Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


"Wir müssen von kommunalfremden Sozialleistungen entlastet werden"

Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, fordert, dass die Kosten der Eingliederungshilfe von den Kommunen zum Bund wechseln. Um den gesetzlichen Anspruch auf einen Kitaplatz bis 2013 zu erfüllen, müssten sich die Kommunen noch "wahnsinnig anstrengen", so Landsberg weiter..

Gerd Landsberg im Gespräch mit Theo Geers | 13.05.2012
    Theo Geers: Herr Landsberg, für die Städte und Gemeinden gab's diese Woche nach langer Zeit mal wieder eine gute Nachricht: Auch die Städte und Gemeinden können mit mehr Einnahmen rechnen, die Steuerschätzung vom Donnerstag spricht von einer halben Milliarde Euro mehr in diesem Jahr, und das Ganze setzt sich dann bis 2016 auch so fort. Das ist doch was nach den letzten Jahren, wo Sie tief in roten Zahlen standen, oder?

    Gerd Landsberg: Das ist sicherlich etwas, wir freuen uns auch drüber. Die Wirtschaft läuft gut, und deswegen sprudeln auch die Steuereinnahmen. Aber, ich sage es deutlich, es ist nicht gut genug. Es ist ja nur eine Prognose bis 2016. Jeder von uns weiß, dass da vieles passieren kann, ich nenne nur Griechenland. Und der kommunale Anteil an diesen 29,4 Milliarden sind 2,8 - das sind 600 Millionen pro Jahr. Und nur etwa der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst kostet uns dieses Jahr schon 2,1 Milliarden mehr, sodass ich sage, es ist schön, aber leider steigen die Ausgaben immer noch schneller als die Steuereinnahmen.

    Geers: Nun waren Sie ja Anfang des Jahres etwas unsicher, ob die Kommunen in diesem Jahr vielleicht eine schwarze Null erreichen würden in ihren Haushalten - über alle Kommunen in Deutschland hinweg. Sieht es da jetzt ein bisschen besser aus, oder bleibt es dann doch wieder in den roten Zahlen?

    Landsberg: Ich bin da sehr skeptisch - einmal wegen des Tarifabschlusses im öffentlichen Dienst, zum anderen wegen der erheblichen zusätzlichen Kosten beim Ausbau der Kindertagesbetreuung. Und es steigen leider nach wie vor die Sozialkosten. Wir haben 6,5 Millionen Menschen, die von uns Leistungen bekommen. Das ist eben nicht deutlich zurückgegangen.

    Geers: Das heißt, dieses Plus bei den Steuereinnahmen in diesem und in den kommenden Jahren, das ändert nichts an der finanziellen Misere, an den finanziellen Grundproblemen der Städte und Gemeinden?

    Landsberg: Ich glaube nicht. Die Städte und Gemeinden sind teilweise strukturell unterfinanziert. Wenn Sie sich mal anschauen: In den letzten15 Jahren gab es nur zwei oder drei Jahre, wo wir überhaupt mal ein Plus gemacht haben. Und das liegt nicht an den Städten, sondern das liegt insbesondere an der Verteilung von Soziallasten.

    Geers: Bleiben wir mal beim Thema strukturelle Unterfinanzierung der Städte und Gemeinden, Herr Landsberg. Derzeit verfügen die Kommunen etwa über rund 80 Milliarden Euro an Steuereinnahmen im Jahr. Wie viel Milliarden bräuchten Sie denn mehr, um über die Runden zu kommen?

    Landsberg: Ich glaube nicht, dass wir es über die Einnahmen lösen. Wir müssen es über die Ausgaben lösen, denn wir finanzieren in großem Umfang Leistungen, auf die wir keinen Einfluss haben. Ich nenne ein Beispiel: die Eingliederungshilfe für Behinderte. Ob ein junger Mensch oder auch ein alter Mensch behindert ist oder nicht, da hat die Stadt überhaupt keinen Einfluss drauf. Der Bund legt das fest und die Kommune muss das finanzieren. Wir haben einen ersten Erfolg erzielt: Die Grundsicherung im Alter, die wird ja bisher von den Kommunen finanziert, das wird der Bund in einigen Schritten übernehmen. Und deswegen glaube ich, die Lösungen sind weniger die Einnahmen als die Ausgaben. Wir müssen von diesen kommunalfremden Sozialleistungen entlastet werden.

    Geers: Bleiben wir mal bei diesen beiden Beispielen. Die Grundsicherung kostet etwa vier Milliarden Euro im Jahr. Das heißt, wenn Sie die nicht mehr bezahlen müssen, weil der Bund die übernimmt, stünden Sie dann schon besser da, und kämen Sie dann in die schwarzen Zahlen?

    Landsberg: Das würde nicht reichen, das ist eine Entlastung, über die wir uns freuen. Wir haben ja lange darum gekämpft. Aber die Eingliederungshilfe, die ich genannt habe, schlägt zurzeit mit 13,9 Milliarden pro Jahr zu Buche in den kommunalen Haushalten. Und deswegen haben wir uns vorgenommen, auch darüber zu sprechen. Es gibt auch durchaus positive Signale aus den großen Parteien, hier der kommunalen Seite entgegen zu kommen.

    Geers: Haben Sie eigentlich den Eindruck, Herr Landsberg, dass es diesen politischen Willen wirklich gibt, die Kommunen aus ihrer Finanzmisere herauszuholen, oder ist es nicht vielmehr so, dass jede andere staatliche Ebene, also die Länder als auch der Bund eher an sich denken, weil kein Landesfinanzminister und auch kein Bundesfinanzminister gerne als Schuldenkönig dastehen möchte, und dann delegiert er das Problem eben nach unten und am Ende stehen dann die Kommunen. Also, gibt es diesen politischen Willen?

    Landsberg: Ich glaube schon, dass es den politischen Willen gibt. Aber in der Vergangenheit hat es ihn nicht gegeben, man hat gnadenlos - sowohl Bund wie auch die Länder - in die Kassen der Kommunen gebucht. Jetzt kommt der Aufschrei, er wird immer deutlicher. Und das hängt auch ein bisschen damit zusammen, dass wesentliche Politikfelder nur mit den Kommunen zu gestalten sind. Ich nenne die Bildungspolitik, ich nenne die Integrationspolitik, ich nenne auch die Energiewende. Plötzlich braucht man die Kommunen. Und deswegen schaut man genauer hin, und deswegen hört man vielleicht auch etwas mehr auf die kommunalen Spitzenverbände. Ich glaube, da ist ein Prozess ausgelöst, die Grundsicherung zeigt das. Aber das ist erst der Anfang. Andererseits muss man anerkennen: Auch der Bund macht trotz toller Konjunktur erhebliche neue Schulden, die Masse der Länder muss sich weiter verschulden.

    Geers: Trotzdem noch mal nachgefragt, Herr Landsberg. Es gab zum Beispiel ein interessantes Urteil in dieser Woche in Nordrhein-Westfalen vom Verfassungsgerichtshof. Der hat das Landesgesetz, mit dem die Kommunen in Nordrhein-Westfalen zur Finanzierung des Solidarpaktes herangezogen werden, für nichtig erklärt. Begründung: Das Land Nordrhein-Westfalen habe zum Ausgleich der Einheitslasten mehr Geld vom Bund bekommen, das aber nicht berücksichtigt bei der Umlage dieser Einheitslasten auf die Kommunen, weshalb man bei den Kommunen zu viel abkassiert habe. Dagegen haben die Kommunen geklagt und haben recht bekommen. Frage an Sie: Muss es eigentlich immer erst so laufen, dass die Kommunen gegen die nächste oder gegen die nächsthöhere staatliche Ebene klagen, damit sie Gehör finden und recht bekommen?

    Landsberg: Es muss nicht immer so laufen, aber wir haben ein Sprichwort dafür: Wenn es Leistungen gibt, die der Bund eigentlich den Kommunen zukommen lassen will, dann läuft das über die Länder. Und die Länder haben - so sagt man umgangssprachlich - da immer sehr klebrige Hände. Und hin und wieder führt das dann eben zu Prozessen. Da ist die kommunale Seite auch viel sehr selbstbewusster geworden, früher ist man nicht so schnell zum Kadi gegangen. Und ich denke, das ist auch richtig so. Es gibt allerdings, muss man fairerweise sagen, auch viele Fälle, wo wir als kommunale Spitzenverbände in Gesprächen mit den Ländern unsere Positionen durchsetzen, ohne dass das zum Gericht geht.

    Geers: Aber zeigt dieser Streit nicht doch, dass die Kommunen mit ihren Miesen, um es salopp zu sagen, im Stich gelassen werden?

    Landsberg: Teilweise werden die Kommunen im Stich gelassen, das ist richtig. Aber ich würde nicht sagen, dass das ein generelles Problem ist, weil natürlich jeder Landes- und auch jeder Bundespolitiker inzwischen weiß: Wahlen gewinnt oder verliert man in den Städten und Gemeinden.

    Geers: "Wahlen" ist ein gutes Stichwort, Herr Landsberg. Blicken wir nach Nordrhein-Westfalen, heute wird gewählt. Und in Nordrhein-Westfalen ist die Finanzlage der Städte und Gemeinden besonders desaströs. Nur mal eine Kennzahl: In ganz Deutschland haben alle Kommunen kurzfristige Kassenkredite in Höhe von 44 Milliarden Euro aufgenommen, ein zweifelhafter Rekord. Die Hälfte von den 44 Milliarden - 22 - entfällt auf Städte in Nordrhein-Westfalen. Nun könnte man natürlich sagen: In Nordrhein-Westfalen gibt es mehr Einwohner und demnach auch mehr Städte. Aber dieser enorme Anteil, der auf Nordrhein-Westfalen entfällt, ist das nicht ein Alarmzeichen erster Güte?

    Landsberg: Das ist zweifellos ein Alarmzeichen. Wir haben gerade bei Nordrhein-Westfalen, bei den Städten im Ruhrgebiet, erhebliche Strukturprobleme. Und das ist ein Teufelskreis. Haben Sie hohe Soziallasten, haben Sie hohe Ausgaben - dann haben Sie aber wenig Geld, zu investieren. Und wir haben eine hohe Arbeitslosenquote. Und da kommt in der Regel eine Stadt nur ganz schwer raus, es sei denn, es gelingt, neue Unternehmen dort hinzubringen und die Arbeitslosenquote nach unten zu fahren. Und das ist gerade in strukturschwachen Gebieten schwierig. Und deswegen glaube ich, dass wir mittelfristig eine Lösung brauchen, um die hoch verschuldeten Kommunen, übrigens nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch im gesamten Bundesgebiet, um denen zu helfen.

    Geers: Bevor wir auf die Lösung zu sprechen kommen, Herr Landsberg: Haben wir lauter kleine Griechenlands an Rhein und Ruhr?

    Landsberg: Also, den Vergleich mit Griechenland würde ich so nicht stehen lassen wollen. Sie wissen, die Kommunen sind Bestandteile der Länder, eine Kommune kann nicht pleitegehen. Ich gebe zu, das hat man bei Griechenland auch gesagt. Aber es gibt Alarmzeichen, dass wir darüber nachdenken müssen, ob wir nicht endlich eine langfristige tragfähige Lösung brauche, um aus diesem Schuldenkreis herauszukommen.

    Geers: Wir haben ja diesen Haftungsverbund schon angesprochen, das heißt, ein Land haftet für ihre Kommunen - ein Bundesland. Könnte es sein, dass die Zeitbombe, die in manchen kommunalen Haushalten tickt und die Schulden, wenn man sie aufaddiert - das sind ja enorme Summen -, könnte es irgendwann einmal für diesen Haftungsverbund gefährlich sein, dass das dann wie Dominosteine kippt? Erst kippen die Kommunen in einem Bundesland, und dann ist plötzlich auch das Bundesland selbst in Problemen?

    Landsberg: Also ich würde mich zurzeit nicht dazu bewegen lassen, ein solche Szenario zu beschreiben. Aber man muss in die Zukunft denken, und ich glaube, dass wir das zu wenig tun.

    Geers: Zu den Lösungen, die Sie gerade angesprochen haben, Herr Landsberg: Braucht es eventuell Entlastungsprogramme für die Kommunen? Wie viel Geld müsste da rein, und wie könnte das laufen?

    Landsberg: Ich glaube, dass wir das noch grundsätzlicher sehen müssen. Bund, Länder und Kommunen sind mit zwei Billionen verschuldet, wir zahlen täglich 170 Millionen Zinsen. So. Und wenn es so ist, brauchen wir da eine Lösung. Und das ist viel mehr als die Hilfe für einzelne Kommunen. Ich glaube, wir brauchen eine Agenda 2020, die uns mittelfristig den Weg aus dieser Schuldensituation weist. Und das klingt jetzt so abstrakt, aber ich will es konkret machen: Wie kann man Schulden beseitigen? Doch nur mit zwei Dingen, entweder Sie verbessern die Einnahmen, oder Sie reduzieren die Ausgaben oder Sie kombinieren beides. Genau das brauchen wir. Und ich würde vorschlagen, dass man als Erstes Mal sagt: Es gibt ein Moratorium für immer neue staatliche Leistungen, das wäre ja ein erster Schritt.

    Geers: Moratorium für staatliche Leistungen, das wäre dann zum Beispiel auch, auf die jetzige Situation übertragen, auf gar keinen Fall das Betreuungsgeld zu beschließen?

    Landsberg: Richtig. Dann würde man sagen: Solange wir keine schwarzen Zahlen im Bundeshaushalt schreiben, wollen wir jetzt eine solche zusätzliche familienpolitische Leistung nicht auf den Weg bringen. Ich kann aber auch zwei kommunale Bereiche nennen. Es gibt ja das beitragsfreie Kindergartenjahre in vielen Ländern. Da frage ich mich: Warum soll ein Akademikerehepaar nicht einen Beitrag leisten, damit dann auch die Qualität des Kindergartens besser wird. Warum soll ein Student keine Studiengebühren bezahlen, wenn das Land fast pleite ist und er dieses Geld erst später wieder zurückzahlen muss, wenn er als Akademiker besser verdient. Wir haben nach wie vor in der Bevölkerung eine Vollkaskomentalität, deswegen sprechen wir auch vom "Vater Staat". Und ich denke, wir müssen den Bürgern klar machen: Das Geld, was der Staat verteilt, muss er den Bürgern vorher abnehmen. Und ich glaube, wenn wir diese Diskussion ernsthaft führen, dann kommen wir auch zu vernünftigen Ergebnissen. Es gibt viele Baustellen, wir brauchen einfach mehr Reformen in Deutschland und weniger Verteilungspolitik.

    Geers: Bleiben wir noch mal bei dem Moratorium, Herr Landsberg. Wie lange müsste dieses Moratorium Ihrer Meinung nach gelten, und welche anderen möglichen Ideen, Projekte, die vielleicht in der Pipeline sind und die mancher Politiker auf Bundes- oder Landesebene, oder vielleicht auch auf kommunaler Ebene gerne hätte, welche Ausgaben würden unter dieses Moratorium Ihrer Meinung nach fallen?

    Landsberg: Also ich glaube, wir brauchen eine Atempause. Natürlich, und das verstehe ich auch, sind Politiker im Wahlkampf immer geneigt, etwas zu versprechen. Und alles, was sie versprechen, kostet Geld. Das heißt, wenn wir die nächsten drei, vier Wahltermine, eineinhalb oder zwei Jahre mal sagen würden: Jetzt gibt's keine zusätzlichen Leistungen, wir reformieren erst mal. Wir schauen uns mal an: Sind eigentlich unsere zum Beispiel familienpolitischen Leistungen zielgenau? Wir geben 170 Milliarden aus für die Familien, 30 Milliarden für Kindergeld. Und trotzdem können Sie jedes Jahr lesen: Die Armut der Kinder ist gestiegen. Dann muss man gucken: Machen wir das eigentlich zielgerecht, machen wir das bei der Jugendhilfe zielgerecht, können wir nicht auch dem Einzelnen manchmal mehr abverlangen und ihm dafür sagen: Dafür ist Deine Leistung aber auch in zehn Jahren noch sicher. Das ist eine riesige Reformbaustelle, aber irgendwann muss man damit anfangen.


    Geers: Trotzdem noch mal nachgefragt, ich hätte es gerne etwas konkreter: Was könnte alles unter dieses Moratorium fallen, Herr Landsberg?

    Landsberg: Also, darunter könnte zum Beispiel fallen das Betreuungsgeld, das haben wir genannt. Darunter könnte fallen eine Erhöhung des Kindergeldes, die bald wieder in die Diskussion kommt. Darunter könnte fallen, dass man sagt, generell einen Vorrang vor Transferleistungen, lieber in die Institutionen investieren. Allein das sind schon drei Aspekte, über die man reden könnte, auch die jetzt ja im Bundesrat beratenen Steuerleichterungen, kalte Progression, Entlastung würde aus meiner Sicht darunter fallen müssen.

    Geers: Herr Landsberg, bleiben wir noch mal beim Thema Kinderbetreuung. Da droht eine neue Bombe, die im Moment schon tickt. Am 1. August 2013, also in gut einem Jahr, hat jede Familie einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für sein Kleinkind. Aber es ist absehbar, dass es Lücken geben wird bei diesen Betreuungsplätzen und beim dafür notwendigen Personal. Wie groß ist diese Lücke?

    Landsberg: Die Lücke ist wahrscheinlich sehr groß. Das Beispiel Rechtsanspruch auf Kitabetreuung zeigt, dass wir eben häufig Wünschenswertes umsetzen, ohne es entsprechend zu unterlegen mit Finanzen. Wir haben damals, als das Gesetz gemacht wurde, gesagt, etwa 35 Prozent der Eltern werden den Anspruch geltend machen und darauf ist das Gesetz und auch die Finanzierung ausgelegt. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat damals schon gesagt, das wird nicht reichen, und wir haben gesagt, schreibt das in das Gesetz rein nach dem Motto, wenn eine Stadt für 35 Prozent der Kinder einen Platz hat, ist der Anspruch erfüllt. Das steht aber so nicht im Gesetz drin. Das heißt, wenn jetzt 50 oder 60 Prozent der Eltern das wollen, müssen wir das leisten. Deswegen müssen wir uns wahnsinnig anstrengen. Es fehlen nach meiner Schätzung noch etwa 200.000 Plätze bis zum 1. August 2013. Das ist nicht mehr lang. Deswegen schlagen wir eine Initiative vor. Wir brauchen mehr Tagesmütter, wir brauchen zusätzliche Hilfskräfte im Bundesfreiwilligendienst. Auch die Wirtschaft ist gefordert, Betriebskindergärten auszuweiten. Ich möchte nicht, dass die Eltern enttäuscht werden und ich warne auch die Politik, denn der Zeitpunkt 1. August 2013 fällt in den Bundestagswahlkampf. Und ich kann Ihnen jetzt schon sagen, da wird kein Bürger differenzieren, ist die Kommune schuld oder das Land, sie werden das in der Bundespolitik festmachen.

    Geers: Das heißt, wir laufen sehenden Auges in einen Notstand hinein?

    Landsberg: Ich weiß nicht, ob wir sehenden Auges in einen Notstand laufen, aber wir müssen uns vorbereiten und wir müssen uns mehr anstrengen. Deswegen haben wir dieses Programm vorgeschlagen. Ich gehe davon aus, dass das Familienministerium das aufnimmt. Aber wir müssen eben auch bereit sein, da über bestimmte Hürden zu springen. Und wir müssen auch gegenüber den Eltern ehrlich sein. Rechtsanspruch heißt ja nicht, dass ich eine Betreuung direkt um die Ecke den ganzen Tag habe. Da ist die Erwartungshaltung der Eltern gigantisch. Und wir müssen einfach mehr Tagesmütter gewinnen, denn das geht eigentlich viel schneller und es ist ehrlich gesagt für die kommunale Seite auch deutlich preiswerter. Und all dies ist, finde ich, viel wichtiger als weiteres Betreuungsgeld.

    Geers: Bleiben wir noch einmal kurz bei diesen Maßnahmen, die Sie erwähnt haben. Also, Sie sagen mehr Tagesmütter. Wie viele bräuchten wir und was muss dafür passieren?

    Landsberg: Also, wir bräuchten sicherlich noch mal 20.000 bis 30.000 Tagesmütter. Da kann man einen Anreiz bieten. Man kann Fortbildungslehrgänge über die Bundesagentur organisieren. Und - das ist vielleicht sogar noch wichtiger - man könnte sagen, wenn du nicht mehr als zwei oder drei Kinder zusätzlich betreust, dann ist das sozialversicherungspflichtig frei. Das war früher so, das ist unter Steinbrück abgeschafft worden, und das schreckt natürlich viele ab, denn es sind ja häufig Mütter, die selber ein Kind haben. Wenn man arbeitet und dann noch ein oder zwei Kinder mit betreut, das ist eine flexible Lösung. Bundesfreiwilligendienst habe ich gesagt. Im Moment können wir keine Stellen besetzen, weil alle besetzt sind. Wir haben den Bundestag aufgefordert, mindestens noch mal 5000 Plätze zu schaffen, wo junge Menschen, die vielleicht später Erzieherin oder Erzieher werden wollen, eine Chance haben, einer Erzieherin zu helfen. Das entlastet die wieder. Das kann wieder dazu führen, dass die Gruppe etwas größer ausfallen kann. Wir müssen auch Standards flexibilisieren. Wir haben teilweise Grundstücke, die wir nicht nutzen dürfen, weil zwei, drei Quadratmeter Außenfläche fehlen. Also darf da kein Kindergarten gebaut werden. Ich denke, da gibt es auch noch viel Holz zu hacken.

    Geers: Wenn man jetzt diese - ich nenne sie jetzt mal - unkonventionellen Maßnahmen ergreifen würde, also mehr Tagesmütter und Ähnliches, würde das reichen, um diese Lücke von 200.000 Betreuungsplätzen, die Sie gerade genannt haben, zu schließen?

    Landsberg: Ich hoffe es. Ich weiß es nicht, weil ich eben auch bis jetzt nicht genau weiß, wie viele Eltern das tatsächlich in Anspruch nehmen. Aber man muss natürlich als Kommune auch auf die Eltern zugehen und dann versuchen, flexible Lösungen zu schaffen. Zum Beispiel: Wenn Sie im Moment eine Ganztagsbetreuung haben mit acht Stunden und es sind so viele, dass Sie es nicht schaffen und Sie nicht genug Plätze haben, dann müssen Sie mit den Eltern reden und versuchen, wer kann denn auch vielleicht mit vier Stunden zufrieden sein, dann können Sie eben die doppelte Zahl von Kindern betreuen. Oder Sie müssen werben bei den Kräften - wir haben ja sehr viele Halbtagskräfte -, seid ihr nicht bereit, für eine Übergangszeit eine ganze Stelle zu machen. Also, da ist vor Ort viel zu machen. Das kann nicht der Bundesgesetzgeber, auch nicht der Landesgesetzgeber, aber viele unserer Bürgermeister sind da auch schon ganz gut unterwegs.

    Geers: Selbst, wenn wir morgen anfingen, Herr Landsberg, solche Sofortmaßnahmen umzusetzen, wäre die Lücke noch zu schließen? Sie brauchen auch Personal, sprich Betreuerinnen, Sie brauchen Räume im Zweifelsfall. Also da fehlt eine ganze Menge.

    Landsberg: Da fehlt eine Menge, aber ich bin Optimist und es ist ja auch nicht das erste Mal. Ich darf daran erinnern, dass es ja schon mal den Rechtsanspruch viel früher gab für eine Kinderbetreuung ab drei Jahren. Da hat es auch geknirscht, aber am Ende hat es funktioniert. Und ich hoffe, dass es hier auch so sein wird.

    Geers: Nun reden wir über einen Rechtsanspruch, der ab 1. August 2013 gilt. Das heißt, jede Familie, jeder Alleinerziehende, der dringend auf einen Kitaplatz angewiesen ist, kann in gut einem Jahr diesen Anspruch einklagen. Er kann möglicherweise sogar Schadenersatz verlangen, wenn ihm dieser Platz nicht zur Verfügung gestellt wird. Er könnte theoretisch wahrscheinlich hingehen und sagen, gut, dann suche ich mir eine private Betreuung und stelle das Ganze der Kommune, in der ich wohne, in Rechnung. Rollt da - Sie haben es gerade schon angedeutet - pünktlich zur nächsten Bundestagswahl eine Welle von Schadenersatzklagen auf den Staat zu?

    Landsberg: Das ist nicht auszuschließen. Deswegen sind wir als Deutscher Städte- und Gemeindebund an dem Thema auch so dran, denn diese Klagen rollen ja nicht auf den Staat, sie rollen auf die Stadt und die Gemeinde zu. Und das wollen wir natürlich möglichst verhindern, weil die Städte und Gemeinden sich das Personal auch nicht zaubern können. Aber ganz ausschließen kann man das nicht. Wir leben auch in einer Zeit, wo Elterninitiativen sich sehr schnell dann über die entsprechenden sozialen Netze verständigen. Und dann ist es eben nicht eine Klage, sondern viele. Und deswegen appellieren wir ja an die Politik, hier unser Sofortprogramm zu unterstützen.

    Geers: Und die erste Klage dieser Art hat es in dieser Woche gegeben, und der Kläger hat recht bekommen.

    Landsberg: So ist es. Das ist eine Sondersituation in Rheinland-Pfalz. Dort gibt es schon den Rechtsanspruch, aber nicht ab einem, sondern ab zwei Jahren. Und da hat ein Arzt geklagt vor dem Verwaltungsgericht. Die Urteilsgründe liegen uns nicht vor. Jedenfalls hat er einen Teil der Aufwendungen, die er in der Tat für eine private Kinderbetreuung hatte, ersetzt bekommen.

    Geers: Und wenn so etwas Schule machen sollte, dann würde es für die Kommunen richtig teuer?

    Landsberg: Es würde teuer und es würde vor allen Dingen das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Stadt beschädigen. Und das ist eigentlich die wahre Gefahr.

    Geers: Warum?

    Landsberg: Weil die Bürger von der Stadt diese Leistung erwarten. Sie ist gesetzlich versprochen und sie wollen nicht enttäuscht werden. Das verstehe ich und deswegen muss man auf sie zugehen und versuchen, Lösungen zu finden.

    Geers: An wen appellieren Sie, Lösungen zu finden? Muss jetzt der Bund mehr Geld zur Verfügung stellen? Müssen die Länder umsteuern?

    Landsberg: Ich appelliere nicht nur an Bund und Länder. An die auch, aber ich appelliere auch an die Wirtschaft. Ich appelliere auch an die Eltern. Entweder schaffen wir das gemeinsam, oder wir schaffen es gar nicht. Aber natürlich spielt das Geld eine Rolle. Da darf ich auch noch mal darauf hinweisen, als es damals vereinbart wurde, hat man gesagt, das kostet zwölf Milliarden, vier Milliarden der Bund, vier Milliarden die Länder und vier Milliarden die kommunale Seite. Wir haben damals schon gesagt, das wird nicht reichen. Nicht, weil wir besser rechnen können, sondern weil wir damals schon richtig vorhergesehen haben, dass offenbar sehr viele Eltern ihr Kind lieber in einer richtigen Betreuungseinrichtung als bei der Kinderfrau betreut wissen wollen. Und das ist teurer. Und das heißt, wir müssen auch noch mal über Geld sprechen, zweifellos.

    Geers: Über wie viel Geld denn?

    Landsberg: Also sicherlich über mehrere Hundert Millionen, wenn es schnell gehen soll.

    Geers: Blicken wir noch auf ein anderes Thema, Herr Landsberg, und damit noch einmal zurück nach Nordrhein-Westfalen. Vor knapp zwei Monaten, als der Wahlkampf begann, gab es einen aufsehenerregenden Vorstoß von Bürgermeistern aus dem Ruhrgebiet, die klagten, dass Städte wie Duisburg, Essen und Oberhausen auch deshalb so hoch verschuldet seien, weil sie über das Land Nordrhein-Westfalen zur Finanzierung des Solidarpakts mit Ostdeutschland herangezogen würden. Da war die Rede von einem perversen System, von Kommunen im Osten, die gar nicht mehr wüssten, wohin mit dem Geld, während gleichzeitig im Ruhrgebiet "der Baum brenne", um es mal wörtlich zu zitieren. Hatten und haben diese Bürgermeister recht?

    Landsberg: Also die Kampagne ist ja medial super gelaufen. Sie hat auf etwas hingewiesen, dass es nämlich vielen Städten auch im Westen sehr schlecht geht, aber die sachliche Grundlage ist nicht richtig. Erstens, das Geld, das diese Städte zahlen, geht nicht nach Osten, sondern es finanziert den Fonds Deutsche Einheit. Die Gelder, die nach Osten gehen, kommen direkt vom Bund. Der Fonds Deutsche Einheit wird von westdeutschen Bundesländern und Kommunen mit 2,7 Milliarden Euro jährlich finanziert, eine Milliarde die Kommunen und der Rest die Länder. So. Ich sage nicht, dass das kein Geld ist, aber ich will es an einem konkreten Beispiel, nämlich Gelsenkirchen klar machen. Gelsenkirchen war ja sehr aktiv in dem Zusammenhang. Gelsenkirchen hat einen Haushalt von 845 Millionen. Es zahlt 170 Millionen Euro jedes Jahr nur an Soziallasten und hat fast eine Milliarde Schulden. Und für den Solidarpakt beziehungsweise die Finanzierung des Fonds Deutsche Einheit zahlt diese Stadt zehn Millionen. Daran können Sie erkennen, dass das Problem richtig ist, aber wir es nicht darüber lösen. Und ich will auch noch gerne einen Satz dazu sagen: Die Finanzkraft der Städte in Ostdeutschland ist nur bei 70 Prozent des Westens - im Schnitt, es gibt natürlich Ausnahmen. Und deswegen glaube ich, es ist die falsche Baustelle. Wir müssen - da gebe ich der Medienkampagne insoweit recht - ein System finden, jedenfalls nach Auslaufen des Solidarpakts, dass wir das Geld nicht nach Himmelsrichtung, sondern nach Bedarf verteilen.

    Geers: Das hört sich gut an, Herr Landsberg, nur die Bürgermeister in Westdeutschland, in den Problemkommunen zum Beispiel an Rhein und Ruhr, die sagen, bis 2019, so lange läuft ja der Solidarpakt, können wir nicht warten.

    Landsberg: Das ist auch richtig. Aber zunächst einmal ist es natürlich Aufgabe des Landes, dafür zu sorgen, dass es den eigenen Kommunen besser geht. Dafür gibt es den kommunalen Finanzausgleich. Und ich habe es ja vorhin gesagt, niemand hat das Land Nordrhein-Westfalen gezwungen, zum Beispiel die Studiengebühren abzuschaffen, niemand hat das Land Nordrhein-Westfalen gezwungen, das dritte Kindergartenjahr beitragsfrei zu machen. Das kann man gut finden. Ich verstehe auch, dass die Bürger sich darüber freuen. Aber wir sind ja auch dran - auch das habe ich gesagt -, diesen Städten im Ruhrgebiet wäre wahnsinnig geholfen, wenn unsere Forderung, Kosten der Eingliederungshilfe 13,9 Milliarden von den Kommunen weg zum Bund wechseln würden über ein Bundesleistungsgesetz. Das würde denen viel mehr bringen als die Abschaffung des Solidarpakts, der ohnehin nicht abgeschafft wird. Das ist eine rechtliche Regelung zwischen Bund und Ländern. Die wird man nicht aufschnüren.

    Geers: Sie haben vorhin schon gesagt, Herr Landsberg, wir müssen langfristig ab 2019, wenn der Solidarpakt II, der derzeit gilt, ausläuft, zu einem System kommen, wo nicht mehr nach Himmelsrichtung gefördert wird, sondern nach Bedürftigkeit. Können Sie mal skizzieren, wie so ein System aussehen könnte?

    Landsberg: Ich habe da einen ganz einfachen Vorschlag. Es läuft ja nicht nur der Solidarpakt aus, sondern es läuft auch der Solidaritätszuschlag aus, den wir ja alle zahlen, jeder, Ost und West. Der bringt etwa 18 Milliarden pro Jahr in die Kasse des Bundes. Meine Idee ist, wir schaffen den nicht ab. Wir erhalten ihn und nehmen das als Fonds für Investitionen in benachteiligten Regionen Deutschlands. Das wäre eine super Umsetzungsmöglichkeit, um gerade armen Kommunen zu helfen und auch das Leben in diesen Städten lebenswerter zu machen, die Bildung zu fördern, die Jugendarbeit und die Investition.

    Geers: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Landsberg!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.