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"Wir haben es jetzt mit 350.000 Flüchtlingen zu tun"

In Syrien sei eine massive Auswanderungsbewegung im Gange, sagt Antonio Guterres, Hoher Kommissar der UN für Flüchtlinge. Man sei in der Türkei, Jordanien und dem Libanon vorbereitet auf bis zu 700.000 Vertriebene - diese Länder bräuchten aktive Unterstützung.

Das Gespräch führte Dirk-Oliver Heckmann | 18.10.2012
    Dirk-Oliver Heckmann: Sollten mehr als 100.000 syrische Flüchtlinge in der Türkei landen, dann sei die Grenze des Belastbaren erreicht. Das hat die türkische Regierung unter Ministerpräsident Erdogan ein ums andere Mal unterstrichen. Seit einigen Tagen ist klar: Mittlerweile sind es über 100.000, die in der Türkei gestrandet sind. Jetzt bricht auch noch bald der Winter ein. Europaminister Bagis forderte dieser Tage, es werde Zeit, dass Europa endlich handelt, und Deutschland ist nach den Worten von Außenminister Guido Westerwelle (FDP) zwar grundsätzlich bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, Vorrang habe aber die Versorgung vor Ort. In Berlin hält sich in diesen Tagen Antonio Guterres auf, er ist Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge. Mit ihm habe ich gesprochen und ihn zunächst gefragt, wie er die Situation der Flüchtlinge in der Türkei und im Libanon beschreiben würde.

    Antonio Guterres: Wir müssen zunächst anerkennen, dass alle Nachbarländer sehr großzügig waren. Sie haben die Grenzen offen gehalten, sie haben alles unternommen, um den Flüchtlingen zu helfen. Die Türkei hat viele Camps eingerichtet, 100.000 Menschen sind in den Lagern untergebracht plus 70.000 in den Siedlungen. Die türkische Regierung hat große Investitionen zur Unterstützung der Flüchtlinge vorgenommen. Im Libanon dagegen hat die Regierung beschlossen, dass die syrischen Flüchtlinge von den Gemeinden aufgenommen werden sollen. So haben wir jetzt viele Syrer im Bekaa-Tal im Norden des Landes, wie sie von den Familien und den Gemeinden aufgenommen worden sind, zusammen mit der Unterstützung des Flüchtlingskommissars, anderer UNO-Behörden und weiterer Nichtregierungsorganisationen.

    Heckmann: Wie ist die Situation der Flüchtlinge in Syrien selbst?

    Guterres: Wir haben jetzt insgesamt 350.000 Flüchtlinge, ohne jene Menschen, die jenseits der Grenze sind, zu zählen, denn die können sich ja auf ihre eigenen Hilfsnetze stützen. In jedem Fall ist es eine gewaltige Bewegung der Bevölkerung, die im Gange ist. In Syrien selbst brauchen 2,5 Millionen Menschen Hilfe. Es ist also eine sehr dramatische humanitäre Lage, die äußersten Einsatz von der Staatengemeinschaft verlangt, und es wird auch schlimmer und schlimmer, vor allem, weil die Menschen eben keine politische Lösung heraufkommen sehen. So schauen sie oft in die Zukunft hinein und verzweifeln manchmal, weil sie einfach keine Möglichkeit sehen, wie dieses Blutvergießen gestoppt werden kann. Wir arbeiten zusammen, um vor allem den irakischen Flüchtlingen in Syrien zu helfen. Syrien war ja immer sehr großzügig in der Aufnahme und Hilfe für Flüchtlinge. Wie Sie sich vorstellen können, ist die Lage in Syrien mit all diesen Kämpfen sehr angespannt, vor allem in den Städten Aleppo und Damaskus. An diesen Herausforderungen müssen wir arbeiten.

    Heckmann: Müssen wir von einer humanitären Katastrophe sprechen?

    Guterres: Ja. Ich glaube, das ist eine humanitäre Krise. Insbesondere können wir keine humanitäre Lösung erkennen. Die Lösung muss eine politische sein. Aber die Lage ist dadurch erschwert, dass eben eine einfache politische Lösung überhaupt nicht zu erkennen ist.

    Heckmann: Wer ist verantwortlich für diese Situation, das Assad-Regime oder die bewaffnete Opposition in gleichem Maße, oder Terroristen?

    Guterres: Wir wollen jetzt hier nicht den Schwarzen Peter einfach herumschieben. Unser Geschäft ist es, unsere humanitären Werte zu verteidigen, für die wir einstehen. Die zwingen uns zur Überparteilichkeit, zur Neutralität und zur Unabhängigkeit. Wir haben den Menschen, die in Not sind, die leiden, Hilfe zu leisten und sie brauchen internationale Solidarität. Es ist ganz wichtig, dass die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für die Länder und für die Flüchtlinge verstärkt wird, denn die Situation kann sich ja noch erheblich verschlechtern, ehe sie schließlich dann besser wird. Wir haben es jetzt mit 350.000 Flüchtlingen zu tun. Wir sind aber bereit, 700.000 Flüchtlinge zu unterstützen bis zum Ende dieses Jahres, und wir wissen ja auch nicht, ob die Situation nicht noch katastrophaler wird, als sie schon ist.

    Heckmann: Human Rights Watch sagt, die syrische Armee setze Streubomben ein. Welche Informationen haben Sie darüber?

    Guterres: Wir haben dazu keine verlässlichen Informationen, was innerhalb Syriens vorgeht, zumal wir uns ja, wie ich erwähnt habe, in Syrien selbst auf die Hilfe für die irakischen Flüchtlinge konzentrieren. Eines ist klar: Das Niveau der Gewalt, das sich dort abspielt, innerhalb des Landes, ist derart, dass die Zahl der Vertriebenen und die Zahl der Fliehenden wirklich massiv angeschwollen ist. Es ist tatsächlich eine massive Flüchtlingsbewegung im Gange.

    Heckmann: Herr Guterres, was muss geschehen, um die Situation zu verbessern? Was halten Sie von der Forderung, Flugverbotszonen oder humanitäre Korridore einzurichten?

    Guterres: Wir beteiligen uns nicht an diesen Überlegungen. Was wir sehen ist, dass der Sicherheitsrat gelähmt ist. Deswegen kann ich keine leichte Umsetzung derartiger Überlegungen erkennen in der nächsten Zukunft. Für uns steht im Vordergrund unsere Bemühungen zur Verbesserung der Lage der Flüchtlinge außerhalb des Landes in Zusammenarbeit mit anderen Behörden der UNO, mit dem Roten Kreuz, mit der Familie des Roten Halbmonds und mit allen anderen Akteuren, um die Lage in Syrien zu entspannen, und zwar sowohl in Gegenden, die unter der Obhut der Regierung stehen, wie auch in solchen, die von den verschiedenen Oppositionsbewegungen kontrolliert werden.

    Heckmann: Die türkische Regierung, Herr Guterres, hat die Europäische Union aufgefordert zu handeln. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle sagt, Deutschland sei bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, aber die meisten Flüchtlinge sollen dort in der Region versorgt werden. Denken Sie, dass die Europäische Union und Deutschland ihrer Verantwortung gerecht werden?

    Guterres: Jetzt, wo die Krise noch am entstehen ist, ist es zu früh, von einem größeren Umsiedlungsprogramm zu sprechen, wie wir das früher gemacht haben in Ländern der entwickelten Welt, Europa, USA, Kanada, Australien. So geschah es ja auch mit den irakischen Flüchtlingen. Das ist jetzt noch zu früh. Wir versuchen allerdings, bereits jetzt den am stärksten gefährdeten Menschen zu helfen, also etwa den Folteropfern. Wir versuchen, Familienzusammenführung nach Möglichkeit zu bewirken. Und wir bereiten uns auf eine Zukunft vor, wo eine sinnvolle Umsiedlung und Neuansiedlung der Menschen möglich ist, falls eine politische Lösung nicht gefunden wird.

    Heckmann: Die Frage ist ja, ob die Türkei mit der Situation klar kommt, oder ob die Europäische Union nicht die Tore öffnen muss.

    Guterres: Was jetzt vor allem gefordert ist, ist aktive Solidarität für die Türkei, für Jordanien und Libanon. Diese Länder brauchen jede Hilfe, um mit der Herausforderung fertig zu werden. Wie gesagt, ein massives Resettlement-Programm ist im Augenblick nicht angezeigt, zumal ja viele Menschen dann wieder zurückkehren wollen, sobald die Lage sich verbessert hat. Aber es ist durchaus denkbar, dass die Lage sich noch weiter in die falsche Richtung entwickelt. Dann müsste man über ein Evakuierungsprogramm, über ein massives Umsiedlungsprogramm nachdenken. Im Augenblick brauchen Türkei, Jordanien, Libanon und Irak jede Unterstützung der Europäer im Bereich Entwicklungszusammenarbeit, in finanzieller und politischer Zusammenarbeit. Wie Sie sich vorstellen können, ist die Auswirkung dieser massiven Flüchtlingsbewegungen in diesen Ländern im Bereich Wirtschaft, Gesellschaft und in der Sicherheit ganz erheblich.

    Heckmann: Wie optimistisch sind Sie, dass der Konflikt sich in den nächsten Monaten beruhigt?

    Guterres: Ich bin ja immer gerne optimistisch. Leider sehen wir nicht allzu viele Zeichen einer gangbaren politischen Lösung. Wir sind also auf ein Fortbestehen des Konflikts, auf eine Eskalation wie in der jüngsten Vergangenheit eingestellt. Wir haben Notfallpläne ausgearbeitet, zusammen mit den Partnern und in enger Abstimmung mit der Regierung. Wie bereits gesagt: wir brauchen eine Perspektive, denn im Moment sieht alles danach aus, als würde sich die Situation noch deutlich verschlechtern, ehe sie schließlich besser wird.

    Heckmann: Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, war das hier im Deutschlandfunk.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.