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"Wir wollten einen viel schnelleren Ausstieg"

Hans-Christian Ströbele kritisiert den Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel im emsländischen Atomkraftwerk Lingen. "Ich fürchte, dass auch diese Reise der Kanzlerin dazu beiträgt, dass sie sich der Atomlobby unterwirft", sagte der stellvertretende Grünen-Fraktionsvorsitzende.

Hans-Christitan Ströbele im Gespräch mit Friedbert Meurer | 26.08.2010
    Friedbert Meurer: Es ist mittlerweile üblich geworden, dass Kanzler oder Ministerpräsidenten sich auf eine Sommerreise begeben. Das strömt Volksnähe aus, zumindest soll es zeigen, dass sich die Regierenden auch vor Ort ein Urteil bilden, und in der Regel hängt sich ja auch ein Tross von Journalisten an eine solche Sommerreise an. Natürlich weiß Angela Merkel längst, wie ein Atomkraftwerk von innen aussieht. Immerhin: sie war jahrelang Bundesumweltministerin. Aber die Visite heute in Lingen soll verdeutlichen, dass die Kanzlerin konzentriert am Thema ist: der Zukunft der Kernenergie in Deutschland.

    Es dürfte alles andere als einfach werden für Bundeskanzlerin Angela Merkel, in der Frage von Atomlaufzeiten oder Abgaben eine Entscheidung zu treffen, denn ihre Partei ist gespalten. Baden-Württemberg drängt auf möglichst lange Laufzeiten, in anderen Bundesländern, in denen es keine Kraftwerke gibt, will man den Ausstieg schneller, oder der Wirtschaftsflügel der CDU steht gegen den Umweltminister der CDU. In der Partei befürchtet man deswegen, dass am Ende alle unzufrieden sein könnten, die Befürworter und die Gegner der Kernenergie.

    Wer einmal die letzten 30, 40 Jahre bundesdeutscher Geschichte Revue passieren lässt, der wird sich manchmal die Augen reiben. Damals galten die Gegner der Atomenergie, zum Beispiel die Grünen, als Ökospinner, die mit ihren Protesten den Rechtsstaat missachteten. Heute gibt es selbst in der CDU Anhänger, die aus der Atomenergie aussteigen wollen. – Am Telefon in Berlin der Grünen-Politiker und stellvertretende Fraktionsvorsitzende Hans-Christian Ströbele. Guten Tag, Herr Ströbele.

    Hans-Christian Ströbele: Ja, guten Tag!

    Meurer: Um mit dem Aktuellen anzufangen: Wäre das wirklich so schlimm, ein paar Jahre mehr Laufzeit von Atomkraftwerken?

    Ströbele: Ja, natürlich. Sie müssen ja sehen: Das ist ja nicht nur die Verlängerung der Laufzeiten und ein erheblicher, milliardenschwerer Zusatzgewinn für die AKW-Betreiber, sondern auch da wird zusätzlicher Atommüll produziert und die Gefahren, die von den Atomkraftwerken ausgehen, drohen dann ein paar Jahre "länger". Das will die Bevölkerung nicht, das wollen wir nicht, und dafür werden wir jetzt im September auf die Straße gehen.

    Meurer: Aber die Konzerne würden mächtig zur Kasse gebeten werden, über 2 Milliarden Euro pro Jahr, das dann zumindest teilweise für erneuerbare Energien ausgegeben werden könnte?

    Ströbele: Na ja, das schmilzt ja jetzt auch immer weiter zusammen. Ich erinnere mich noch: Vor einem halben Jahr etwa, da wurde immer gesagt, na ja, erstens wird der Haushalt damit saniert, zweitens werden damit alternative Energien gefördert, drittens wird Asse saniert und und und. Inzwischen schmilzt das immer mehr zusammen. Inzwischen sind wir überhaupt nur noch bei dem Betrag, wo eine Haushaltssanierung unterstützt werden soll. Ich fürchte, dass auch diese Reise der Kanzlerin dazu beiträgt, dass sie sich der Atom-Lobby doch unterwirft. Sie sucht einfach die falsche Gesellschaft und die falschen Gesprächspartner.

    Meurer: Sie geht doch auch zu den Windenergiebetreibern?

    Ströbele: Ist doch völlig klar, dass die, die sie jetzt besucht und wo sie jetzt zur Show irgendeine Maschine besichtigt, oder einen Maschinenraum besichtigt, natürlich alles in Bewegung setzen werden, um ihre Milliarden-Gewinne möglichst vollständig einzustreichen. Das ist nachvollziehbar, aber dem sollte sich die Politik nicht unterwerfen.
    Andererseits sehe ich durchaus, dass diese Reise auch mit dazu beitragen kann, dass die Anti-AKW-Bewegung noch stärker im September auf die Straße geht, weil diese ganzen Aktionen, auch die Hinweise, wo es überall noch AKW gibt und noch weiter geben soll, die tragen zur Mobilisierung bei.

    Meurer: Die Anti-Atom-Bewegung vor allen Dingen in Gorleben war ja eher sauer mit den Grünen gewesen, weil sie damals unter Rot-Grün den Atomkompromiss mitgetragen haben. Die Aktivisten haben gesagt, das dauere alles viel zu lange. Schließen die Grünen jetzt ihren Frieden wieder mit der Anti-AKW-Bewegung?

    Ströbele: Nein, wir haben ja alle gekämpft. Auch der damalige Umweltminister Jürgen Trittin wollte ja mehr. Wir wollten einen viel schnelleren Ausstieg. Aber wir waren in einer Koalitionsregierung und sehr viel mehr war nicht drin. Ich erinnere mich an das Ziehen und Zerren damals auch in der Koalition, dann ist dieser Kompromiss rausgekommen, der auch bei den Grünen sehr umstritten war. Aber inzwischen verteidigen wir den alle, weil wir jetzt ja so weit sind, dass die ersten AKW stillgelegt werden sollen, und es kann nicht sein, dass nun einfach die Gesetze geändert werden, um die Laufzeit zu verlängern. Wenn man da einmal mit anfängt, wer weiß, wo das endet.

    Meurer: Werden Sie das unterstützen, dass Aktivisten oder auch Parteifreunde sich an Gleise anketten?

    Ströbele: Ach wissen Sie, die Formen des Widerstandes waren schon immer sehr vielfältig, gerade bei der Anti-AKW-Bewegung, und ich werde dabei sein. Was ich im Einzelnen tue, das hängt von der Situation dort ab. Aber ich meine, hier ist schon Widerstand nicht nur angesagt, sondern dringend notwendig, weil was wir hier machen, ist ja auch, unseren zukünftigen Generationen riesige Probleme zu hinterlassen, und das kann man eigentlich nicht verantworten, wenn die jeden Tag größer werden mit diesem Atommüll, der da rumliegt.

    Meurer: Das sieht ja, Herr Ströbele, offenbar auch die Mehrheit der Bevölkerung so. Atomkraft ist alles andere als populär. Viele haben Angst vor der Entsorgungsfrage. Wie fühlt sich das denn an, Herr Ströbele, ganz anders als in den 80er-Jahren jetzt sozusagen im Mainstream der Gesellschaft zu stehen?

    Ströbele: Ja, das ist auch wieder ambivalent. Auf der einen Seite ist das natürlich ein ungeheuerer Rückhalt, dass man sagen kann, wir vertreten die Mehrheit, die große Mehrheit der Bevölkerung, wenn wir jetzt auf die Straße gehen. Andererseits führt das häufig dazu, dass viele Leute denken, na ja, da brauchen wir ja nicht mehr auf die Straße gehen, es ist sowieso so, das wird sich bei Wahlen und in der sonstigen Politik dann schon durchsetzen, wenn jetzt sehr, sehr viele, eine Mehrheit für den Ausstieg ist. Man muss den Leuten klar machen, dass allein dagegen sein und bei einer Abstimmung mal dagegen stimmen nicht ausreicht, sondern dass man was dafür tun muss, auf die Straße gehen muss, und umso mehr da sind und umso beharrlicher die Widerstand leisten, umso eher können wir erreichen, dass die Laufzeiten doch nicht verlängert werden.

    Meurer: In den 80er-Jahren hat man Unions-Anhänger mit der Lupe suchen müssen, die gegen Kernkraftwerke sind. Wie erklären Sie sich das, dass selbst in der Union, selbst im bürgerlichen Lager die Bauchschmerzen so groß geworden sind?

    Ströbele: Weil das keine ideologische Frage ist, oder links-rechts, sondern das ist eine Frage des Überlebens und das ist einfach eine Frage der Vernunft, und dem können sich auf Dauer auch die einen oder anderen Unions-Angehörigen, die vielleicht nicht so nahe an der AKW-Lobby und an den riesigen Milliarden-Verdiensten sind, die dort gemacht werden, den Profiten, nicht entziehen.

    Meurer: Wäre es nicht vernünftig, ist die Idee nicht vernünftig zu sagen, Kernenergie ist eine Brückentechnologie und am Ende, nach zehn, 15 Jahren, stehen die erneuerbaren Energien?

    Ströbele: Nein, das ist genau Unsinn, weil erstens wissen wir nicht, wie das dann weitergeht, wenn man mal anfängt, das zu verlängern. Zweitens gibt es Alternativen. Das Bundeswirtschaftsministerium hält gerade einen Vorschlag unter Verschluss, der aber schon in die Öffentlichkeit durchgesickert ist, wonach eine vernünftige Anwendung von Erdgas zur Energiegewinnung eine echte Brückenalternative wäre, weniger gefährlich und auf jeden Fall auch viel flexibler, um eine Ergänzung für die Vermehrung und Verbesserung der alternativen Energien zu sein.

    Meurer: Bundeskanzlerin Angela Merkel besucht heute das Atomkraftwerk Lingen im Emsland. Ich sprach mit Hans-Christian Ströbele, dem stellvertretenden Fraktionschef von Bündnis 90/Die Grünen. Danke, Herr Ströbele, auf Wiederhören.

    Ströbele: Ja. Auf Wiederhören!