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"Wir müssen diesen Filter Eltern abschalten"

Es gebe sehr viele Eltern, die kein Interesse daran hätten, sich um ihre Kinder zu kümmern, berichtet Wolfgang Büscher, Sprecher des Vereins "Arche" in Berlin. Über finanzielle Hilfe für Kinder müsse daher in Schulen und Kindergärten entschieden werden.

Wolfgang Büscher im Gespräch mit Jasper Barenberg | 27.03.2012
    Jasper Barenberg: Kein gutes Haar lassen Deutscher Gewerkschaftsbund und Sozialverbände an dem Bildungspaket für arme Kinder, das Arbeitsministerin Ursula von der Leyen vor einem Jahr auf den Weg gebracht hat. Von einem schlechten Kosten-Nutzen-Verhältnis spricht der DGB und verweist darauf, dass 20 Prozent der Mittel in die Verwaltung fließen. Von einem Totalreinfall spricht gar der Paritätische Wohlfahrtsverband und von einem Bürokratiemonster. "Die Arche" ist ein Verein in Berlin, der sich zum Ziel gesetzt hat, obdachlose Kinder von der Straße zu holen und sozial verwahrlosten Kindern und Jugendlichen, die in zerrütteten Familienverhältnissen leben, eine neue Chance zu bieten. Wolfgang Büscher ist Sprecher des Vereins, er ist uns jetzt aus Berlin zugeschaltet. Schönen guten Tag, Herr Büscher.

    Wolfgang Büscher: Guten Tag, Herr Barenberg.

    Barenberg: Herr Büscher, Sie haben gerade zugehört und auch erfahren, was es alles an Kritik gibt an diesem Bildungspaket, das aus dem Hause der Bundesarbeitsministerin stammt. Ist das für Sie eine Überraschung?

    Büscher: Nein, das ist überhaupt keine Überraschung. Wir betreuen ja rund 2500 Kinder in 15 Archen in Deutschland, wir machen diese Erfahrung. Zum einen ist es sehr kompliziert, einen solchen Vertrag, einen solchen Antrag auszufüllen. Für uns machen das Sozialpädagogen, die ja eigentlich sehr teuer sind und die ihre Zeit mit den Kindern und Jugendlichen verbringen sollen. Die sitzen in etwa eine Stunde, um einer Mutter, einem Vater zu helfen. Das kann nicht sein, das darf nicht sein. Manchmal haben wir das Gefühl, dass dieses Bildungspaket letztendlich nur für die Verwaltung gemacht worden ist.

    Barenberg: Nun ist es so, dass es Regeln geben muss, wenn es eine Leistung geben soll, die jemand in Anspruch nehmen muss. Ist das nicht immer Teil des Problems, dass natürlich auch ein gewisser Verwaltungsaufwand da unerlässlich ist?

    Büscher: Ja, im kleineren Bereich sollte das durchaus möglich sein. Aber wir wollen doch die Kinder erreichen, die es nötig haben, die diese Hilfe brauchen, auch damit unser Land später letztendlich starke Persönlichkeiten hat. Was wir einfach tun müssen ist: Wir müssen dorthin gehen, wo die Kinder sind. Wir dürfen den Filter Eltern nicht dazwischenschalten. Das heißt, wenn eine Mutter aus was für Gründen auch immer, ein Vater kein Interesse hat, dass ein Kind an einer Klassenfahrt teilnimmt, dass ein Kind ein gesundes Mittagessen hat, dass ein Kind Nachhilfematerialien bekommt, dann ist dieses Kind verloren. Und wir müssen dorthin gehen, wo die Kinder sind, wir müssen an Kindergärten gehen, in die Kitas gehen, in die Schulen gehen. Dort sind die Kinder und da muss eine Lehrerin entscheiden können: Hier habe ich ein Kind, das hat kein Geld, das will aber unbedingt mit und sollte auch zur Klassenfahrt, und dieses Geld kann ich dann vollkommen unbürokratisch aus einem Topf nehmen und rechne das im Nachhinein ab. So muss es eigentlich sein.

    Barenberg: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, die Themen, die angesprochen werden in diesen Bildungsangeboten, sind schon die richtigen: Sportvereine, Nachhilfe, Klassenfahrten, Schulstarterprogramm? Es ist schon das richtige dort erwähnt, es ist nur die Umsetzung, die völlig missraten ist aus Ihrer Sicht?

    Büscher: Ja, die Umsetzung ist falsch. Wir haben einfach sehr viele Eltern, und ich schätze mal, dass es schon in etwa viele Hunderttausend sind, die einfach kein Interesse haben, sich um ihre Kinder zu kümmern. Das ist leider so, wir können das nicht verhindern. Manchmal können die Eltern es nicht besser, weil sie es nicht gelernt haben, und manchmal wollen sie auch nicht. Diese Erfahrungen machen wir. Eine Mutter sagte mir kürzlich in einer Arche: Du, Wolfgang, ich stelle mich doch nicht sechs, sieben Stunden in eine lange Schlange, nur um für meine Tochter fünf Euro zu beantragen. Dann bleibt sie eben zu Hause und macht die Klassenfahrt nicht mit. Das ist eigentlich sehr traurig und diese Kinder müssen wir erreichen. Wir müssen diesen Filter Eltern abschalten. Wir müssen dorthin gehen, wo die Kinder sind, Lehrer und Erzieher in den Kindergärten können am besten helfen. In der Tat ist es schon richtig, dass wir bei dieser Hilfe über Sachleistungen gehen. Ich glaube, eine Hartz-IV-Erhöhung von fünf Euro im Monat ist zwar für den Staat sehr teuer, bringt aber einer Familie wenig. Eine Familie wird auch nicht mit 380 Euro im Monat auskommen. Wir brauchen starke Kinder, die später Jobs haben, die gute Kunden sind, letztendlich auch Geld haben, um einzukaufen. Wir müssen unsere Kinder stark machen, zu starken Persönlichkeiten entwickeln, und das geht nur, wenn wir ihnen helfen, unabhängig von den Eltern.

    Barenberg: Und das würden Sie wie organisieren, wenn nicht durch dieses Bürokratiemonster, mit dem wir es jetzt offenbar zu tun haben?

    Büscher: Ja, es ist doch verhältnismäßig einfach, wenn man sagt: Wir haben so und so viel Geld zur Verfügung, die Kommunen haben so und so viel Geld zur Verfügung. Natürlich freut sich eine Kommune, wenn das Geld nicht in Anspruch genommen wird, in manchen Städten ist es unter zehn Prozent, und sie freuen sich über einen Riesenreibach. Die Kommunen müssen sagen: Wir haben in einer Kleinstadt zum Beispiel 20 Kindergärten, wir haben zehn Schulen, da wird das Geld hin aufgeteilt. Und dann können Lehrer doch ganz unbürokratisch, wirklich Auge in Auge entscheiden, auch die Kinder nicht stigmatisieren, indem ein Kind hinkommt und sagt, meine Mutter hat das Geld nicht für eine Klassenfahrt, und dann kann die Lehrerin sagen, hier sind 20 Euro, du kannst mitfahren. Das braucht nicht unbedingt vor der Klasse zu sein, das kann man wirklich Auge in Auge machen. Das ist eigentlich die beste Hilfe, die Hilfe am Kind, unmittelbar eben auch dort, wo die Kinder sind, und das ist nun mal an Schulen und in Kindergärten.

    Barenberg: Zum Schluss, Herr Büscher: Das ganze Bildungspaket geht ja zurück auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach bedürftige Kinder stärker unterstützt, stärker gefördert werden müssen. 778 Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung. Ist das jedenfalls ein Betrag, mit dem man was Ordentliches anfangen kann?

    Büscher: Nein, das ist natürlich ein ganz kleiner Tropfen, wenn wir einmal überlegen, wie viel wir in dieses wirtschaftspolitische Rettungspaket hineinstecken. Was wir brauchen in Deutschland ist ein sozialpolitisches Rettungspaket. Wir brauchen vor allen Dingen sehr starke Kinder. In Berlin leben über 40 Prozent aller Kinder von Transferleistungen, sprich von Hartz IV. Und diese Kinder haben einfach kein Geld für Bildung zum Beispiel. Was unsere Kinder brauchen in erster Linie ist Bildung, und hier müssen wir den Kindern helfen, wo die Eltern nicht in der Lage sind zu helfen, aus was für Gründen auch immer. Deutschland, wir als Land brauchen für unsere Zukunft einfach starke Kinder und wir müssen mit allem, was wir haben, unseren Kindern auch helfen. Wir haben nämlich nur diese Kinder.

    Barenberg: Wolfgang Büscher vom Verein "Die Arche" in Berlin. Danke Ihnen für das Gespräch.

    Büscher: Schönen Dank.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.