Freitag, 19. April 2024

Archiv

Wirtschaftsdrama mit Pferden
Théatre de Centaure in Paris

In Frankreich gibt es eine experimentierfreudige Zirkusszene, die in ihre Arbeiten gerne auch Elemente aus Tanz und Theater integriert. Genau an dieser Schnittstelle arbeitet das Théâtre du Centaure - eine Truppe aus Marseille, gegründet Ende der 80er Jahre, bestehend aus Artisten und Schauspielern. "Die siebente Welle" heißt ihre neue Produktion – lohnend.

Von Ute Nyssen | 05.02.2016
    Im französischen "Théâtre du Centaure" feiert der Kentaur seine Wiedergeburt. Das mythische Wesen aus Raubtier und Mensch sprengt allerdings die Grenzen des herkömmlichen Theaters, denn der "Acteur Centaure" tritt auf als Reiter mit einem lebenden Rassepferd. Und das an einem Ort, der seinerseits aus dem Rahmen fällt, nämlich das Pariser Kulturzentrum CENTQUATRE in einem der ärmsten Stadtteile. Sein Direktor, der Portugiese José-Manuel Gonçalvès, hat mit "La 7e vague", dem neuesten Pferdeschauspiel, Zuschauer gewonnen, die das Theater im Allgemeinen eher meiden. Den Verdacht, die Pferde hätten dabei nur als Lockmittel im Showbusiness gedient, fegte der Ernst des Abends sofort beiseite.
    In "Die siebente Welle", wie man den Titel etwas feierlich übersetzen möchte, geht es um eine vielleicht letzte, eine weltweite Wirtschaftskrise. Aber ihre Schlagkraft gewinnt diese Geschichte durch die Ästhetik des Pferdetheaters. Wenn nämlich zum Schluss ein Pferd, greifbar vor den Augen der Zuschauer, erschöpft niedersinkt, wird dies zum eigentlichen Bild des Zusammenbruchs, gleichgültig, ob das Tier auf natürliche Weise starb oder weil es zuschandengeritten wurde. Das Theater erfährt hier eine neue Definition seiner Körperlichkeit durch den Fremdkörper Tier. Ein kühner experimenteller Vorstoß.
    Im CENTQUATRE gibt es keinen eigenen Theaterraum. Die Bühne für die 17 Truppen dieser Spielzeit wird jeweils ad hoc erstellt, so auch die Manege für "La 7e vague".
    Raffinierte Lichtregie und Dramaturgie des Stimmungswechsels
    In sie reitet stolz ein junger Mann ein, Manolo auf seinem wunderbar schönen Toshiro. In den Steigbügeln stehend erkundet er den Raum, bringt das Pferd zum Stillstand, mit dem Hinterteil zum Zuschauerraum. Auf dessen Rücken liegend biegt er sich nach hinten, spielt mit den Strähnen des buschigen Schweifs als wolle er sie sich umlegen. Regungslos verharrt das Pferd. Der Zauber der wortlosen Übereinstimmung wirkt wie eine vergessene, aber doch unmittelbar begreifbare Sprache auf das Publikum. Auch auf den Zuschauerbänken regt sich nichts. Wenn die Musik einsetzt und aus dem off eine Frauenstimme ein "ich träume" flüstert, scheint das schon fast zu idyllisch.
    Aber eine raffinierte Lichtregie und Dramaturgie des Stimmungswechsels bringt die Erinnerung an die Utopie des Einklangs zwischen Mensch und Natur abrupt zum Verschwinden. Mit dem Auftritt des zweiten Reiters, Bertrand, verschafft sich die Wirklichkeit Gehör: das Geld. Die beiden Acteurs Centaure hier sind Trader von Hedgefondsmilliarden. Bei ihnen verbindet sich die Hohe Schule der Reitkunst mit der intellektuellen Potenz des Traders, eines unheimlichen Phänotyps unserer Epoche. Hoch zu Ross, Handy am Ohr, umkreisen sie elegant die Manege, rufen mit einem Fingerschnipsen per Videoeinblendung die Börsenkurse auf, erteilen ihre Kaufaufträge fast schwebend, lassen die weißen Pferde zierlich auf der Stelle trippeln. Eine Videoeinblendung zeigt Bertrand in Bars, wo er im Champagnerexzess das Pferd und eine Frau dazu, sich um sich selbst drehen lässt. Manolo sieht verächtlich auf der Filmleinwand die Probleme der weiten Welt vorbeiziehen, oder feiert sich in rasendem Galopp und ungebremster Hybris als Westernheld.
    Doch dann wittern sie etwas, mit instinktivem Sinn für Gefahr und Gewinn: eine riesige Welle im Rohstoffhandel. An der Börse setzen sie gegenüber den Banken ihre Milliarden als Pfand einer Wette – und verlieren im Totalcrash. Die Börsentafeln bleiben schwarz. Bertrand flieht. Unter Manolo aber fällt das Tier. Es stirbt. Die Natur holt uns ein, sagt er leise. Das Licht bleibt lange aus. Wenn die beiden Schauspieler und das Pferd den Applaus entgegen nehmen, ist es endlich frei – und darf sich herumwälzen im Sand der Manege. Eine letzte symbolische Botschaft des Théâtre du Centaure.