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"Wir verzichten auf Rache und Vergeltung"

Die Erklärung von 30 westdeutschen Vertriebenenverbänden war eine Mischung aus Zurückhaltung und Radikalität. Einerseits verzichteten sie auf Vergeltung, und bekannten sich zu einem geeinten Europa, andererseits betonten sie ihr Recht auf Rückkehr und forderten die Revision der bestehenden Grenzen.

Von Otto Langels | 05.08.2005
    "Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluß ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat."

    Mit diesen Sätzen beginnt die Charta der deutschen Heimatvertriebenen, die am 5. August 1950 im Bad Cannstatter Kursaal unterzeichnet wurde. Von der Versammlung, die den Auftakt zum ersten "Tag der Heimat" in Stuttgart bildete, existiert keine Aufzeichnung. Die Charta wurde bei späteren Jubiläumsveranstaltungen immer wieder feierlich vorgetragen.

    Die Erklärung von 30 westdeutschen Vertriebenenverbänden ist eine Mischung aus Zurückhaltung und Radikalität. Einerseits verzichteten sie auf Vergeltung, und bekannten sich zu einem geeinten Europa, andererseits betonten sie ihr Recht auf Rückkehr und forderten die Revision der bestehenden Grenzen.

    "Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen, zu verlangen, dass das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird."

    12 bis 14 Millionen Deutsche - manche sprechen sogar von 15 Millionen - mussten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und in der Zeit danach ihre Heimat verlassen: Sie wurden evakuiert, vertrieben, deportiert, ausgewiesen, umgesiedelt. Rund zwei Millionen kamen dabei ums Leben, viele wurden Opfer von Verbrechen.

    In der frühen Nachkriegszeit war es schwierig, Millionen von Flüchtlingen unterzubringen und zu versorgen. Bundespräsident Heinrich Lübke erinnerte bei der Jubiläumsveranstaltung 1960 an die Umstände ein Jahrzehnt zuvor.

    "Als die Charta der Heimatvertriebenen vor 10 Jahren verkündet wurde, lebten über die Hälfte der Vertriebenen noch von fürsorgeähnlichen Leistungen oder von Arbeitslosenhilfe. 40 Prozent der Vertriebenen waren arbeitslos, weit über die Hälfte von ihnen hatten keine ausreichende Wohnung."

    Es gehört zu den großen Aufbauleistungen der Nachkriegszeit, dass die gesellschaftliche Integration der Flüchtlinge ohne große Verwerfungen gelang. In der DDR waren landsmannschaftliche Organisationen allerdings verboten. Das Thema Vertreibung war ein Tabu.

    Auch im Westen ließen die Alliierten zunächst keine Vereinigungen von Flüchtlingen zu, weil sie nationalistische Tendenzen fürchteten. Doch der Kalte Krieg lockerte die Verbote. 1949 entstanden der "Zentralverband der vertriebenen Deutschen" und die "Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften". Die Organisationen vertraten zwar nur einen geringen Prozentsatz der Vertriebenen, sie verstanden es aber, öffentlichen Druck zu erzeugen und konfrontierten die politischen Parteien mit vehement vorgetragenen unrealistischen Forderungen.

    So erklärte Konrad Adenauer in einer Wahlkampfrede vor der ersten Bundestagswahl 1949:

    "Deutschland kann natürlich das Vertriebenenproblem nicht aus eigener Kraft lösen. Es handelt sich hier um eine internationale Aufgabe, die allein in der Rückkehr der Vertriebenen in ihre Heimat, in der Beseitigung auch der Oder-Neiße-Linie ihre letzte Lösung finden kann."

    Mit der "neuen Ostpolitik" Ende der 60er Jahre und schließlich mit der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im Zuge der deutschen Einheit 1990 ist die historische Entwicklung über die Forderungen der Vertriebenen und die Charta aus dem Jahr 1950 hinweg gegangen, was sie nicht davon abhält, bis heute materielle Entschädigungen zu fordern sowie juristische Klagen anzudrohen und das Mißtrauen der osteuropäischen Nachbarn zu wecken.

    Damit ist das Thema Zwangsmigration nach wie vor aktuell und löst Kontroversen aus. So ist das Zentrum gegen Vertreibungen, das der Bund der Vertriebenen in Berlin errichten möchte, als nationale Gedenkstätte umstritten. Die Vorsitzende Erika Steinbach:

    "Wir möchten auf der einen Seite das Schicksal der mehr als 15 Millionen deutschen Heimatvertriebenen darstellen. Wir wollen zeigen, wie sich Deutschland verändert hat."

    Das "Jahrhundert der Vertreibungen" haben Historiker das 20. Jahrhundert angesichts zahlloser Massenumsiedlungen genannt - von Armenien über die Völkerverschiebungen in der Sowjetunion und die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten bis zu den so genannten "ethnischen Säuberungen" auf dem Balkan. In der Charta der Heimatvertriebenen heißt es dazu:

    "Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste zu töten."