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"Wir haben Raketen geangelt" von Karen Köhler
Unvergessliche Heldinnen

Seit Erscheinen ihres ersten Erzählbandes "Wir haben Raketen geangelt" ist die bis dahin in der Literaturszene unbekannte Hamburger Autorin Karen Köhler in aller Munde. Der Beitrag "Il Comandante" war sogar für den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb ausgewählt.

Von Holger Heimann | 28.01.2015
    "Seitdem das mit dem Denken wieder angefangen hat, mache ich Striche. Für jeden Gedanken an Julian einen", offenbart eine junge, nicht ganz nüchterne Frau in der Erzählung "Starcode Red". Eine Seite aus ihrem Notizheft findet sich gleich darauf im Buch abgebildet, gefüllt mit einem unübersichtlichen Wirrwarr von winzigen Strichen. Die von ihrem Freund wegen einer anderen verlassene Ich-Erzählerin hat sich auf ein Kreuzfahrtschiff geflüchtet, wo sie sich zum Amüsement der Gäste in irrwitzige Kostüme zwängen muss und gemeinsam mit anderen Crew-Mitgliedern alberne Aufführungen auf die Bühne bringt. Ihr Vertrag geht über ein halbes Jahr, drei Monate ist sie schon unterwegs. Sie haben die Karibik durchquert, die Transatlantikpassage hinter sich gebracht und im Mittelmeer gekreuzt. Jetzt fährt das Schiff die norwegische Küste entlang zu den Lofoten. Besser geworden ist es nicht. Den Schmerz und den Umgang damit umkreist die 40jährige Debütantin Karen Köhler immer wieder aufs Neue in ihren Erzählungen. Es ist das, was sie zum Schreiben drängt:
    "Ich finde, Liebeskummer oder Verlassensein oder Nicht-zurück-geliebt-Werden sind mit die quälendsten Gefühle, die man haben kann. Man kann leiden wie ein Hund. Man verliert auch Würde in solchen Momenten. Und das sind dann wieder Punkte, die interessieren mich. Weil wir es alle kennen. Ich habe das Gefühl, dass das Leben bei jedem Narben hinterlässt oder Schmerzpunkte. Wir sind alle der eigenen Endlichkeit unterworfen, der Liebe, der Möglichkeit einer Krankheit und des Verlustes eines Partners."
    Mittelmaß ist den Figuren in Karen Köhlers Erzählungen fremd
    So wie die in ihre Trauer versunkene Flüchtende auf dem Schiff zeigt Karen Köhler in ihrem beeindruckenden Debüt "Wir haben Raketen geangelt" immer wieder junge Frauen in existenziellen Krisen. Auch sie wurden verlassen und kommen über das Ende der Liebe nicht hinweg. Um ihrem Schwarm weiter nah zu sein, durchstöbert ein Mädchen den Müll des Angehimmelten, der sie längst vergessen hat, und heftet Joghurtdeckel und die Verpackung von Marzipanbrot in Ordnern ab. Noch Jahre später hat die mittlerweile erwachsene Frau die Abfälle in ihrem Keller archiviert. In einer Opferrolle, der Position von unfreien Schwachen sieht Karen Köhler ihre Heldinnen dennoch nicht:
    "Vielleicht wehre ich mich auch ein bisschen dagegen, in so eine Ecke gedrängt zu werden: Ich schreibe über weiche, verwundbare Frauen, die sich von Männern abhängig machen. Weil ich nicht finde, dass sie sich von Männern abhängig machen, sondern von ihren Gefühlen, von der Liebe oder von dem Freiheitsdrang oder auch unfähig sind, Liebe zu überwinden. Es ist ja auch schön, Gefühlen nachzugeben und seine Klauen in das Leben zu hauen und zu sagen: Ich will das alles. Dafür ist man ja auch jung, dass man all das lebt und ausprobiert. Und dann gibt es eine Phase, wo man vielleicht anfängt, immer ruhiger zu werden. Vielleicht ist das Alter auch ein zu sich hin still werden."
    Köhler erzählt auch davon, wie ihre weiblichen Protagonisten endlich über den Verlust hinwegkommen, an einer Liebe nicht länger verzweifelt festhalten wollen. Doch es gelingt nicht immer. Durch den plötzlichen Unfalltod des Partners aus der Bahn geworfen, zieht sich die zurückgebliebene und allmählich aus dem Schockzustand erwachende Ich-Erzählerin in "Wild ist scheu" auf einen abgelegenen Hochsitz zurück, um sich zu Tode zu hungern. In einem Tagebuch hält sie ihr allmähliches Verschwinden fest: "Ich weiß nicht, wie lange es insgesamt dauern wird. Dreißig Tage vielleicht, je nachdem." Es dauert 27 Tage. Der letzte Eintrag besteht nur aus vier Worten: "Schnee. Der erste Schnee."
    Laues Mittelmaß ist den vom Leben gezeichneten Figuren in Karen Köhlers Erzählungen fremd. Es sind allesamt Empfindsame, die sich nicht mit harter, kalter Routiniertheit gepanzert haben. Das Leben fügt ihnen daher immer wieder tiefe Wunden zu. Karen Köhler zeigt diese Frauen, allesamt zwischen 30 und 40 Jahre alt, wie sie versuchen, mit den Zumutungen und Verletzungen zurande zu kommen, wie sie zuweilen aufgeben, aber häufiger noch verzweifelt ringen, um nicht unterzugehen. Es wäre ein großes Missverständnis, den so Gebeutelten und Gezeichneten Schwäche zu attestieren, weil sie den Kampf nicht immer gewinnen. Denn zuweilen ist der Gegner schlicht übermächtig.
    Fünf Monate bleiben einer Frau vermutlich noch, die an einem unheilbaren Hirntumor leidet. Das ganze Therapieprogramm hat sie schon hinter sich. Nun sitzt sie mit dem Vater in einem Restaurant beim Essen. Sie ringt – mit den Tränen, mit der Krankheit, der Aussichtslosigkeit und der stumpfen Ignoranz des Vaters, der die Tochter schließlich anraunzt: "Wie du schon da sitzt. Du hast doch schöne Brüste. Streck sie doch mal raus. Zeig doch mal, wer du bist. Diesen Krebs, den machst du sonst nicht fertig."
    Die Erzählungen rutschen nie ab ins steril Schablonenhafte
    Ein Muster lässt sich aus dem stockenden, verunglückten Tischgespräch jedoch nicht ableiten, wenngleich der gänzlich überforderte Vater nicht der einzige Mann ist, der sich als unfähig zu offener Anteilnahme zeigt und stattdessen einem Fluchtreflex gehorcht. Karen Köhler ist nicht in nahe liegende Klischee-Fallen getappt und hat ihren sensiblen Frauen keineswegs durchgehend grobschlächtige Partner gegenübergestellt. Durchaus aber hat sie sehr genau und zugleich mit viel Wohlwollen auf unser heutiges Beziehungsleben geschaut:
    "Man muss die Dinge zeigen, wie sie sind und vielleicht auch überdrehen an einem bestimmten Punkt. Ich schreibe mit einer Liebe für den Menschen. Ich habe eine dem Menschen zugewandte Lebenseinstellung. Wir versuchen ja alle unser Bestes. Wir versuchen alle, mit dem klarzukommen, was uns umgibt. Ich hatte mal einen ganz schönen Moment, als ich in New York in der U-Bahn saß. Da versammelt sich natürlich ganz viel Welt in dieser Stadt und diese Stadt nimmt alles auf, was fremd ist. Ich saß in dieser U-Bahn und habe die Menschen angeguckt und habe so gedacht, ich liebe euch alle. Also, so ganz bekloppt. Aber dieses, ich finde euch alle interessant, und ich möchte euch allen sagen, dass ihr es gut macht."
    In einem der besten Stücke des Bandes, "Il Comandante", droht eine an Krebs erkrankte 33-jährige Frau allen Lebensmut zu verlieren. Mit künstlichem Darmausgang und Glatze liegt sie im Krankenhausbett und versinkt immer tiefer in Selbstmitleid und Verzweiflung. Am liebsten will sie aus ihrem Dasein verschwinden. Das ändert sich, als sie einem siebzigjährigen Mitpatienten begegnet. Der Mann, gebürtiger Kubaner, passt mit seinem Rauschevollbart, Goldringen an den Fingern und Designer-Sonnenbrille so ganz und gar nicht zu dem tristen Klinikalltag, in dem Menschen zu bloßen Fällen degradiert werden. Mit seiner beständig guten Laune und einer naturwüchsigen Vitalität triumphiert der selbst todkranke, an einen Rollstuhl gefesselte Mann über die Bedrückung, die sich wie ein Schleier über alles zu legen scheint. Und nicht nur das: Er reißt die junge Frau aus ihrer trübsinnigen Lethargie.
    Das mag allzu simpel und vorhersehbar scheinen. Aber Karen Köhlers Erzählungen rutschen nie ab ins steril Schablonenhafte. Alles Weinerliche, Sentimentale ist ihnen ebenso fremd wie überhöhendes Pathos. Diesem Erzählen eignet vielmehr eine ganz eigene, robuste, zupackende Kraft. Die Autorin selbst kennzeichnet ihre Arbeitshaltung so:
    "Mich interessiert dieses Nadelöhr, ganz nah zu sein bei meinen Figuren. Ich muss meine Figuren lieben als Autorin und Mitgefühl zeigen, mein Mitgefühl so weit entwickeln, dass ich meine, jede Bewegung nachvollziehen zu können von so einer Figur."
    Die temperamentvolle Hamburgerin hat erst spät mit dem literarischen Schreiben begonnen. Die erste, titelgebende Erzählung ihres Debüts, "Wir haben Raketen geangelt", entstand 2011. Zuvor ist sie mit Fallschirmen von Klippen, Brücken oder Sendemasten gesprungen und hat Sanskrit studiert. Vor allem aber war sie lange Zeit als Schauspielerin an verschiedenen Theatern engagiert. Heute ist sie froh, nicht mehr auf der Bühne zu stehen und mit dem Schreiben eine andere, ihr angemessenere Ausdrucksform gefunden zu haben. Zugleich aber misstraut die Autodidaktin dem für sie noch immer unfassbaren Erfolg, den überschwänglichen Reaktionen auf ihren Erzählband.
    "Ich habe permanente Mimikry-Angst, dass alles nur Tarnung ist und irgendwann kommt raus, dass ich gar nichts kann. Ich bin ja ein vollkommen unbeschriebenes Blatt gewesen in dieser Literaturszene. So wie es jetzt aufgenommen wird, das ist für mich eher so, dass ich das Gefühl habe, kann mich mal jemand kneifen. Es scheint irgendwas da zu sein, was die Leute interessiert."
    Womöglich rührt die besondere Anziehungskraft dieser Erzählungen vor allem daher, dass Karen Köhler ihren Protagonistinnen viel, manchmal alles zumutet, ihnen aber zugleich bedingungslos beisteht. Die feinnervige Verbindung von Empfindsamkeit und Behauptungswillen jedenfalls macht ihre Frauenfiguren zu unvergesslichen Heldinnen.
    Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt. Erzählungen. Hanser Verlag, München.