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"Wir müssen miteinander leben lernen"

"Wir müssen miteinander leben lernen", schrieb der Philosoph Hans-Georg Gadamer, der 2002 im Alter von über 100 Jahren starb. Ein Zitat, das angesichts weltweiter kultureller und religiöser Konflikte aktueller ist denn je. Doch wie kann dieses Miteinanderleben gelingen angesichts trennender Ideologien, Religionen und Überzeugungen? Darauf versucht Hans-Martin Schönherr-Mann, Professor für politische Philosophie an der Universität München, in seiner neuesten Forschungsarbeit eine Antwort zu geben. Im Blick hat er dabei die wichtigsten modernen Philosophen und ihre Antworten auf die Herausforderung eines friedlichen Zusammenlebens.

Von Peter Leusch | 21.02.2008
    "Was Du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem anderen zu." Diese sogenannte Goldene Regel, das moralische Prinzip der Gegenseitigkeit, findet man in der Bibel ebenso wie im Koran, in den Reden Buddhas und auch in den Schriften des Konfuzius. Die Goldene Regel gehört zum Grundbestand aller Weltreligionen, zu einem gemeinsamen moralischen Nenner, den der katholische Theologe Hans Küng in dem von ihm initiierten Projekt "Weltethos" herausgearbeitet hat.

    Nun hat Hans-Martin Schönherr-Mann, Professor für Politische Philosophie an der Münchener Universität, in einer Art Parallelunternehmen die westliche Philosophie befragt, was sie zu einer Ethik im globalen Maßstab beitragen könne.

    "Die meisten Positionen in der Philosophie der Moderne sind davon überzeugt, dass wir keine absolute Begründung, keine Letztbegründung haben, wir sind nicht in der Lage der Religionen zu sagen, gewisse Gebote sind uns von Gott gegeben, sondern wir können Gebote anerkennen als sinnvoll, die wir in unserem Alltag brauchen, wo wir erleben, dass wir sie brauchen, aber wir haben nicht die höheren Weihen - das ist klar, und ich habe eben gefragt, - in der Philosophie des 20. Jahrhunderts speziell - was dort alles präsent ist in dieser Richtung, dass wir doch miteinander gewisse Normen entwickeln."

    Schönherr-Mann wählt einen anderen Weg als Küng. Während bei Küng die Religionen zunächst in ihrem Eigenbestand nachschauen, was gemeinschaftsfähig sei, richtet Schönherr-Mann den Blick direkt hinüber zum Anderen, denkt an ethische Brücken, die man aber nicht fertig findet, sondern erst noch bauen muss.

    Er kocht deshalb auch kein Wertedestillat aus den Philosophien den 20. Jahrhunderts, was angesichts der Heterogenität auch ein ungenießbares Cocktail ergäbe, sondern skizziert Dimensionen einer ethischen Orientierung. Dazu gehört als Erstes das Prinzip des Pluralismus, die unbedingte Anerkennung von Unterschieden auf allen Ebenen. Als Zweites plädiert Schönherr-Mann für das Prinzip Verantwortung und kritisiert die Gesinnungsethik Immanuel Kants.

    "Was rauskam, war letztlich doch der Untertan, der einfach die Normen befolgt und sich über die Folgen keine Gedanken macht; und auf der anderen Seite Politiker, die ihrer Gesinnung folgten und denen die Ziele - sagen wir Lenin - wichtiger waren als das unmittelbare Leben ihrer Bürger und Untertanen.

    Wenn sich herausstellt, dass bestimmte Normen in gewissen Situationen nicht besonders tauglich sind, dann müssen wir wohl oder übel sagen, das Gebot 'Du sollst nicht töten' galt nicht für Stauffenberg, der braucht sich darüber überhaupt keine Gedanken zu machen, wenn er Helfer und Helfershelfer von Hitler noch mitermorden würde, sondern es galt, dass der Tyrann zu beseitigen war, um überhaupt Menschen zu retten vor einem schrecklichen Krieg und der Vernichtung in den Vernichtungslagern, hier sieht man, dass das 20. Jahrhundert mit der Verantwortung ein ganz anderes Prinzip entdeckt hat, das hat es vorher in dieser Form nicht gegeben."

    Moralische Prinzipien bleiben unverzichtbar. Aber es reicht nicht aus, sich im Sinne Immanuel Kants auf das hehre Motiv, die gute Absicht zu berufen - und womöglich zu versteifen, vielmehr gilt es die Folgen des eigenen Tuns beziehungsweise Unterlassens einzubeziehen. Eben das meint Verantwortung, wie sie von Max Weber, Emmanuel Levinas und Hans Jonas reflektiert wurden.

    Zu Kollisionen zwischen verschiedenen Wertvorstellungen und Überzeugungen kommt es ja nicht erst im Kontakt mit anderen Kulturen, sondern schon bei den Streitfragen in unserer eigenen Gesellschaft - beim Thema Schutz des ungeborenen Lebens, in der aktuellen Debatte über die Stammzellenforschung und immer wieder über Abtreibung.

    "Wenn wir vor Problemen stehen, die sich nicht durch Rekurs auf gemeinsame Regeln lösen lassen, eben in der Abtreibungsfrage ist das ziemlich aussichtslos, die einen sagen, das ist Mord, und die anderen sagen: Ich habe ein Lebensrecht und bestimme über den Bauch selber, ich lasse mich da nicht fremdbestimmen, hier sind die Konfrontationen ganz klar und es gibt keine Vermittlung. Die deutsche Lösung war denn auch eine pragmatische, dass man sagt, es ist weiterhin verboten, aber es wird nicht bestraft unter bestimmten Umständen, und so konnte man durch vielfältige Kommunikation in den Parlamenten und zwischen den verschiedenen Gremien zu einem Kompromiss kommen - das alles erfordert ungeheuer viel Miteinander-Reden, und da ist Kommunikation ganz zentral."

    Zur verantwortungsvollen Umgang mit Konflikten gehört prinzipiell Kommunikation. Dass man miteinander reden muss, scheint banal, eine Binsenweisheit - inwiefern soll das ethische Dimension haben? Aber Schönherr-Mann denkt bei Kommunikation nicht bloß an den Austausch von fertigen Meinungen und unverrückbaren Überzeugungen, so wie Diplomaten sich die Papiere ihrer Regierungen überreichen, sondern vielmehr einen lebendigen Vermittlungsprozess, in dem der Wille zur Verständigung über die Ausgangspositionen hinausträgt - wenigstens bis zu pragmatischen Kompromissen, vielleicht sogar hin zu einem Konsens.

    Und mit Konsens ist das vierte große Thema benannt, wobei sich Schönherr-Mann nicht nur auf Jürgen Habermas bezieht, sondern auch auf den amerikanischen Philosophen John Rawls

    "Wir haben verschiedene miteinander konkurrierende Weltbilder, wir können auch sagen, Kulturen, Religionen und so weiter. Und da gibt es zumindest einige, nicht alle, die sind doch wenigstens bereit, miteinander in das Gespräch zu treten, das sind für ihn sogenannte vernünftige Weltbilder, und diese sollten sich miteinander auf einen übergreifenden Konsens einigen lassen, dass wenigstens Grundprinzipien möglich sind, von denen man ausgehen kann, wenn solche Konflikte da sind wie beispielsweise der Karikaturenstreit, dass man beim nächsten Mal nicht ganz so schnell und so hektisch reagiert."

    Die philosophischen Konzepte, die zu einem Konsens führen wollen, sind freilich sehr rationalitätslastig. Ethische Normen hätten letztlich nur dann Bestand, so Jürgen Habermas, wenn ihnen jeder in einem herrschaftsfreien Diskurs zustimmen könne. Das Modell basiert auf dem ungenannten Imperativ: "Bleibe sachlich und argumentiere."

    Aber gerade der Karikaturenstreit führt vor Augen, welch mächtige Rolle Gefühle, Traditionen und nationale Empfindlichkeiten im Konflikt der Kulturen spielen.