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"Wir sind spät mit dieser Aufarbeitung"

Das Bundeskriminalamt will in einer Kolloquienreihe die Verbindungen zwischen der Behörde und dem NS-Regime untersuchen. Das BKA war von seiner Gründung 1951 an bis zumindest in die 70er Jahre von ehemaligen Nazi-Größen geführt worden. Man sei sehr spät dran mit dieser Aufarbeitung, betonte BKA-Präsident Jörg Ziercke, aber einen Schlussstrich unter diese Geschichte dürfe es nicht geben.

Moderation: Christian Schütte | 11.08.2007
    Christian Schütte: Das Bundeskriminalamt ermittelt, und zwar jetzt auch in eigener Sache. Es geht um die Anfänge des BKA, die Behörde ist von ihrer Gründung 1951 an bis zumindest in die 70er Jahre von ehemaligen Nazi-Größen geführt worden. Und diese braune Vergangenheit will das BKA jetzt aufarbeiten. Am Telefon ist nun Jörg Ziercke, der Präsident des Bundeskriminalamts. Guten Morgen, Herr Ziercke!
    Jörg Ziercke: Ja, schönen guten Morgen!
    Schütte: Als Schlüsselfigur bei der Gründung des BKA gilt Paul Dickkopf. Er war, so ist zu lesen, während der Nazi-Zeit Abwehroffizier im Oberkommando der Wehrmacht. Trotzdem bekam er dann nach dem Krieg den Auftrag, beim Aufbau der Sicherheitsbehörden in Nachkriegsdeutschland mitzuhelfen. Und das tat er offensichtlich, indem er zum Beispiel frühere Kollegen aus der SS-Führerschule in Berlin-Charlottenburg in Führungspositionen beim BKA brachte. Herr Ziercke, inwieweit hat das Bundeskriminalamt damit auch die zum Teil menschenverachtende Verbrechensbekämpfung aus der Nazi-Zeit mit übernommen?
    Ziercke: Also ich denke, das ist eine der zentralen Fragen, die zumindest Anfang der 50er Jahre eine Rolle gespielt hat. Ich sehe das heute in dieser Form nicht, selbstverständlich nicht, weil ich glaube, dass wir eine sehr demokratische Polizei sind, eine Polizei in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Aber wir wollen wissen, wo sind unsere Wurzeln, und ist aus dieser Zeit etwas übrig geblieben in den 60er, 70er Jahren, was wir möglicherweise nicht erkannt haben. Insoweit sind die ersten wissenschaftlichen Erkenntnisse auch zu Paul Dickkopf, so, wie Sie sie eben beschrieben haben. Wir wissen aber auch, dass nach dem Kriege 48 Beamte des ehemaligen Reichskriminalpolizeiamtes den Kern des damals gegründeten Bundeskriminalamts bildeten, das ja am 8. März 1951 seine Arbeit aufnahm. Und konkret zu diesem Zeitpunkt sollen in den 50er Jahren von 47 Führungsbeamten 33 ehemalige SS-Führer, darunter zwei Sturmband- und 20 Hauptsturmführer gewesen sein. Insoweit also ist das die zentrale Frage, die uns im Rahmen dieser Kolloquienreihe, die wir jetzt eröffnet haben, bewegen wird.
    Schütte: Der Aufbau der neuen Sicherheitsbehörde geschah ja in enger Absprache mit den damaligen Besatzungsmächten. Haben etwa die Amerikaner oder die Briten gewusst, mit wem sie es zu tun hatten?
    Ziercke: Also auch das ist eine Frage, der wir nachgehen wollen. Sicherlich ist richtig, dass die schrittweise Auflösung des westalliierten Bestrafungsprogramms zur damaligen Zeit dazu beigetragen hat. Es gab ja auch, wenn ich dran erinnern darf, Straffreiheitsgesetze in den 50er Jahren. All dies wird hier eine Rolle spielen. Und da kann die Folge dann gewesen sein, dass diese Cliquen und Seilschaften, die sich aus der NS-Zeit kannten, sich gegenseitig protegierten und dann tatsächlich in diese Funktion hineingekommen sind.
    Schütte: Der Schriftsteller Ralph Giordano spricht im Hinblick auf die Fortsetzung der Nazi-Karrieren von einer zweiten Schuld beim BKA. Hat er Recht?
    Ziercke: Also dies ist eine Frage, die an die gesamte Gesellschaft ja von Herrn Giordano gerichtet ist. Er spricht ja auch von der "kalten Amnestie" in dieser Zeit, dass man also im Grunde das letztlich hingenommen hat, den Dingen nicht mehr weiter nachgegangen ist. Er spricht da auch die Justiz an. Und er spricht insoweit im Hinblick auf die zweite Schuld eben davon, dass man diese Art der Entnazifizierung nicht gründlich genug damals vorgenommen hat, sondern dass man einfach aufgehört hat damit. Und das ist der Punkt, der uns bewegt. Inwieweit haben diejenigen, die in der NS-Zeit tätig waren - unabhängig davon, das können wir so auch aus dem Stand heraus nicht beantworten, ob sie schwere Schuld auf sich geladen haben, das gilt für einige, die auch durch die Justiz dann zur Verantwortung gezogen worden sind - aber was heißt das für die, die ihre Gesinnung weitergetragen haben. Inwieweit haben sie junge Menschen in den 50er Jahren, die neu eingestellt worden sind, beeinflusst möglicherweise? Was hieß das für die Aus- und Fortbildung damals, was hieß das für die Strategien der Kriminalitätsbekämpfung? Das wollen wir genau stärker aufklären, um daraus dann die Erkenntnis zu schöpfen, wie sensibel wir heute und auch in der Zukunft sein müssen.
    Schütte: Auf Grundlage von welchem Material wird denn die Aufarbeitung eigentlich vollzogen? Haben Sie da in Wiesbaden eine Art Giftschrank mit geheimen Akten, die nun ausgewertet werden, oder wie muss man sich das vorstellen?
    Ziercke: Nein, diese Personalakten, um die es auch geht, sind beim Bundesarchiv in Koblenz, da gibt es auch entsprechende Auswertungen bereits von Wissenschaftlern, da gibt es auch ein Buch darüber. Wir gehen noch einen Schritt weiter jetzt, die dieses Buch nicht beantworten konnte, dass wir nämlich fragen: Welche Wirkung haben diese Menschen, die damals das Bundeskriminalamt aufgebaut haben, konkret gehabt? Welche Rolle haben Sie gespielt in der Nazi-Zeit, und welche Rolle haben sie später in diesem Amt dann gespielt, und welchen Schaden haben sie dadurch möglicherweise angerichtet? Und die dritte wichtige Frage ist: Was haben wir daraus mitgenommen im Grunde für den Aufbau eines freiheitlich-demokratischen Bundeskriminalamtes im Rahmen unseres Rechtsstaates, und auf welchem Fundament beruht das eigentlich? Um daraus wiederum die Frage zu entwickeln, welches moderne Polizeiverständnis müssen wir dem Ganzen zugrunde legen, damit dieses nie wieder passiert. Denn ich habe bei meinem Eröffnungsvortrag ja auch gesagt: Wir sind sehr spät mit dieser Aufarbeitung, aber es ist nie zu spät, weil es einen Schlussstrich unter diese Geschichte nicht geben darf. Es geht ja auch nicht um persönliche Schuld von Mitarbeitern heute des Bundeskriminalamtes, sondern um Verantwortung für das, was mal geschehen ist, und dass wir das in unserem Bewusstsein verankern, damit dies Hoheitsträgern nie wieder passiert.
    Schütte: Sie haben auch gesagt, Sie wollen mit der Aufarbeitung das Erinnern in den Vordergrund stellen, aber rechtliche Konsequenzen - Sie haben es ja eben angesprochen - soll es nicht geben. Warum nicht, sind die Verantwortlichen inzwischen alle verstorben?
    Ziercke: Also überwiegend sind die Verantwortlichen verstorben. Es ist keiner mehr von dieser Generation im Dienst. Ich selbst bin 1947 geboren, ich bin der ältestes Vollzugsbeamte sozusagen im Bundeskriminalamt. Daran mögen Sie erkennen, dass es da auch nicht um persönliche Schuld der heute Lebenden geht. Bei all den anderen, die möglicherweise noch leben, können wir eine justizielle Aufbearbeitung hier nicht leisten, das ist Sache der Justiz. Ob das möglicherweise überhaupt noch möglich ist, das ist auch nicht Gegenstand unserer Prüfung jetzt.
    Schütte: Dass Behörden im Nachkriegsdeutschland von ehemaligen Nazi-Größen geführt wurden, ist an sich nicht ungewöhnlich, aber in anderen Behörden und Polizeistellen wurde das viel früher erkannt und dagegen vorgegangen. Warum nicht beim BKA?
    Ziercke: Ich sagte ja, ich selbst komme aus Schleswig-Holstein, habe das da auch zu früherer Zeit schon unter dem Titel "Eine Landespolizei unter dem Hakenkreuz. Eine Landespolizei stellt sich ihrer Geschichte" als einen ersten Prozess gemacht. Ich weiß das von Polizeien in Dortmund, in Münster, in Köln und verschiedenen anderen. Im Bundeskriminalamt ist man diesen Weg damals nicht gegangen. Ich kann das nicht weiter beurteilen, weil ich auch diese Kontakte zu meinen früheren Vorgängern so nicht habe. Ich meine, es ist nicht zu spät, es ist nie zu spät, dieses Thema auf die Tagesordnung zu bringen. Ich erfahre eine große Resonanz im Bundeskriminalamt. Denn wir haben ja eine Kolloquienreihe gestartet, die darin besteht, mit Wissenschaftlern auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite gleichzeitig auch die Mitarbeiter des Hauses einzuladen zu diesen Veranstaltungen, dreimal. Und wir wollen dann am Ende im Grunde feststellen, ob es einen weiteren Forschungsbedarf gibt, und wir wollen dann eventuell einen Forschungsauftrag erteilen.
    Schütte: Es gibt ja bereits eine Studie von Dieter Schenk, einem ehemaligen Kriminaldirektor beim BKA, der hat 2001 eine Studie vorgelegt. Und der Autor bemängelte damals, dass das BKA sich nicht in die Karten schauen lassen wollte und eine Aufklärung verhindert habe. Entspricht das den Tatsachen?
    Ziercke: Also Herr Schenk nimmt an dieser Veranstaltung teil. Ich öffne mich dieser Kritik, er kann diese Kritik hier auch ganz offen darstellen, das wollen wir auch alles diskutieren. Inwieweit zur damaligen Zeit, als Leute noch gelebt haben, auch Rechte noch zu wahren waren, das eine oder andere möglich war, das kann ich so nicht beantworten. Ich weiß, dass er umfänglich Personalakten ausgewertet hat des BKA, er hat aber Kritik gehabt in einzelnen Fällen, wo er nicht an Akten herankam. Ob das wirklich relevant war - ich habe mit ihm noch mal darüber gesprochen. Er sagt, sein Erkenntnisinteresse ist im Grunde in dem Punkt weitestgehend erledigt. Er will in diese Dinge auch nicht noch mal einsteigen, aber er will mitwirken jetzt an der weiteren Bearbeitung dieses Phänomens im wissenschaftlichen Sinne, um deutlich zu machen, wo wir heute stehen.
    Schütte: Hat das BKA durch die sagen wir Duldung oder durch das Schweigen die ehemaligen Nazi-Polizisten indirekt rehabilitiert?
    Ziercke: Also das könnte man so sehen, wenn man der Meinung ist, dass diese schwere Schuld auf sich geladen haben. Dazu muss ich noch mal sagen: Eine justizielle Aufarbeitung bei vielen ist ja nicht erfolgt, also insofern muss man hier auch gerechter Weise sagen, wenn ich nicht konkret weiß, was wer gemacht hat im Dritten Reich, dann kann ich hier auch nicht von Rehabilitation letztlich sprechen. Gleichwohl bin ich der Meinung, dass viele, wenn man sich die Karriereverläufe ansieht, nie in dieses Amt hätten eingestellt werden dürfen.
    Schütte: Herr Ziercke, Sie haben kürzlich vor zunehmendem Rechtsextremismus in Deutschland gewarnt. Wie beurteilen Sie die Einstellung früherer BKA-Präsidenten, denn der Vorwurf steht im Raum, durch die braune Vergangenheit habe das BKA sich nie ernsthaft gegen Rechtsextremismus engagiert?
    Ziercke: Also das ist eine Aussage, die man ja zu früherer Zeit schon mal bemüht hat, wir seien auf dem rechten Auge blind. Ich halte das für eine völlige Fehleinschätzung der Situation. Es gibt neben dem Terrorismus auch heute kaum ein anderes Thema wie den Rechtsextremismus, das eine so hohe Aufmerksamkeit hier erfährt. Ich habe hier eingerichtet eine Forschungsstelle zum Rechtsextremismus. Wir wollen ein Frühwarnsystem entwickeln. Wir haben eine Früherkennung im operativen Bereich eingerichtet, gemeinsam mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Wir haben auf europäischer Ebene angestoßen, uns mit dem Rechtsextremismus europäisch auseinanderzusetzen. Wir haben das in der Aus- und Fortbildung intensiv auf den Weg gebracht. Also ich lasse überhaupt keinen Zweifel daran, dass wir diesem Thema mit die höchste Aufmerksamkeit zuwenden. Und ich glaube, auch durch die Initiative, die wir jetzt gestartet haben, uns öffentlich auch dem Diskurs auszusetzen mit unserer Vergangenheit, zeigen wir das.
    Schütte: Wo wir jetzt schon beim Blick nach vorn sind: Ist das BKA angesichts dieser heiklen Vergangenheit etwas eingeschränkt, muss es zurückhaltender reagieren, um dem Vorwurf zu entgehen, man sei eine Behörde, die einen Nazi-ähnlichen Überwachungsstaat wolle? Das sind ja Vorwürfe, die auch erhoben werden, Stichwort Online-Durchsuchungen etc.
    Ziercke: Nein, in keinster Weise. Ich halte auch diese Parallelen, die da gezogen werden, mit Überwachungsstaat oder Schnüffelstaat, wenn man von solchen [exekutiven] Maßnahmen spricht, für eine völlige Fehlleitung und Fehlinformation auch der Öffentlichkeit. Denn zu suggerieren oder zu assoziieren, was in der nationalsozialistischen Zeit Überwachungsstaat ausmachte, mit der heutigen Polizei, mit dem heutigen Bundeskriminalamt, das banalisiert im Grunde und relativiert die Verbrechen eigentlich in der Nazi-Zeit. Das sollte man nicht machen. Wir sind eine auf rechtsstaatlicher Grundlage basierte und fundierte Polizeibehörde. Und das, was Online-Durchsuchung ausmacht, hat damit überhaupt nichts zu tun. Und wenn ich Ihnen sage, dass wir von fünf bis acht bis zehn Online-Durchsuchungen in der Perspektive ausgehen, für Schwerstkriminelle, für Leute, die Kinder misshandeln und das über Kinderpornografie im Internet darstellen, im Hinblick auf Terroristen, die Bombenbauanleitungen ins Internet stellen, dann hat das überhaupt gar keinen Bezug zu dem, was jemand mit Überwachungs- oder Schnüffelstaat assoziiert.