thüringen nicht, weil wir von der europäischen Solidarität neben der innerdeutschen Solidarität eine Aufbauleistung vonstatten bringen konnten, die uns wirklich in einen Zustand versetzt, gerade jetzt wenige Tage wieder vor dem Gedenktag an die deutsche Einheit, dass Solidarität ein Grundpfeiler ist. Und der spanische Ministerpräsident damals, Felipe Gonzalez, hätte überhaupt keine Veranlassung gehabt, dem deutschen Bundeskanzler zu sagen, euer Volk in freier Selbstbestimmung bei dem europäischen Gipfel damals im Dezember 1989, und er hat es getan. Diese Solidarität möchte ich auch ein Stücken zurückgeben.

    Heinemann: …, wobei Gonzalez, glaube ich, einer der ganz wenigen war, wie Helmut Kohl immer wieder festgestellt hat.

    Lieberknecht: Ja, aber der Entscheidende, der Entscheidende.

    Heinemann: Wir reden ganz kurz noch über was anderes – Entschuldigung! -, nämlich über die politischen Kollateralschäden. Die Mehrheit gestern im Bundestag ist offenbar teuer erkauft worden. Der gestandene CDU-Rechtspolitiker Wolfgang Bosbach, der aus persönlicher Überzeugung mit Nein gestimmt hat, berichtet über eine Besorgnis erregende Verrohung der Sitten im der Unions-Bundestagsfraktion.

    Wolfgang Bosbach: "Vor allen Dingen ging es nachher ins Persönliche und dann ging es gar nicht mehr um Zahlen, Daten, Fakten, um den richtigen Weg, die Staatsschuldenkrise zu lösen. Natürlich brauchst du als Politiker ein dickes Fell, aber das Fell darf nie so dick sein, dass man nicht mehr ohne Rückgrat stehen kann."

    Heinemann: Bosbach erwägt jetzt den Rückzug aus der Politik. Sollte sich Volker Kauder stellvertretend für die Fraktion bei Herrn Bosbach entschuldigen?

    Lieberknecht: Jeder Abgeordnete ist souverän und hat in aller Souveränität auch seine Entscheidungen zu treffen. Ich bin selber über Jahre Fraktionsvorsitzende gewesen, allerdings nur im Thüringer Landtag, der ist ein bisschen kleiner, aber ich hatte damals eine Ein-Stimmen-Mehrheit zu führen, und ich hatte nur einen Punkt: Die Argumente müssen stimmen. Abgeordnete wollen überzeugt werden und müssen überzeugt werden, da gibt es kein Weisungsrecht wie an der Spitze einer Behörde, und diese Überzeugung muss man leisten.

    Heinemann: Frau Lieberknecht, Bosbach ist wohl da von Parteifreunden angepöbelt worden. Noch mal die Frage: Sollte sich der Fraktionsvorsitzende, sollte sich Volker Kauder entschuldigen, stellvertretend für die Fraktion?

    Lieberknecht: Das steht mir nicht an. Im einzelnen weiß ich auch überhaupt nicht ... Ich habe Volker Kauder als einen sehr aufrechten, sehr klar werbenden Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag stets erlebt. Anderes steht mir hier nicht an zu beurteilen.

    Heinemann: Kann es sich die CDU leisten, einen Mann wie Wolfgang Bosbach ziehen zu lassen?

    Lieberknecht: Es ist die souveräne Entscheidung eines jeden Abgeordneten. Natürlich muss man über …

    Heinemann: Es geht um den Umgang, nicht um seine Entscheidung. Es geht um den Umgang mit Wolfgang Bosbach, nicht um die Entscheidung, die er gestern getroffen hat.

    Lieberknecht: Da kann ich nur sagen, das kann ich im Einzelnen nicht beurteilen. Ich bin nicht Zeuge der Gespräche, die da geführt worden sind.

    Heinemann: Christine Lieberknecht (CDU), die Ministerpräsidentin von Thüringen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Lieberknecht: Auf Wiederhören.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.