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"Wir waren die Rechtlosen"

Schläge, Demütigungen, Arbeitszwang - das war Alltag in vielen deutschen Kinderheimen in den 50er- und 60er-Jahren. Sonja Djurovic sitzt als Betroffene am Runden Tisch. Die Chancen auf finanzielle Entschädigung schätzt sie als gering ein, obwohl viele Opfer von Hartz IV leben.

Sonja Djurovic im Gespräch mit Jasper Barenberg | 09.12.2010
    Jasper Barenberg: Der "Runde Tisch Heimerziehung" tritt heute zum letzten Mal in Berlin zusammen. Eine generelle Entschädigung wird es also absehbar nicht geben. Wie bitter wäre diese Bilanz? Das habe ich vor der Sendung Sonja Djurovic gefragt, die seit zwei Jahren mit am Runden Tisch arbeitet und sitzt.

    Sonja Djurovic: Das wäre einfach ein Skandal, es wäre eine Riesenkatastrophe für alle ehemaligen Heimkinder, die ja wirklich die Erwartungshaltung haben, dass es was geben wird. Das ist die einzige Chance oder einmalige Chance, die die ehemaligen Heimkinder haben, zu ihrem Recht zu kommen, und wenn das wieder alles unter den Teppich gekehrt wird, dann kann man wirklich an nichts mehr glauben und schon gar nicht an die Gerechtigkeit von dem Staat. Denn was damals passiert ist, das war ein Unrecht in einem Rechtsstaat, und dann muss der Staat, die Länder, also der Bund, die Länder und die Kirchen und die ganzen Trägerorganisationen, die müssen zu dem Unrecht stehen.

    Barenberg: Sie haben nun selber mitgewirkt die vergangenen zwei Jahre am Runden Tisch für Heimerziehung, Sie haben die Diskussionen verfolgt, es gab einen Zwischenbericht. Wie überraschend ist denn der Stand der Dinge? Wie überraschend ist es, dass es offenbar keine Zusagen gibt für eine generelle Entschädigung?

    Djurovic: Ja, gut, wir hatten jetzt fast zwei Jahre die Erwartungshaltung, dass wirklich was Positives für uns am Ende herauskommen wird. Der Runde Tisch, der kann ja nur empfehlen, und er muss auch entsprechend empfehlen, dass die Länder, Bund und so weiter auch entsprechend entscheiden werden zu unseren Gunsten. Aber nachdem wir unsere Lösungsvorschläge eingereicht hatten, war das irgendwie plötzlich eine ganz andere Situation am Runden Tisch. Ich hatte so, also das ist mein persönliches Gefühl, dass man Schadensminderung betreiben will, und es wird auch ziemlich viel relativiert und heruntergespielt. Man sagt ja auch in dem Abschlussbericht, dass man den ehemaligen Heimkindern glaubt. Ja entweder man glaubt uns, oder man glaubt uns nicht!

    Barenberg: Und Sie haben eher das Gefühl, man nimmt Sie gar nicht ernst in Ihrer Funktion als Opfer, als Zeitzeugen, als Personen, die erlebt haben, was sie eben erlebt haben?

    Djurovic: Genau. Es wurden ja auch viele wissenschaftliche Expertisen in Auftrag gegeben, die ja auch aussagen, dass großes Unrecht geschehen ist und dass es auch in vielen Punkten Verstöße gegen das Grundgesetz waren. Das Grundgesetz gilt ab 1949 und hat eigentlich auch für uns gegolten, aber wir waren die Rechtlosen. Wenn man sich das alles mal so durch den Kopf gehen lässt, rückwirkend, das Grundgesetz hat für uns nicht gegolten, zu keiner Zeit und in keiner Weise.

    Barenberg: Es gab in diesen Heimen - Sie waren selber in den 60er-Jahren in einem evangelischen Diakonissenheim in Franken ...

    Djurovic: Genau.

    Barenberg: ... für vier Jahre -, es gab dort Demütigungen wie in anderen Heimen auch, es gab Einsperren, es gab die Schläge, den Arbeitszwang. Was davon belastet Sie heute noch am meisten, wenn man das überhaupt sagen kann?

    Djurovic: Also man hat mich meiner Jugend beraubt. Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen, dass man mich jetzt so einfach wegsperren konnte. Man hat mir meine Berufschancen genommen, ich musste dort im Heim Schneiderin lernen, ich habe nie einen Tag in dem Beruf gearbeitet. Das Wort "Erziehung" bedeutet ja was ganz anderes, als was tatsächlich in den Heimen passiert ist. Ich wurde entlassen und ich war zerstört und ich konnte mich in der normalen Gesellschaft überhaupt nicht zurecht finden. Es wurde einem nichts mit auf den Weg gegeben, es ging nur um Zucht und Ordnung, dazu täglich Demütigungen und wir sind sowieso, aus uns wird nichts, und wir sind sowieso von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das hat man verinnerlicht, und das wurde einem mit auf den Weg gegeben, aber keine Vorbereitung auf das Leben. Deshalb sind auch viele von den ehemaligen Heimkindern später auch gescheitert, oder haben nie wirklich einen Anschluss an das Leben gefunden.

    Barenberg: Nun wurde in Aussicht gestellt zwar keine generelle Entschädigung, wohl aber ein Fonds für Härtefälle. Das ist sozusagen das, was im Moment sich andeutet. Warum reicht das nicht?

    Djurovic: Ja, das ist jetzt schwierig zu erklären. Härtefälle, die einzelnen oder wenige, die müssen nachweisen, dass sie unter Folgeschäden leiden, und dadurch passiert natürlich auch, dass viele Menschen, die eh schon traumatisiert sind und mit dem Trauma ihr ganzes Leben leben mussten, wieder retraumatisiert werden, und dann sind diese Hürden viel zu hoch, und das kann man keinem Menschen zumuten. Von den wenigen, die dann eventuell in Frage kämen, wird dann noch einmal ausgesondert und im Endeffekt käme kaum jemand in den Genuss einer finanziellen Entschädigung.

    Barenberg: Wie viel ist es denn in Ihren Augen dann im Vergleich dazu wert, dass die Gesellschaft immerhin nach Jahrzehnten jetzt Ihre Geschichten, Ihre Geschichten zur Kenntnis nimmt, und wie wichtig ist es, dass das auch weitergeht, dass diese Geschichten weiter gründlich erforscht, aufgearbeitet, gesammelt werden? Ist das ein Erfolg immerhin?

    Djurovic: Ja. Das ist schon ein Erfolg, dass diese ganze Debatte jetzt öffentlich wurde, und vor allen Dingen, dass so was auch nie mehr passiert, was mit uns passiert ist zu der damaligen Zeit. Es hat sich natürlich sehr viel verändert auf dem Gebiet. Es gibt natürlich immer noch Übergriffe auf Kinder, aber es ist kein Vergleich zu damals. Wir sind schon auch dabei, viel zu machen, dass sich so was auch nie mehr wiederholen kann.

    Barenberg: Frau Djurovic, haben Sie noch einen Rest Hoffnung, dass der Abschlussbericht doch noch in Ihrem Sinne ausfallen wird?

    Djurovic: Also dazu kann ich nur sagen, die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir versuchen alles, was in unseren Möglichkeiten steht, und man darf wirklich die Hoffnung nie aufgeben, aber im Grunde genommen weiß ich, dass man sich unseren Forderungen auf eine finanzielle Entschädigung auf keinen Fall anschließen wird. Da muss wirklich ein Wunder passieren.

    Barenberg: Sie haben kürzlich einmal gesagt, nach zwei Jahren Arbeit am Runden Tisch gehen Ihnen jetzt so langsam die Kräfte aus, geht Ihre Kraft zu Ende. Haben Sie jetzt schon das Gefühl, dass Ihr Einsatz, Ihre Arbeit vergebens war?

    Djurovic: Nein, das denke ich nicht. Der Runde Tisch, der hat sicher auch viele gute Seiten. Diese ganze Debatte, das Thema, das ist öffentlich geworden, die Presse hat viel berichtet über uns, und es gibt schon viele positive Dinge. Aber die Aufarbeitung war meiner Meinung nach mehr die Aufarbeitung unseres Vis-à-vis, also ich will jetzt nicht unbedingt sagen unserer Gegenseite, aber es wurde ja nur aufgearbeitet, was die uns vorgegeben haben. Aber trotzdem: Umsonst war es eigentlich nicht. Aber wir haben von Anfang an damit gerechnet, dass am Ende eine finanzielle Entschädigung für die Betroffenen herauskommt, weil viele von uns, die leben einfach am Existenzminimum, also leben von Hartz IV oder der Grundsicherung, und das hat man auf die Heimzeit, die Heimerziehung zurückzuführen. Die Menschen hatten überhaupt keine Bildungschancen. Es gibt auch einige wenige, die es dann geschafft haben, die haben aber genauso viel erlitten wie andere, und deswegen wollen wir auch eine finanzielle Entschädigung für die armen ehemaligen Heimkinder sowie auch für die ehemaligen Heimkinder, denen es heute besser geht.

    Barenberg: Sonja Djurovic sitzt als Opfer der Heimerziehung am "Runden Tisch Heimerziehung". Vielen Dank für das Gespräch, Frau Djurovic.

    Djurovic: Ja, gerne.