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Wirtschaft
Den Pazifik im Blick

China an der Spitze, Indien dicht dahinter, Europa und USA verlieren an Bedeutung - so sehen die Prognosen für das pazifische Zeitalter aus. Der Trend dorthin ist unübersehbar - wird er aber wirklich so drastisch ausfallen? Was sind seine Ursachen und wie ließe er sich gestalten? Der Wiener Journalist Thomas Seifert hat sich in seinem neuen Buch "Die pazifische Epoche" diesen Fragen gewidmet.

Von Martin Hubert | 16.03.2015
    Ein Blick über die Stadt Guangzhou mit Blick auf das International Finance Center (IFC).
    Ein Blick über die Stadt Guangzhou mit Blick auf das International Finance Center (IFC). (picture alliance / dpa / Nan Sha Gz)
    "Das Leben kann so schön sein: mit einem Glas Caipirinha in der Hand und einer wahrlich atemberaubenden Skyline vor Augen. Und das im riesigen Swimmingpool im 57. Stock, 200 Meter über dem Erdboden oder im Schatten der Palmen am Beckenrand. Der Himmel ist auf dem Dach des Marina-Bay-Sands-Casino-Luxusresorts zum Greifen nahe."
    Was wie ein Text aus Werbeprospekten klingt, beschreibt das Luxusleben Superreicher in Singapur. Der Wiener Journalist Thomas Seifert versorgt den Leser in einem der drei Kapitel seines Buches ausgiebig mit solch plastischen Reportagen aus dem Leben der Gewinner des asiatischen Aufschwungs. Er schildert zudem, wie in Singapur, China, Indien oder Südkorea eine Ober- und Mittelschicht heranwächst, die nicht nur nach Wohlstand strebt, sondern auch nach Individualität und kreativer Selbstverwirklichung. Genau wie in anderen Wohlstandsgesellschaften gibt es Pop- und Gegenkulturen:
    "Die wichtigste Triebfeder für radikalen Wandel: das Internet. Das Spektrum sei breit gefächert: von den Tech-Geeks über Schwule und Lesben, Mega-Otakus, Musikbegeisterte, Kunstinteressierte bis zu Umweltaktivisten und Outdoor-Freaks."
    Luxuriöse Verschwendung auf der einen, unterschiedliche Formen des Protests, des kulturellen Aufbruchs und des Ausstiegs auf der anderen Seite. Seiferts Reportagen machen unmittelbar deutlich, wie widersprüchlich der innere "Aufstieg Asiens" ausfällt. Denn genau so plastisch schildert er die Kluft zwischen Arm und Reich, die Dominanz traditioneller Lebensformen und die Autoritätshörigkeit in diesen Ländern.
    Von Christoph Kolumbus bis zur Wirtschaftskrise
    Ein zweites Buchkapitel geht der Vorgeschichte des pazifischen Zeitalters nach. Es setzt mit dem Beginn der atlantischen Epoche ein, der Landung von Christoph Kolumbus auf den Bahamas, und endet mit der aktuellen globalen Wirtschaftskrise, in die der Westen wie Asien gleichermaßen verwickelt sind. Seiferts Buch ist ein komplexes Konflikt - und Krisenbuch. Es stellt nicht einfach nur Asien und Europa gegenüber, sondern geht von den inneren Widersprüchen und Konfliktlinien Asiens und des europäischen Kontinents bzw. des Westens aus. Seifert zitiert dabei sowohl wissenschaftliche und journalistische Quellen als auch Politikerstatements. Manchmal gerät er dabei zu sehr ins Referieren, präsentiert dadurch aber auch ein breites Spektrum an Fakten, Meinungen und Interessen. Im dritten Kapitel seines Buches geht Seifert dann vor allem analytisch vor. Die inneren Herausforderungen, vor denen Europa steht, fasst er etwa so zusammen:
    "Die drei Krisen - des Kapitalismus, der Demokratie, des globalen Steuerungssystems - sind miteinander verwoben, und ein Ende ist nicht in Sicht. Die Wirtschaft hat die zentrale Steuerungsfunktion der Gesellschaft übernommen, das Primat der Politik ist längst verloren. Der Kapitalismus wiederum hat den Bezug zur Produktion, zu Arbeit verloren. Der postmoderne Kapitalist hält nichts mehr von langfristigen Investitionen in Fabriken, Maschinen oder gar Humankapital, sondern bewundert die High-Frequency-Trader. Sie sind die perversen Auswüchse einer überzüchteten Finanzindustrie und eines Marktes, der nicht mehr länger den Gesetzen von Angebot und Nachfrage gehorcht. Die Welt ist aus den Fugen."
    Das mag etwas polemisch überhitzt klingen, hat aber den Vorteil, Problembewusstsein zu schaffen. Nachdenklich macht vor allem Seiferts Hinweis, dass die globale ökonomische Dauerkrise seit 2008 bereits durch den Aufstieg des Pazifik mitverursacht wurde:
    "Ostasien war zur gigantischen Export-Maschine geworden. Leistungsbilanz-Ungleichgewichte monumentalen Ausmaßes bauten sich auf. Ein vergleichsweise viel ärmeres Schwellenland wie China borgt der reichsten Nation des Globus - den USA - Billionen von Dollars - das hat es zuvor in der Geschichte noch nie gegeben."
    China exportiert Kapital, westliche Nationen exportieren Waren
    China exportiert Kapital, westliche Nationen exportieren Waren. Der Preis dafür sind Leistungsbilanzdefizite und andere Abgründe. Das aus China in die USA fließende Geld hat laut Seifert entscheidend dazu beigetragen, dass dort überhaupt spekulative Blasen entstanden und platzten. Es ist daher nur logisch, wenn China dieser krisenbeladenen Situation entgegenwirken will. Ökonomisch, indem es eine eigene, leistungsfähige High-Tech-Exportindustrie aufbaut. Politisch, indem es an eigenen Parallelstrukturen zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank arbeitet, um vom westlichen Währungs- und Finanzsystem unabhängiger zu werden. Kaum jemand zweifelt noch daran, dass sich China und Asien insgesamt zu einem immer stärker werdenden Machtblock in der Welt entwickeln werden. Seiferts Buch legt nahe, das als eine Herausforderung zu begreifen, die positiv anzugehen sei. Zwar kritisiert auch er die Menschenrechtspolitik, die mangelnde gewerkschaftliche Vertretung oder demokratische Teilhabe in China und anderen asiatischen Staaten. Er meint aber auch, dass Asien endlich mehr Gewicht in den internationalen Institutionen erhalten müsse. Und er verlangt von Europa und dem Westen, das eigene Leitbild zu schärfen.
    "Das hätte weltweit auch wieder mehr Strahl- und Anziehungskraft, wenn die politischen Institutionen in den USA ihre demokratische Gesinnung vorleben und nicht länger den Anschein einer Vetokratie erwecken würden, wo politische Reformen kaum mehr möglich sind. Der Primat der Politik über die Wirtschaft muss wieder hergestellt werden, es braucht eine Rückbesinnung auf den Wohlfahrtsstaat, der dafür sorgt, dass der Mensch im Mittelpunkt der Ökonomie steht und nicht bloßer Vasall einer entfesselten Wirtschaft ist. Von Washington bis Brüssel und von Tokio bis Berlin braucht es einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Arbeit und Kapital, um die immer schlimmere soziale Schieflage wieder geradezurücken."
    Auch wenn das nur abstrakte Formeln sind und Seifert wirklich konkrete Vorschläge schuldig bleibt, ist sein Buch empfehlenswert. Es bietet eine kompakte und informative Übersicht über die Probleme, die Europa und Asien anzugehen haben. Und es macht klar, wie unproduktiv es ist, wenn man die pazifische Herausforderung allein unter dem Aspekt des Macht- und Konkurrenzkampfes zwischen neuen Blöcken begreift. Dabei verdient vor allem Seiferts These Aufmerksamkeit, dass Europa im pazifischen Zeitalter nur bestehen kann, wenn es nicht bloß sein ökonomisches, sondern auch sein soziales und demokratisches Profil akzentuiert.
    Thomas Seifert: "Die pazifische Epoche. Wie Europa gegen die neue Weltmacht Asien bestehen kann"
    Veröffentlicht bei Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, 304 Seiten für 21 Euro und 90 Cent.