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"Wir schaffen völlig lernfeindliche Umgebungen"

Wie sollten die Schule und auch bereits der Kindergarten als Institutionen beschaffen sein, damit alle Kinder und Jugendliche sich entfalten können? Und welche Haltungen und Methoden unterstützen Pädagogen dabei, diese Verschiedenheit nicht nur auszuhalten, sondern zu nutzen und zu unterstützen- auch im Interesse der Gesellschaft?

Von Barbara Leitner | 24.11.2011
    Darüber diskutierten Pädagogen aus Theorie und Praxis auf dem 12. Kongress für Erziehung und Bildung, zu dem das Institut für berufliche Bildung und Weiterbildung an die Universität Göttingen eingeladen hatten.

    Kinder kommen auf die Welt, sind verschieden und wollen es sein. Um ihr Selbstwertgefühl zu stärken – darin waren sich die Wissenschaftler der verschiedenen Disziplinen auf der Göttinger Tagung einig - ist es hilfreich, dass sich die Pädagogen zurücknehmen, die Kinder beobachten und an deren Impulse anknüpfen. Sie werden sehen, dass beispielsweise bereits die Kleinen das Verlangen haben, sich rhythmisch zu äußern und zu bewegen.

    "Das Singen hat die Eigenschaft, wenn Kinder selbst anfangen zu singen, dann richten sie sich auf. Das heißt das Singen erzeugt so etwas wie ein körperlich fundiertes Selbstwertgefühl und diese Aufrichtung im Singen, das Singen, das sich auch auf die Atmungsorgane und den ganzen Menschen positiv auswirkt, das ist etwas, was Kinder von sich aus erkennen."

    Prof. Frederik Vahle ist Dozent für Sprachwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen und Kinderliedermacher. Als dieser weiß er: Kein Sprechen und keine Sprachentwicklung ist ohne Musikalität möglich. Die ist Kindern angeboren.

    "Da muss man sie eigentlich auch nicht groß fördern. Aber man muss sie auf dieser Ebene ansprechen und es ist erstaunlich, wie sie dann darauf einsteigen können. Aber wir Erwachsenen leben in einer Kultur, in der das oft getrennt wird und Singen sehr oft mit Präsentation, mit bestimmten Gesangsqualitäten, mit Leistung verbunden wird. Und da wird es halt schwierig."

    Schwierig wird es für die Kinder auch deshalb, weil Sprache, Musik und Bewegung im traditionellen Bildungskanon als getrennte Bereiche behandelt werden. Auch im Kindergarten ist es nicht mehr selbstverständlich, dass die Erzieherinnen im Alltag aus der Situation heraus mit den Kinder zu singen und tanzen beginnen. Eher wird ein CD-Spieler angeschaltet. In der Schule gelten Musik und Sport als Nebenfächer und nebensächlich, obwohl viele Schüler sich für beides leidenschaftlich begeistern.

    Gerade durch eine Vielzahl solcher von außen gesetzten Festlegungen und Regelungen, was wichtig und an der Reihe ist, geraten die Mädchen und Jungen schnell an ihre Grenzen und begehren auf. Bereits in der Kita sind Erzieherinnen von der vitalen Aggressivität der Jüngsten überrascht. Konflikte mögen sie nicht. Dabei übersehen sie leicht, worum es Kindern in der Auseinandersetzung geht.

    "Streit ist für Kinder die Möglichkeit festzustellen, was will ich, was will der Andere, was will ich vom anderen und wie sag ich's ihm, wie vermittle ich ihm das. Und eigentlich geht es dem Kind überhaupt nicht darum, den anderen zu verletzen, weder körperlich noch psychisch. Es geht darum. Es hat eine Idee im Kopf und es hat noch nicht den Verhandlungsspielraum oder was anderes sich alternativ vorzunehmen, sondern es muss seine Idee durchsetzen und der andere ist ihm einfach im Wege."

    Gabriele Haug-Schnabel leitet die Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen in Kandern und erforscht das Verhalten von kleinen Kindern in Gruppen. Dabei zeigen ihre Untersuchungen, dass schon Krippenkinder im Konflikt neue Erkenntnisse und Fähigkeiten erkämpfen. An die Aggression sind für sie wichtige Entwicklungsschritte gebunden. Deshalb sind sie motiviert, engagiert, setzen ihre ganze Kraft ein. Darin von einer Erzieherin gestoppt zu werden, kommt für sie einem Zusammenbruch gleich, der sie verzweifeln lässt.

    "Ich denke das Konfliktsituationen oder mehr die positive Komponente davon, das Aushandeln von unterschiedlichen Absichten und unterschiedlichen Plänen etwas ganz, ganz Wichtiges für die Entwicklung der Persönlichkeit ist. Denn ich kann ja meine Persönlichkeit erst in dem Moment richtig fassen, wo ich merke, aha, die weicht von den anderen ab. Dann überprüfe ich noch mal. Ist mir mein Standpunkt wirklich wichtig? Und dann wird gemeinsam überlegt, hoffentlich entweder mit der Hilfe der Eltern oder der Erzieherinnen, wie können wir jetzt eine Lösung finden. Ich werde also ernst genommen. Das ist für mich ein großer Schritt in erlebte Selbstwirksamkeit und das Gefühl von erster Partizipation am Geschehen."

    Nach Meinung von Gabriele Haug-Schnabel brauchen Erzieherinnen ausreichend Zeit, genügend große Räume sowie Material, an dem sich Kinder gemeinsam erproben und beweisen können. Dann können sie auch sehen, wie viele ihrer Routinen und Gewohnheiten im Alltag zum Konflikt führen. Dabei gilt: Nicht nur Kinder, sondern auch Pädagogen gelten als sozial kompetent, wenn sie mit eigenen und fremden Emotionen umgehen können. Am Vorbild der Pädagogen lernen die Mädchen und Jungen. Für die Schule stimmen internationale Studien darin überein, dass die Persönlichkeit des Lehrers zu 70 Prozent die Wirksamkeit des Unterrichts bestimmt.

    "Wenn das so ist, dann müssten wir viel stärker selbsterfahrungsorientiert an der Person des Lehrers arbeiten und denen soziale Kompetenzen vermitteln, und vor allem daran arbeiten, dass sie mehr Bewusstheit über ihre mentalen Modelle haben, über die Art und Weise, was ihre persönlichen Präferenzen sind, ihre Wahrnehmungsroutinen und so weiter. Das passiert aber nicht. Das ist meiner Meinung nach eine der Ursachen für den hohen Belastungsgrad, den wir im Lehrerberuf haben. Und jetzt wird es aber doppelt problematisch, weil die Lehrer und Lehrerinnen in der Lage sein sollten, bei ihren Kindern, bei den Schüler Potenziale zu entdecken und zu fördern und so weiter. Und dazu müssten sie mehr über sich selbst und ihre Muster wissen."

    Olaf-Axel Burow von der Universität Kassel. Er ist überzeugt: Auch Lehrer würden sich beim Nachdenken über ihre Biografie an Schule als einen Ort erinnern, an dem sie Gleichaltrige trafen, sie ihre Freundschaften pflegten und sich auch gegenseitig leistungsmäßig herausforderten. Der Pädagogikprofessor beschäftigt sich mit Theorien des Kreativen Feldes und wie diese in der Kreativitäts-, Begabungs- und Innovationsförderung umgesetzt werden können. Die Schule hält er für diese sozialen Konstellationen weitgehend für blind. Nicht nur mit dem gegliederten Schulsystem werden die Mädchen und Jungen auseinander gerissen. Gerade in der Pubertät suchen die jungen Leute nach spielerisch kreativen Möglichkeiten. Diese werden durch die starke Leistungsorientierung und die Verkürzung der Zeit bis zum Abitur zusätzlich beschnitten.

    "Wenn man wirklich die Leistungen verbessern will, dann bräuchte man einen Ansatz, dass man guckt, wie Systeme von Schülern, miteinander wirken und nicht von ungefähr gibt es herausragende Beispiele Lennon, McCartney, Steve Jobs, Steve Wozniak, Microsoft, SAP. Es sind Felder. In allen Bereichen sind Spitzenleistungen immer Ergebnis von Mischungen von unterschiedlichen Personen und was wir mit unserem Bildungssystem machen, wir entmischen die Leute. Wir schaffen völlig lernfeindliche Umgebungen und zerstören die kreativen eigenen Anteilen von Schülern."

    Diese kreativen Ideen und Potenziale auch der Schüler bezieht Olaf-Axel Burow mit ein, wenn er Schulen bei ihrem Schulentwicklungsprozess begleitet. Reformbemühungen der Schulbehörden stärken seiner Erfahrung nach ehe institutionelle Abwehrroutinen. Um selbst organisierte Systeme zu bewegen, ist es wichtig, an das anzuknüpfen, was die Lehrer, die Schüler, deren Eltern wollen, über gelungenes Lernen wissen und diese Ideen gemeinsam umzusetzen. Für die Schulen als System gilt offensichtlich etwas Vergleichbares wie für die Schüler – beide wollen in ihren einzigartigen Potenzialen gesehen werden und einbringen können, was ihnen wichtig ist.

    "Die große Herausforderung ist, Unterschiedlichkeit so zu kombinieren, dass daraus was Größeres, was Herausforderndes wird. Wir gehen ja in eine Wissensgesellschaft und in einer Wissensgesellschaft kommt es gerade auf diese Selbstorganisierung, Selbststeuerungsfähigkeiten an und auf die Mischung. Also ist es völlig daneben, wenn man mit ganz rigiden Konzepten die Leute festlegt und allgemein abprüft. Wir brauchen doch nicht Leute, die alle gleich sind, sondern wir brauchen, dass jeder sein Alleinstellungsmerkmal, seine unverwechselbaren Fähigkeit entdeckt. Da müsste es eigentlich lang gehen."