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"Wir müssen das Wahlrecht ändern"

Der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof hat von den Parteien verlangt, vor der Bundestagswahl verbindlich zu sagen, mit wem man koalieren wolle. Dazu müsse lediglich das Bundeswahlgesetz mit einfacher Mehrheit geändert werden.

Paul Kirchhof im Gespräch mit Jürgen Liminski | 27.08.2009
    Jürgen Liminski: Nicht wenige staatspolitische Denker der Neuzeit sahen die Freiheit auch von innen gefährdet. Alexis de Tocqueville zum Beispiel hielt die Nivellierung der Politik, die Mittelmäßigkeit für eine der größten Gefahren. Sie bereite den Weg für ein Mitläufertum. Dagegen Platon: Das extreme Trachten nach dem Guten in der Demokratie zerstöre die Demokratie, meinte der Grieche, und dazwischen wird man einen Weg finden müssen. Ist dem Geist der Deutschen ein inhaltloser Wahlkampf zuzumuten? Wird dadurch die Wahlfreiheit eingeschränkt? Wie steht es überhaupt mit der Freiheit am Ende der Krise? – Zu diesen und anderen Fragen begrüße ich nun am Telefon Professor Paul Kirchhof, ehemals Verfassungsrichter, Autor zahlreicher Bücher. Das neueste, gerade erschienen, heißt "Das Maß der Gerechtigkeit. Bringt unser Land wieder ins Gleichgewicht". – Guten Morgen, Herr Kirchhof.

    Paul Kirchhof: Schönen guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Herr Kirchhof, Sie sind spätestens seit dem Wahlkampf 2005 bekannt, auch wegen einer Äußerung des damaligen Bundeskanzlers, die wir Ihnen gern mal zur Erinnerung vorspielen wollen.

    Gerhard Schröder: "Dieser Professor aus Heidelberg!"

    Liminski: So weit Ex-Kanzler Schröder. - Der Wahlkampf vor vier Jahren war inhaltsreich, der jetzige besticht bis jetzt durch seine Inhaltslosigkeit. Fehlen uns die Kirchhofs, die Professoren aus Heidelberg, Herr Kirchhof?

    Kirchhof: Jede Demokratie lebt von der klaren Alternative, der personellen und der programmatischen. Der Wähler muss wissen, was er entscheidet, wenn er sein Kreuzchen in der Wahlkabine macht. Deswegen wäre es gut, wenn wir einen inhaltlich konturierten Wahlkampf haben. Dass wir einen rücksichtsvollen Wahlkampf haben, also die Akteure sich gegenseitig nicht herabwürdigen, ist sicherlich ein großer Vorzug. Die Politik handelt jetzt wie die Wirtschaft, wo es ein Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb gibt. Das kann der Politik nur nützen, es kommt allen zugute.

    Liminski: In der Krise hat der Staat zugepackt und regiert in manche Bereiche hinein, die vorher den Tarifpartnern oder dem Markt überlassen waren. Die Krise nähert sich dem Ende. Die Freiheit auch?

    Kirchhof: Die staatlichen Interventionen, die sich ja in bedrohlicher Weise häufen, müssen ein Übergangsproblem bleiben, damit wir wieder normale Zustände, eine gewisse Distanz zwischen Staat und Wirtschaft haben. Aber die größere Gefahr ist die Anonymisierung der Wirtschaft. Wenn die Bürger ihr Geld in Fonds anlegen und sie wissen damit gar nicht, was sie tun, sie wissen nicht, ob sie ihr Geld verdienen durch die Produktion von Waffen oder Weizen, dann geht im Grunde die Idee der Berufsfreiheit, der Eigentümerfreiheit verloren. Ich sehe also nicht so sehr die Gefahr einer Sozialisierung, sondern die Gefahr einer Anonymisierung, wo keiner der wirtschaftlichen Akteure mehr für das steht, was er tut, wo es kaum noch eine Haftung, eine Verantwortlichkeit gibt.

    Liminski: Ihr neuestes Buch heißt "Das Maß der Gerechtigkeit. Bringt unser Land wieder ins Gleichgewicht". Ist das nun ein Appell an die Politik oder an die Bürger, um diese Anonymität aufzubrechen?

    Kirchhof: Es ist beides. Es ist ein Appell etwa an die Wirtschaft, wieder in die Verantwortung zu gehen. Es ist aber vor allem auch ein Appell an den Gesetzgeber, der uns gegenwärtig mit einer Flut von Normen überschwemmt. Auch im Recht gilt, dass die Inflation den Wert des Gutes mindert. Wenn der Bundestag in einem Jahr mehr als 100 Gesetze behandelt, dann ist das im Grunde nicht mehr zu leisten. Der Gesetzgeber weiß nicht, was er tut, und der Gesetzesadressat weiß nicht, was er tun soll. Es ist ein nachhaltiger Appell an den Gesetzgeber, an die Politik, sich zurückzunehmen, damit den Raum der Freiheit für den Bürger wieder wesentlich zu erweitern.

    Liminski: In der Krise, Herr Kirchhof, ging das Wort von der "Systemrelevanz" um. Aber ist nicht das System selber reformbedürftig?

    Kirchhof: Das System ist reformbedürftig. Der freie Mensch wird immer mehr zum staatlich gesteuerten Menschen. Der Staat gibt dem Bürger nicht nur gutes Recht, sondern er gibt ihm gutes Geld, macht das aber von Auflagen und Bedingungen abhängig. Etwa durch Steueranreize lenkt er den Bürger zur Investition in den Schiffsbau, in die Solarindustrie. Fast alle Banken-, Versicherungs- und Fondsgeschäfte sind Steuergeschäfte. Das heißt, der Staat veranlasst mit dem Steueranreiz oder mit Subventionen den Bürger, etwas zu tun, was er aus eigener ökonomischer Vernunft nicht täte. Dadurch ereignet sich ein sanfter, fast unmerklicher Verlust der Freiheit.

    Liminski: Der freiheitliche Markt hat versagt, kann man ja sagen, und wenn man die neue Diskussion über die Boni für Bänker beobachtet, die offenbar notwendig gewordene deutsch-französische Initiative gegen das Boni-Unwesen, dann muss man sagen, er versagt noch immer. Kann, muss da nicht mit der Steuerschraube hantiert werden?

    Kirchhof: Wir müssen dagegensteuern, vielleicht nicht mit der Steuer, sondern mit der Verteilung des Gewinns, der in Unternehmen erwirtschaftet worden ist. Wir werden wieder andere Strukturen brauchen der Entscheidung derer, die bestimmen, wer welchen Gewinn bekommt. Wenn jemand für schlechte Leistung einen Bonus bekommt, ist das absurd. Dann widerlegt sich dieses System selbst.

    Liminski: Die Große Koalition hat vor vier Jahren kaum einer gewollt, sie erschien mathematisch als Notwendigkeit, um zu stabilen Mehrheitsverhältnissen zu kommen. Auch diesmal ist das Ergebnis der Wahl offen und damit auch die späteren Koalitionsmöglichkeiten. Brauchen wir auch eine Reform des Wahlrechts?

    Kirchhof: Wir brauchen unbedingt eine Reform des Wahlrechts. Im Grundgesetz steht, dass die Wahl unmittelbar ist. Das heißt, dass der Wähler allein durch seine Entscheidung bestimmt, wer die Parlamentsmehrheit bildet, damit die Regierung, damit den Kanzler stellt. Praktisch läuft das bei uns so: Der Wähler hat entschieden, dann hat er bestimmte Parteien ermächtigt zu verhandeln, die Verhandler am Wahlabend erklären sie nach allen Seiten offen, und irgendwann in zwei, drei Wochen wissen wir, wer die Wahl gewonnen hat. Da ist ein Strukturfehler. Das gibt es nicht im Sport, das gibt es nicht im Wirtschaftsleben. Wenn wir etwa mal im Sport uns vorstellen, ein Ruderwettbewerb, ein Zweier ohne Steuermann, da ist das eine Boot schwarzgelb angestrichen, das Zweite Boot rotgrün, fünf weitere sind im Rennen, und jetzt gewinnt das Boot Nr. 1 ganz knapp, die jubeln schon, sie haben die Goldmedaille gewonnen, und jetzt erklärt der Leiter dieses Wettkampfes, gewonnen haben der erste Ruderer aus Boot 1 und der erste Ruderer aus Boot 2, dann sagen die Menschen, das kann doch gar nicht wahr sein, die waren doch als Mannschaft überhaupt nicht im Wettbewerb. Wir müssen das Wahlrecht ändern, indem wir die Parteien verpflichten, dem Wähler vor der Wahl verbindlich zu sagen, wie man koalieren will, A mit B, C mit D, E bleibt eine Oppositionspartei. Dann entscheidet der Wähler. Dann sagen wir, A und B gewinnen knapp mit 45 Prozent, gefolgt von C und D mit 44 Prozent. Dann haben A und B gewonnen, sie dürfen die Regierung stellen, sie bekommen im Parlament 50 Prozent plus fünf der Sitze, haben also eine Mehrheit zum Regieren.

    Liminski: Das wäre eine Mischform des Mehrheitswahlrechts. Ein deutscher Weg, um gewünschte Stabilität zu erlangen, oder um Weimar zu vermeiden. Das ist ja immer ein Petitum in der Politik. Gibt es dafür eine Mehrheit? Muss dafür die Verfassung nicht geändert werden?

    Kirchhof: Wir brauchten nicht die Verfassung zu ändern, sondern wir müssten das Bundeswahlgesetz ändern. Es ist im Grunde die Erfüllung eines Verfassungsauftrages der Unmittelbarkeit der Wahl. Es würde natürlich das Stimmgewicht unterschiedlich sein, aber nicht mehr, als wir es gegenwärtig mit der Fünfprozentklausel haben. Es ginge durch Änderung des Wahlgesetzes mit einfacher Mehrheit.

    Liminski: Eine Frage an den Professor aus Heidelberg. Nach den Umfragen scheint ein Wahlkampf ohne Inhalte erfolgreicher zu sein als ein Wahlkampf mit Argumenten. Sind wir ein Volk der Mittelmäßigkeit, ohne Ideen, auch Ideale, satt und fett, allenfalls sportlich noch fit, ansonsten aber nur auf aus Konsum?

    Kirchhof: Nach meiner bescheidenen Erfahrung in einem vierwöchigen vermeintlichen Ausflug in die Politik 2005 sage ich das Gegenteil. Ich habe nur Wähler erlebt in meinen vielen Gesprächen und Veranstaltungen, die sehr aufgeschlossen sind, sehr neugierig auch für kritische Fragen - Steuerrecht ist kein wahlkampfpatentes Thema -, immer sachlich, immer fraglich, immer in die Tiefe dringend. Ich meine, die Politik unterschätzt den Wähler.

    Liminski: Mehr Freiheit ist möglich und nötig für einen Wahlkampf mit mehr Inhalten. Das war Professor Paul Kirchhof, Steuerexperte, Buchautor, Gelehrter aus Heidelberg. Besten Dank für das Gespräch, Herr Kirchhof.