Genesungsbegleiter

Ehemalige Suchtkranke helfen anderen

07:27 Minuten
Grafische Darstellung: Hände entwirren den Faden aus dem Gewirr im Kopf.
Die ersten Ergebnisse mit Genesungsbegleitern zeigen, dass sie Vertrauen herstellen und die Therapiebereitschaft der ehemaligen Straftäter fördern. © imago images / Ikon Images / Gary Water
Von Katja Bülow · 24.06.2021
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Wer selbst eine Krise überstanden hat, der kann oft anderen helfen, die noch mittendrin stecken. Dieser Gedanke steht hinter dem Prinzip der sogenannten Genesungsbegleiter. In der Forensischen Klinik in Rostock wird dieser Weg beschritten - mit ersten Erfolgen.
Wenn Kai Gerullis zur Arbeit geht, dann muss ihm ein Mitarbeiter an der Pforte erst einmal das Tor zur Forensischen Klinik im Rostocker Stadtteil Gehlsdorf öffnen. Sie ist mit stacheldrahtbewehrten Mauern, Kameras und einer modernen Alarmanlage gesichert.
Auch drinnen gibt es noch viele verschlossene Türen – für die aber die Schlüssel in seiner Tasche klimpern. Der 54-Jährige, der früher regelmäßig als Häftling im "Knast" gelandet ist, arbeitet inzwischen als Genesungsbegleiter, als Experte aus Erfahrung, zu dem manche leichter Vertrauen fassen als zu den medizinischen Profis.
"Ich mach kein Geheimnis aus meinem Leben. Wer was wissen will, kann das gerne tun. Weil alle Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind, kann ich eh nicht ändern. Aber ich kann dazu stehen und heute was Besseres draus machen."

Experte aus Erfahrung

Jeans, schwarze Lederweste, ein T-Shirt der Rockband Motörhead. Der gelernte Automechaniker und Informatikkaufmann muss sich bei dem, was er tut, nicht verkleiden. Als eigentlich behütetes Kind wuchs er in einer Hamburger Arbeiterfamilie auf, probierte sehr früh unterschiedliche Drogen aus, kam während der Lehre erstmals mit Kokain und später mit Heroin in Kontakt.
"Fand ich super, hab ich dann halt regelmäßig konsumiert."
Und geriet immer tiefer in die Abhängigkeit, mit der er 30 Jahre lang zu kämpfen hatte. Dazu kam, wie bei vielen, die Beschaffungskriminalität. Der Zwang, immer mehr Geld für immer mehr Drogen zu organisieren. Fahrraddiebstahl wurde zu seinem Spezialgebiet.
"Das habe ich ziemlich lange gemacht, habe ich auch ausgiebig dafür in der JVA gesessen, ist zum Glück alles abgegolten."

Trotzdem gab es bei den Mitarbeitern in der Forensik Vorbehalte, ausgerechnet jemanden wie Kai Gerullis für die Betreuung von Patienten zu engagieren. "Natürlich, das ist jemand, der straffällig war und der drogenabhängig war", sagt Klinikchefin Prof. Dr. Birgit Völlm, "da ist natürlich die Frage, wieweit hat er sich davon gelöst, kann er sich wirklich abgrenzen, wenn Patienten ihn ansprechen, bitten, was mit reinzubringen? Kennt der die vielleicht sogar, ist der wirklich dann sozusagen auf der richtigen Seite?"

Vertrauen gegen Vertrauen

Birgit Völlm, die im Jahr 2018 die Klinikleitung übernommen hat, war jedoch zuversichtlich, sie hat vorher an Universitäten und Kliniken in Großbritannien gearbeitet, wo Genesungsbegleiter auch in der Forensik seit Langem etabliert sind. In Mecklenburg-Vorpommern traf sie auf den Verein ExIn, der seit 2007 die Ausbildung von Genesungsbegleitern in Deutschland vorantreibt – und bei dem auch Kai Gerullis in die Lehre gegangen ist. Seine Therapeutin schickte ihn schließlich zum Praktikum nach Gehlsdorf, wo vorrangig Straftäter mit Suchtproblemen untergebracht sind. Ein aufregender Moment, in dem der Mann trotz aller Vorbereitung weiche Knie bekam.
"Ja, komplett. Allein diese Chance zu kriegen! Ich habe ein paar Jahre vorher noch komplett unten mit dem Hals tief im Modder gesteckt, habe mir zu der Zeit nicht vorstellen können, dass mein Leben noch mal so eine Wende macht. Und dann plötzlich war das soweit, ich hatte 'ne Chance gekriegt. Ja und da wollte ich natürlich erst mal nichts verkehrt machen."
Und offenbar hat er das auch nicht. Im Gruppenraum ist er gerade im Gespräch mit einem Patienten, der sich vor dem Kontakt zu Kai Gerullis jeglicher Therapie verweigert hat. Erst durch ihn fasste er dann doch Vertrauen.

Vermittler zwischen Personal und Patienten

"Herr Gerullis ist hier angenommen, ne. Er ist so ein Zwischenstück zwischen Pflegepersonal und Patient. Auch wegen Herrn Gerullis seine Vorgeschichte, Betroffener halt, aber er ist auch eine Respektsperson, sag ich mal so."
Nach zwei Praktika hat der Genesungsberater zunächst einen befristeten, inzwischen sogar einen festen Arbeitsplatz in der Klinik bekommen. Birgit Völlm könnte sich gut vorstellen, weitere Kräfte wie ihn einzustellen.
"Ist eine Möglichkeit, ja. Also zwei könnten wir vielleicht schon gebrauchen."

Von den ersten Überlegungen bis heute – in Rostock ist der gesamte Prozess auch wissenschaftlich begleitet worden. Peggy Walde betreut als wissenschaftliche Mitarbeiterin unter anderem eine Doktorarbeit zum Thema und befragt regelmäßig Kollegen, Patienten und den Genesungsberater selbst. Ein in Deutschland noch ausgesprochen seltenes Projekt.
"Wir haben in allen Kliniken mal rumgefragt und sind jetzt selber mit Herrn Gerullis vielleicht auf fünf Personen gestoßen plus vielleicht noch einige, die immer mal wieder auf Honorarbasis mit reingeholt werden, wo es halt thematisch passt. Aber viele sind es nicht."
Zu den wenigen Einrichtungen, die hierzulande auch bei der Betreuung psychisch kranker Straftäter auf Genesungsbegleiter setzen, gehört das Klinikum des Landschaftsverbandes Rheinland in Essen. Wissenschaftlich begleitet wird die dortige Arbeit allerdings nicht – unter anderem, weil es an der Universität Essen/Duisburg keinen Lehrstuhl für Forensik gibt. Ein häufiges Problem, so Rostocks Klinikleiterin:
"Das gibt es in Deutschland tatsächlich sehr, sehr selten. Nur noch eine andere Klinik, wo eine Klinikleitung auch mit der Professur in forensischer Psychiatrie einhergeht. Und ich finde es sehr wichtig, dass man sich in der klinischen Arbeit auch von wissenschaftlichen Ergebnissen und der Evidenz leiten lässt. Und aber, dass man auch im Hinblick auf seine Forschungsthemen sich von der klinischen Arbeit leiten lässt, dass man auch was tut, was dann relevant ist für die Praxis. Das hat mich eigentlich hierhergebracht, dass man hier diese beiden Dinge verbinden kann."

Begleiter fördern Therapieerfolge

Gemeinsam mit ihrem Team will Professorin Birgit Völlm nun erreichen, dass bestehende Leitlinien für den Einsatz von Genesungsbegleitern allgemein um das Spezialgebiet der Forensik erweitert werden – ein Gebiet, in dem vor allem das Thema Sicherheit eine viel größere Rolle spielt als in anderen Fachgebieten. Peggy Walde, die dabei die Fäden in ihren Händen hält, ist mit ihrer Forschung zwar noch lange nicht fertig, aber eine Tendenz zeichne sich deutlich ab:
"Wir haben bisher festgestellt, dass viele Dinge, die in der allgemeinen Psychiatrie bereits festgestellt worden sind, dass wir die relativ gut auch in die Forensik übertragen können."
Vor allem stellen die Begleiter Vertrauen her und fördern die Therapiebereitschaft der ehemaligen Straftäter.
"Und dementsprechend sind natürlich schon die Hoffnungen, dass es auch in der Forensik eines Tages genauso etabliert ist wie in der allgemeinen Psychiatrie auch.

Balsam für die Seele

Für Kai Gerullis jedenfalls steht schon nach seinem ersten Jahr als Genesungsbegleiter fest:
"Mein Leben hat an Qualität dazu gewonnen, jeden Tag. Ich habe ein festes Einkommen, bin dabei, meine Schulden zu regulieren. Das heißt, ich stehe mit beiden Beinen wieder fest im Leben, kann von dem, was ich erwirtschafte, leben – sehr gut sogar. Und das, was ich hier weitergeben kann am eigenen Beispiel, das ist für mich Balsam auf die Seele. Ich mache hier quasi Therapie umsonst noch mal, jeden Tag. Und das fühlt sich einfach gut an."
Zur Arbeit fährt er übrigens heute mit dem Fahrrad – einem, das er gekauft und nicht geklaut hat.
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